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Die Geschichte steht in der bewegten Zeit unserer Gegenwart ständig zur Disposition unserer Deutung. Die vier Essays dieses Buches nähern sich auf unterschiedliche Weise diesem Thema. Sie werfen die alte Frage nach dem Endzweck der Geschichte in der neuen Perspektive einer Ethik des historischen Denkens auf. Dabei treten zwei aktuelle Fragen in den Vordergrund: diejenige nach neuen Dimensionen der historischen Identität, insbesondere der des werdenden Europas, und diejenige nach einem Horizont des historischen Denkens, in dem es den globalen und interkulturellen Herausforderungen der Gegenwart erfolgreich begegnen kann.…mehr

Produktbeschreibung
Die Geschichte steht in der bewegten Zeit unserer Gegenwart ständig zur Disposition unserer Deutung. Die vier Essays dieses Buches nähern sich auf unterschiedliche Weise diesem Thema. Sie werfen die alte Frage nach dem Endzweck der Geschichte in der neuen Perspektive einer Ethik des historischen Denkens auf. Dabei treten zwei aktuelle Fragen in den Vordergrund: diejenige nach neuen Dimensionen der historischen Identität, insbesondere der des werdenden Europas, und diejenige nach einem Horizont des historischen Denkens, in dem es den globalen und interkulturellen Herausforderungen der Gegenwart erfolgreich begegnen kann.
Autorenporträt
Jörn Rüsen ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Witten/Herdecke und Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Essen (KWI). Autor einer Reihe von Büchern zur Geschichtskultur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2003

Vorwärts in die Vergangenheit
Besser war das: Lucian Hölschers und Jörn Rüsens Geschichtsbilder

Solange die Postmoderne neu war, wirkten ihre Paradoxien wunderbar provokant. Seit sie das geschichtstheoretische Feld jedoch beherrscht, macht es mehr Spaß, sie ihrerseits herauszufordern. Wer behauptet eigentlich, daß jede Tradition "erfunden" sei? Wer glaubt allen Ernstes, daß kollektive Identitätsgefühle notwendig "konstruiert" seien? Wie dilettantisch ist eine Erkenntnistheorie, die vor der absurden Behauptung kapituliert, daß es keine universalen Sinnprinzipien und keine Wirklichkeit außer den "Texten" gebe? Welches politische Interesse steckt hinter dem Versuch, kritische Geschichtswissenschaft zur "Erinnerungskultur" umzudefinieren?

Die beiden jüngsten Einsprüche gegen die postmoderne Geschichtstheorie verfahren höflicher und kompromißbereiter. Doch ihre Distanzierung ist deutlich, auch wenn beide unterschiedliche Interessen verfolgen. Dem einen geht es um Erkenntnistheorie, dem anderen um Ethik. Lucian Hölscher präsentiert seine Argumente in geistreicher Schlichtheit, Jörn Rüsen eröffnet seine zergrübelt-ambitionierten Aufsätze mit einer "Peanuts"-Sequenz. "Ich glaube", sinniert Linus darin, "es ist verkehrt, sich über den morgigen Tag zu sorgen. Vielleicht sollten wir nur an heute denken." Charly Brown widerspricht: "Nein, das würde Resignation bedeuten. Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird." Wo die Bergpredigt noch überboten wird, setzt Rüsen an: "Kann gestern besser werden?" Seine Antwort lautet. Es muß sogar!

