Produktdetails
  • Verlag: Weidle Verlag
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 175
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 304g
  • ISBN-13: 9783931135485
  • ISBN-10: 3931135489
  • Artikelnr.: 08991126
Autorenporträt
Jörg W. Gronius, 1952 in Berlin geboren. Er studierte Theaterwissenschaften und arbeitete als Dramaturg und Regisseur. Gronius schreibt Texte über und für das Theater, vor allem Dramen und Libretti.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2001

Der Reiz des Hustenanfalls
Jörg W. Gronius überlebt eine Kindheit

Vielleicht hat der Junge auch einen Namen. Genannt wird er jedenfalls nur "Bengel", "Nichtsnutz" oder "Biest", einzig bei Spaziergängen im Park, wenn Fremde in der Nähe sind, sagt die Großmutter "mein Junge" zu ihm. Zu Hause, in der Kreuzberger Einraumwohnung, ist es mit der Freundlichkeit wieder vorbei: "Immer wurde mir gedroht. Meist wurde die Drohung wahr gemacht. Prügel oder Einsperren oder beides. Der Grundkonsens war meine Demütigung. Der Grundkonsens der zwei Frauen, denen ich ausgeliefert war: meiner Mutter und meiner Großmutter mütterlicherseits."

Der Dramaturg Jörg W. Gronius ist bislang als Autor von grotesken Kurzstücken in Erscheinung getreten, die er gemeinsam mit Bernd Rauschenbach verfaßt und inspiriert vorgetragen hat. Sein erster Roman schildert eine Berliner Kindheit in den Fünfzigern mit der Parteilichkeit des Opfers, das seinen Peinigern längst entwachsen ist, sich aber nur zu gut an die Hoffnungslosigkeit erinnert, die in der Perspektive des Kindes über Jahre vorherrschend gewesen ist. Daß es Gronius gelingt, sein Buch dennoch frei von Larmoyanz zu halten, und er statt dessen die grimmige Komik dieser Konstellation aufsucht, wo immer er sie nur finden kann, ist die eigentliche Leistung des Romans.

Vier Personen aus drei Generationen drängeln sich in Stube, Küche und Flur; das Außenklo teilt man mit dem halben Haus - wie räumliche Enge, die man über Jahre hin ertragen muß, familiäre Aggressionen schürt, wurde selten mit derart lakonischer Eindringlichkeit dargestellt. Gronius erzählt in kurzen, atemlosen Sätzen, wie zwischen den Zähnen herausgepreßt, von Situationen, in denen die resignierte Verzweiflung des Jungen ebenso zu spüren ist wie das verwunderte Kopfschütteln des erwachsenen Autors über die Grotesken, die sich in der Wohnung am Lausitzer Platz und in der näheren Umgebung zugetragen haben - die Mutter, die genüßlich ihr Eis vor den Augen des Sohnes verzehrt, in liebevoller Sorge um das Kind mit seinem schlimmen Husten (das aber regelmäßig durchgeprügelt wird); der Putzwahn von Mutter und Großmutter, die einander hassen und dafür kein besseres Ventil finden als die gemeinsame Demütigung des Jungen; die Odyssee des stotternden, hustenden Kindes durch die Behandlungsräume der Ärzte und Logopäden. In kluger Auswahl entwirft Gronius ein kleinbürgerliches Panorama der fünfziger Jahre, so anschaulich und detailliert, daß man sich trotz aller bitteren Episoden gern in diese Welt begibt.

Daß aus dem Buch keine wütende Anklageschrift geworden ist, daß hier nicht einer nach vierzig Jahren zurückschlägt und alles auf den Tisch bringt, was man ihm je angetan hat, ist auch der unterschwelligen Suche des Autors nach Motiven für die Aggression von Mutter und Großmutter zu verdanken. Ein Gefühl für deren Überforderung gewinnt man rasch; für die Verzweiflung über die psychosomatischen Krankheiten des Kindes, denen mit den probaten Mitteln, die sonst den Alltag regeln, nicht begegnet werden kann, weil jeder Druck die Symptome noch verstärkt: "Meist ging der Husten von den Optipect-Tropfen gar nicht weg. Ich hustete und hustete, manchmal so, daß ich vom Husten brechen mußte. Dann schrie meine Mutter: ,Wenn der Bengel nicht aufhört zu husten, vergesse ich mich!'"

Die Versuche des Jungen, aus dieser Enge zu flüchten, gelingen am ehesten mit der Literatur. Eltern und Großmutter können kaum lesen, und deren Auseinandersetzung mit der ihnen unheimlichen Begabung des Kindes, das schon vor der Schule lesen kann, vollzieht sich in Abwehr ("Hast du nichts Besseres zu tun") oder in fröhlichem Leugnen des Offensichtlichen: "Der Junge kann doch gar nicht lesen", heißt es immer wieder, auch wenn das Kind gerade etwas laut vorgelesen hat. Doch diese Fluchten, unterstützt von der lebensfrohen Großtante Lucie ("Mit Tante Lucie war die Falsche gestorben", kommentiert das Kind ihren Tod), entziehen den Jungen nicht der familiären Gewalt. So fügt er sich und sucht höchstens in hoffnungslosen Phantasien nach einem Ausweg:

Bei den Verwandtenbesuchen in Ost-Berlin blitzt angesichts der vorüberfahrenden sowjetischen Mannschaftswagen eine winzige Hoffnung auf. Denn die russischen Soldaten, das weiß er aus den heimischen Erzählungen, warten nur darauf, sich auch West-Berlin einzuverleiben, und könnten, wie es immer heißt, "schon morgen vor der Tür" stehen: "Am liebsten hätte ich ihnen zugerufen: ,Kommt doch morgen früh gleich vor unsere Tür. Ich bin nämlich aus dem Westen, und die einzigen, die mich vor meiner Mutter und meiner Großmutter mütterlicherseits retten könnten, seid ihr, denn vor euch haben sie Angst!' Aber zu schnell fuhren die Lastwagen vorbei. Meine Mutter zog mich an der Hand weiter, wenn ich zu lange den Lastwagen nachkuckte. Wahrscheinlich ahnte sie etwas."

TILMAN SPRECKELSEN

Jörg W. Gronius: "Ein Stück Malheur". Roman. Weidle Verlag, Berlin 2000. 180 S., geb., 38,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

In dem autobiografischen Kindheitsroman von Jörg W. Gronius findet Werner Irro die ganze Lustfeindlichkeit der Gesellschaft der fünfziger Jahre auf beklemmende Weise präsent. Gronius schreibt aus der Perspektive eines Jungen ohne Namen, der sich unter der autoritären und wenig liebevollen Erziehung durch Vater, Mutter und Großmutter wie der Waisenjunge Harry Potter am liebsten freiwillig in seine Besenkammer verzieht. In neun Kapiteln umreißt Gronius die verschiedenen Lebensbereiche des Kindes. Irro nennt das `ein Ganzes, das einem die Luft nimmt`. Selten wechselt der Autor auf eine intellektuelle Ebene, schreibt Irro, die aber verzichtbar ist, da der `assoziative Stil` `ganz der Erregung der Fantasie des Jungen durch ein Wort oder ein Bild` folgt. Gronius porträtiere damit eine Zeit, deren Ziel es war, mit allen Mitteln eine äußerliche Ordnung herzustellen. Das `Protokoll einer verweigerten Kindheit` vergleicht der Rezensent sogar mit der Selbsterlebensprosa eines Thomas Bernhard.

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