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Produktdetails
  • Schwedische Literatur der Moderne 15
  • Verlag: Kleinheinrich Buch- und Kunstverlag
  • Seitenzahl: 228
  • Deutsch, Schwedisch
  • Abmessung: 210mm x 145mm
  • Gewicht: 528g
  • ISBN-13: 9783930754595
  • ISBN-10: 3930754592
  • Artikelnr.: 32977183
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2011

Auf dem Friedhof des Historismus
Ein lyrischer Spaziergang zu Bekannten, von Sappho bis Dschingis Khan: Kjell Espmarks Gedichtzyklus "Milchstraße"

Es ist nur ein kleiner Schritt von der Einsicht, dass Dichtungen den Lebenden ein Gespräch mit den Toten ermöglichen, zu dem Vorsatz, sich dichtend in die Toten hineinzuversetzen. So hat jener Typus von Epitaphen, in denen die Begrabenen selbst sich an die Vorübergehenden wenden, eine ehrwürdige Tradition. Schon die zum Bildungszitat verkommene Mahnung an den Wanderer, der nach Sparta kommt, blickt zurück auf eine lange Geschichte dieses lyrischen Genres. Seine kanonisch gewordene Sammlung ist die über Jahrhunderte entstandene "Anthologia Graeca", deren Anfänge zurückreichen bis ins siebte Jahrhundert vor Christus. Aus ihr speisen sich immer neue imaginäre Totenreden in der Poesie der Jahrhunderte; und auf sie weist auch der jüngste Versuch einer modernen Fortschreibung ausdrücklich hin: der Zyklus "Milchstraße. Epiphanien", den der schwedische Dichter Kjell Espmark 2007 veröffentlicht hat. Zusammen mit einer präzisen und angenehm zurückhaltenden Übersetzung von Klaus-Jürgen Liedtke ist er nun im engagierten Münsteraner Verlag Kleinheinrich erschienen.

Der einundachtzigjährige Espmark, Gelehrter und Poet, ist Mitglied der Schwedischen Akademie und mitverantwortlich für die Vergabe des Literaturnobelpreises, dessen Geschichte er in einem unterhaltsamen Buch erzählt hat. Er ist eine literarische Autorität, und sein Zyklus lyrischer Epitaphe bildet ein poetisches Hauptwerk - nicht nur, weil er das Ergebnis langjähriger Arbeit ist, sondern auch, weil er eine Sehnsucht aller Poesie berührt. Hier geht es um die Überwindung der Vergänglichkeit im sprachlichen Gedenken, um Sprache und Tod, um Mohn und Gedächtnis.

Espmark setzt mit diesem Vorsatz eine große Traditionslinie fort, die in der Moderne von Eliots "The Waste Land" bis zur lyrischen Prosa von Peer Hultbergs "Requiem" und Lars Gustafssons "Nachmittage des amerikanischen Mädchens" reicht. Und erst vor wenigen Jahren hat bereits Durs Grünbeins Zyklus "Den Teuren Toten" die Epitaphe der Anthologia aufgegriffen. Während er jedoch aus weiter Distanz nach der Identität der von der Zeit Verschütteten fragt und sie am Ende in ihrer namenlosen Fremdheit belässt, lässt Espmark wieder die Toten selbst in markierter Rollenrede zu Wort kommen, sich vorstellen und ihre Geschichten erzählen. Und sie tun das mit einer geradezu resoluten Präzision.

Dies vor allem unterscheidet Espmarks Zyklus von seinen modernen Vorgängern: Wo sie stets die uneinholbare Ferne mitreflektieren, aus der nur zarte und ungewisse Schimmer aufleuchten oder flüchtige Schatten ins Gedicht fallen, wo sie die Stimmen nur vorübergehend hervortreten lassen aus dem Gewimmel der Totengeister, da haben die Sprecher von Espmarks Rollengedichten nicht nur Name und Adresse, sie sind auch stets als Repräsentanten zu erkennen. Wer über diesen lyrischen Kirchhof spaziert, trifft viele Bekannte, von Sappho bis zu Dschingis Khan, von Linné bis zu Bolívar. Und wer sich nicht namentlich selbst vorstellt ("Meine Reiterarmee hatte die Welt erobert"), der wird durch wiedererkennbare Signale alsbald identifiziert: der besiegte Indianer und der leprakranke Medizinmann, der muslimische Attentäter und der serbische Soldat, der Vietnamkämpfer und der sich verbrennende buddhistische Mönch in China. Weniger den Gestalten der Sprecher gilt das Interesse dieser Verse als vielmehr den Epochen und Kulturen, die sie verkörpern. Systematisch werden die Zeiten durchmessen, lehrbuchgenau wie im Lesebuch des Historismus, von Athen bis Tschernobyl. Immer wieder geraten die Sprecher darum zu Typen, geheimnislos und ausstaffiert mit erwartbaren Attributen: Der Wikinger ist vom Thing geächtet, den Samurai umweht Jasminduft, und die tote Sappho redet, als nehme sie die künftige Altphilologie vorweg, von der Wahrheit des Fragments.

Darin liegt das Risiko von Espmarks Verfahren: Immer wieder setzt es ebenjenes Wissen voraus, das doch im tastenden Rollenspiel des Gedichts allererst ermittelt werden soll. Dieses Wissen aber ist hier nicht nur Begleitumstand, sondern Programm. Denn Espmarks Gedichte wollen auf nicht weniger hinaus als die titelgebenden "Epiphanien": immer neue Beglaubigungen des Gedankens, dass "jedes Menschenleben einen Augenblick birgt, in dem sich alle Erfahrungen und Wertungen in einer plötzlichen Erkenntnis verdichten". Dass aber jedes der hundert Gedichte nicht nur von dem unmöglichen Ort des Todes aus reden, sondern auch noch einen dieser epiphanen Augenblicke aussprechen soll: das ist eine programmatische Selbstüberforderung.

So zeigt sich zwar auch hier Kjell Espmarks poetische Kunst in einigen wunderbar leichten, andeutenden Versen, die wirklich Unbekanntes erahnen lassen. Doch das bleiben Ausnahmen. Das eigentlich Unheimliche dieser Totengedichte liegt darin, dass in ihnen der Tod eigentlich kein Problem ist. Denn ein poetisches Programm, das nur die epiphanen Augenblicke fixieren soll für das lyrische Archiv, muss alle Rätsel vermeiden. Es will nur wiedererkennen, was es schon weiß.

HEINRICH DETERING.

Kjell Espmark: "Vintergata. Epifanier (Milchstraßen. Epiphanien)".

Aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke. Kleinheinrich Verlag, Münster 2011. 228 S., geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Heinrich Detering wertet Kjell Espmarks Gedichtzyklus "Milchstraße" als das "poetische Hauptwerk" des Dichters und Mitglieds der Schwedischen Akademie. Allerdings können ihn die hundert Rollengedichte, in denen die Toten sprechen, nicht restlos überzeugen. Er konstatiert die große Tradition imaginärer Totenreden, in der Espark steht, und bescheinigt ihm, die auftretenden Toten - von Sappho bis Dschingis Kahn - ihre Geschichten mit "resoluter Präzision" erzählen zu lassen. Aber er ihm scheint das poetische Programm des Dichters ziemlich überfrachtet, da die Totenreden zugleich Epiphanien sein wollen. Die Kunst des Autors zeigt sich für ihn daher nur in einigen Ausnahmen, einigen "wunderbar leichten, andeutenden Versen".

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