Der Präsident des Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts, eine der besten Adressen in Nordrhein-Westfalen, spricht im hohen Ton der Theorie, doch seine Argumente sind existentialistisch. Wer die Vergangenheit für bloße Konstruktion halte, verkenne, wie stark seine eigene Art zu denken und zu urteilen durch historische Umstände "konstruiert" seien, wie sehr die Schmerzen und "Traumata" gelebter und erlittener Geschichte seine eigene Gegenwart prägten. Rüsen meint damit keine "fixe Faktizität". Er sieht vielmehr eine Art überpersonaler Bewußtseinsbewegung, "die im mentalen Zusammenhang der Generationenkette großer und kleiner Kollektive bis zu uns hinreicht, in uns hinein, in die Tiefen unserer Subjektivität und zugleich durch uns hindurch und über uns hinaus in die Zukunft, die wir sinnbestimmt für unser Handeln entwerfen". Einsicht in die Geschichte ist für Rüsen deshalb moralische Teilhabe an ihr, "Verantwortung". Wer seines eigenen Gewordenseins inne wird, erkennt das "Verpflichtungsverhältnis" zwischen den Generationen und nimmt die "normative Erbschaft" der früheren an. So wie er verpflichtet ist, Gegenwart und Zukunft gut, nämlich "freiheitssteigernd" zu gestalten, muß er auch die Geschichte besser, nämlich "über pure Tatsächlichkeit hinaus bedeutungsvoll und sinnträchtig" zu machen suchen.

Radikal nimmt Rüsen die Postmoderne beim Wort - und definiert sie so für seine Zwecke um: Eben weil Geschichte nur als Erzählung gestaltet werden kann, muß der Historiker sie so modellieren, daß sie "für die Erfüllung spezifischer wertgeladener Orientierungsbedürfnisse" taugt. Um beispielsweise ein "europäisches Geschichtsbewußtsein" zu fördern, sollte er die Entstehung der Menschenrechte, der Demokratie, der "okzidentalen Rationalität" oder der "Einheit in der Vielheit" thematisieren. Um aber eitlen Stolz auf die Moderne und den Wahn zu verhindern, daß alles so habe kommen müssen, wie es nun einmal gekommen ist, müsse er gerade auch "Widersinn", "Schreckenserfahrung" und Katastrophen wie den Holocaust zur Sprache bringen und dadurch helfen, sie "abzuarbeiten".

Haben Historiker aber nicht die Pflicht, Menschen der Vergangenheit nach deren eigenen Maßstäben zu beurteilen? Rüsen, wiewohl Antiironiker, wagt den logischen Salto mortale: "Gerade deshalb müssen sie nach ihren eigenen Werten verfahren. Eben weil sie in einer durch Normen gestifteten Generationenkette stehen, müssen sie ihr Denken auf die normative Höhe der Zeitgenossenschaft der Vergangenheit mit der Gegenwart erheben. Und im Falle negativer Werte haben sie auch die Verfehlungen der Vergangenheit zu ,richten' (im doppelten Sinne der Verurteilung und der Wiedereinrichtung des Verfehlten), die zur normativen Erbschaft ihrer eigenen Zeit gehören."

Solche Didaktik lehnt der zehn Jahre jüngere Hölscher, Geschichtsprofessor in Bochum, ausdrücklich ab. Ihm gilt die Fixierung auf Menschenrechte und Holocaust selbst als ein historisches Phänomen: So würden nur solche Gesellschaften die "Tiefe des Geschichtsraums" verkürzen, "die sich stark und fortlaufend verändern". Ihn stört an der Postmoderne, die jeden historischen Einzelfall als unvergleichlich und alle historischen Wirklichkeitsentwürfe als gleich wahr betrachtet, ebenjener politische Eifer, den Rüsen an ihr vermißt. Mehr aber beunruhigt ihn, daß das Beharren auf der sinn- und zusammenhanglosen "Vielfalt" historischer Phänomene wissenschaftliche Erkenntnis schlechthin unmöglich mache. Mit der Einen Realität nämlich falle jener "erkenntnisleitende Fluchtpunkt", ohne den kein Wahrheitsanspruch begründet werden könne. Hölscher sucht daher ein Prinzip, mit dessen Hilfe die Menge disparater, politisch, "sozial, generationell, ethnisch begrenzter Geschichtsbilder" theoretisch vereinigt werden kann.

Seine Lösung könnte kaum provokanter ausfallen: Es sind die Ereignisse selbst. Denn es gibt sie. Sie sind keine Konstruktionen historischer "Wahrnehmung", sondern gehen jeder Geschichtsdeutung voraus, rufen sie erst hervor, zwingen die Zeitgenossen Erwartungen, Hoffnungen, Deutungen auf sie zu richten, begründen historische Erfahrungen und provozieren so ihrerseits historisches Handeln. "Mögen sich die Geschichten, die wir erzählen, auch noch so wandeln, so bestätigen sie dadurch doch immer die Existenz der vergangenen Ereignisse, auf die sie sich gemeinsam beziehen."

