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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eine interessante und auch vielschichtige Anthologie ist dieser Band nach Meinung des Rezensenten Lothar Müller. Anders als er Untertitel der Anthologie suggeriert, handelt es sich nicht um "von jüdischen Autoren verfassten Pendants zum Genre der Weihnachtserzählung", sondern zum einen Teil um kurze Rückblicke auf und Episoden aus dem Leben zumeist deutschsprachiger Juden, zum anderen Teil um soziologische Betrachtungen des Weihnachtsfestes: "Franz Hessel, Alfred Polgar oder Siegfried Kracauer fassen die Weihnachtsbräuche nicht anders ins Auge als die Warenhäuser oder das Sechstagerennen". Die Brücke zwischen diesen beiden Ansätzen liefert nach Meinung des Rezensenten der Aufsatz von Walter Benjamin. Auf der Seite der episodischen Texte ist ein starkes und interessantes Motiv die Spannung zwischen der jüdischen und der deutschen Identität. 

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2004

Der Sechstagebaum
Jüdische Autoren feiern ein christliches Fest
Der Titel, den der jüdische Gelehrte Gershom Scholem (1897 bis 1982) seinen 1977 erschienenen Jugenderinnerungen gab, war programmatisch gemeint: „Von Berlin nach Jerusalem”. Der Auszug aus dem assimilierten Westjudentum ist darin so beschrieben: „In unserer Familie wurde schon seit den Tagen der Großeltern Weihnachten gefeiert, mit Hasen- oder Gänsebraten, behangenem Weihnachtsbaum, den meine Mutter am Weihnachtsmarkt an der Petrikirche kaufte, und der großen ,Bescherung‘ für Dienstboten, Verwandte und Freunde. Es wurde behauptet, dies sei ein deutsches Volksfest, das wir nicht als Juden, sondern als Deutsche mitfeiern. Eine Tante, die Klavier spielte, produzierte für die Köchin und das Zimmermädchen Stille Nacht, heilige Nacht. Als Kind ging mir das natürlich ein, 1911, als ich gerade begonnen hatte, Hebräisch zu lernen, nahm ich das letzte Mal daran teil. Unter dem Weihnachtsbaum stand das Herzl-Bild in schwarzem Rahmen. Meine Mutter sagte: Weil du dich doch so für Zionismus interessierst, haben wir dir das Bild ausgesucht. Von da an ging ich Weihnachten aus dem Haus.”
Hanno Loewy hat die Episode aus Scholems Erinnerungen in seine Anthologie „Chanukka, Weihnachten, Weihnucka” aufgenommen. Sie versammelt nicht etwa, wie der Untertitel „Jüdische Geschichten vom Fest der Feste” nahelegen könnte, von jüdischen Autoren verfasste Pendants zum Genre der Weihnachtserzählung, zu dessen Aufstieg im 19. Jahrhundert Charles Dickens und Adalbert Stifter beitrugen. Es handelt sich um Lebensrückblicke meist deutschsprachiger Juden, Episoden aus Romanen und Feuilletons sowie einige Auszüge aus Tagebüchern, z.B. des Romanisten Victor Klemperer, oder Briefen, z.B. des Romanciers Georg Hermann.
Sonnenwende des Winters
Am 24. Dezember 1895 schrieb Theodor Herzl, der Wortführer des politischen Zionismus, dessen Porträt zum Sinnbild für den Konflikt des jungen Scholem mit seiner Familie wurde, in sein Tagebuch: „Eben zündete ich meinen Kindern den Weihnachtsbaum an, als Güdemann kam. Er schien durch den ,christlichen‘ Brauch verstimmt. Na, drücken lasse ich mich nicht! Aber meinetwegen soll‘s der Chanukkabaum heißen - oder die Sonnenwende des Winters?” In der Indignation des Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann ist ein Hauptmotive dieser Anthologie angeschlagen: wie eine selbstverständlich gewordene Gewohnheit in die Krise gerät.
Zu den Krisenprodukten gehörten Verlegenheitsbegriffe wie der „Chanukkabaum”. Gewiss, auch im jüdischen Kalender gab es ein Lichterfest, das zufällig meist in die Zeit zwischen Nikolaus und Weihnachten fiel: Chanukka. Aber dessen Kern war die Erinnerung an einen Akt jüdischer Rebellion gegen die Überformung der eigenen Religion, an den Makkabäeraufstand und die Reinigung des Tempels in Jerusalem vom griechischen Götterkult 165 bis 163 v.Chr. Auch der Hinweis darauf, der Weihnachtsbaum sei eher heidnisch-germanischen Ursprungs, taugte nicht recht. Dagegen ließ sich leicht die Frage stellen, die Schalom Ben-Chorim (1913 bis 1999) im Rückblick auf sein um 1928 langsam erwachendes Unbehagen an Weihnachten stellt: „ob die Nachkommen der Kinder Israels unbedingt das germanische Brauchtum pflegen sollten”.
Ob bei Margarete Susmann oder Ilse Aichinger, Valentin Senger oder Julius Posener - es sind vor allem die autobiographischen Texte aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts oder den ersten des 20. Jahrhunderts, in denen polemisch oder elegisch die latente Spannung zwischen dem Weihnachtsbaum und seiner Anwesenheit in den Wohnzimmern des deutschen Judentums reflektiert wird. Walter Benjamins Vignette „Ein Weihnachtsengel” aus der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert” ist in dieser Anthologie die Ausnahme: sie schildert die kindliche Erwartungsspannung des 24. Dezember und den Engel ohne jede explizite Bezugnahme auf die Krise der jüdischen Assimilation. Zu den Feuilletons unter den knapp vierzig hier versammelten Texten ist Benjamins Text die ideale Brücke: Franz Hessel, Alfred Polgar oder Siegfried Kracauer fassen die Weihnachtsbräuche nicht anders ins Auge als die Warenhäuser oder das Sechstagerennen.
LOTHAR MÜLLER
HANNO LOEWY (Hrsg.): „Solls der Chanukkabaum heißen”. Chanukka, Weihnachten, Weihnukka. Jüdische Geschichten vom Fest der Feste. Verlag Das Arsenal, Berlin 2005 (Auslieferung vorgezogen). 156 Seiten, 14,80 Euro.
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