Auch moderne Historiker müssen Ereignisse beschreiben - nicht aber als Fakten, sondern als Summe von Erwartungen, Hoffnungen und Deutungen. Was Hölscher entwirft, ist eine Rezeptionsgeschichte im Geiste Kosellecks. "Annalistisch", also in chronologischer Reihe, würde sie einzelne Ereignisse in ihren Wirkungen protokollieren, diese zugleich aber auch synchron als unterschiedliche Facetten des gleichen Phänomens betrachten. Welche Gestalt Rüsens Vision annehmen könnte, verraten seine kargen Andeutungen hingegen nur schemenhaft. Vermutlich wäre es eine Zeitgeschichte ohne konkreten Inhalt, aber von entschiedener Tendenz.

Eine andere Frage ist, wer diese neuen Geschichtswerke schreiben soll. Am besten könnten es nach Alter und Ausbildung die derzeit verfügbaren Privatdozentinnen und Privatdozenten. Sie aber werden von denen, die die "spezifisch wertgeladenen Orientierungsbedürfnisse" unserer Gesellschaft festsetzen, mit forschem Zynismus aus den Universitäten herausreglementiert. Die dünnen Doktorarbeiten künftiger Generationen und die hingehudelten Zweitbüchlein überlasteter Juniorprofessoren werden in der Tat mehr durch politische Korrektheit als durch Forschung glänzen müssen. So steht zu befürchten, daß wenigstens eine der beiden Theorien ein Grundmerkmal der von beiden bekämpften Postmoderne teilen wird: das Schicksal, Theorie zu bleiben.

GERRIT WALTHER

Jörn Rüsen: "Kann gestern besser werden?". Essays zum Bedenken der Geschichte. Kulturwissenschaftliche Interventionen, Band 2. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003. 160 S., geb., 16,90 [Euro].

Lucian Hölscher: "Neue Annalistik". Umrisse einer Theorie der Geschichte. Göttinger Gespräche zur Geisteswissenschaft, Band 17. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 96 S., br., 14,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Gerrit Walther zeigt sich recht angetan von Jörn Rüsens "zergrübelt-ambitionierten Aufsätzen", in denen er Einspruch gegen die postmoderne Geschichtstheorie erhebt. Rüsen spricht nach Ansicht Walthers im "hohen Ton der Theorie", doch seine Argumention sei existenzialistisch. Wer die Vergangenheit für bloße Konstruktion halte, referiert der Rezensent die zentrale These Rüsens, verkenne, wie stark seine eigene Art zu denken und zu urteilen durch historische Umstände "konstruiert" seien, wie sehr die Schmerzen und "Traumata" gelebter und erlittener Geschichte seine eigene Gegenwart prägten. Einsicht in die Geschichte sei für Rüsen deshalb moralische Teilhabe an ihr, "Verantwortung", erklärt Walther. Wie er näher ausführt, nimmt Rüsen die Postmoderne radikal beim Wort, um sie so für seine Zwecke umzudefinieren: eben weil Geschichte nur als Erzählung gestaltet werden könne, müsse der Historiker sie so modellieren, dass sie "für die Erfüllung spezifischer wertgeladener Orientierungsbedürfnisse" tauge.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Rüsens Ausführungen überschreiten nicht nur im ersten Beitrag die Grenze von der Geschichtstheorie zur Praktischen Philosophie. Die Terminologie des gesamten Bandes ist politisch und ethisch hoch aufgeladen." (ZfG - Zeitschrift für Geschichtswissenschaft)

"Der Historiker beschäftigt sich in den Essays mit vitalen Fragen seiner Wissenschaft, die über diese hinauszuzielen scheinen, wenn man nicht von vornherein davon ausgeht, dass die Historie Sinn nur gewinnt in der Beziehung zum Leben der Gegenwart." (Neue Westfälische)