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Produktdetails
  • Verlag: Achilla Presse
  • Originaltitel: Tilgang
  • Seitenzahl: 133
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 260g
  • ISBN-13: 9783928398831
  • ISBN-10: 3928398830
  • Artikelnr.: 10843186
Autorenporträt
Naja Marie Aidt, 1963 in Egesminde/Grönland geboren, wuchs in Grönland und Kopenhagen auf. 1991 hatte sie ihr Debüt als Lyrikerin. Seither erschienen drei Erzählungsbände, mehrere Gedichtsammlungen und Theaterstücke. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2004

So traurig ist das Riesenbaby
Aus der Notaufnahme: Naja Marie Aidt und ihre Dänen
Die Dänen lassen sich, wenn sie übermütig werden, gern Franzosen des Nordens nennen, was nichts daran ändert, dass Literatur aus Dänemark an ihrem Ton und ihrer Atmosphäre, an einer bestimmten, klimatisch bedingten Grundstimmung zwischen lakonischem Humor und unheilbarer Depression, sogleich als skandinavisches Erzeugnis kenntlich wird. Das gilt auch und im besonderen für die Arbeiten von Naja Marie Aidt, die vor vierzig Jahren auf Grönland geboren wurde, beizeiten nach Kopenhagen übersiedelte, 1991 mit Gedichten debütierte und mittlerweile zu den angesehenste dänischen Gegenwartsautorinnen gehört.
Im Eröffnungsstück ihres zweiten Prosabandes, vor acht Jahren erschienen und jetzt von Peter Urban-Halle einfühlsam ins Deutsche übersetzt, tritt ein junger Mann namens André Jean Hansen auf. Er hat nicht etwa französische Ahnen, sondern verdankt seine ungewöhnlichen, weltläufigen Vornamen der Tatsache, dass seine Mutter „in ihrer Jugend mal eine Busfahrt nach Paris gemacht” hat. Das ist zugleich komisch und traurig, und diese gemischte Empfindung charakterisiert die ganze Geschichte, die von einem Umzug handelt, einem Umzug unter vielen. André, der über hundert Kilo auf die Waage bringt, aber an seinem massigen Körper kein Sitzfleisch hat, ist süchtig nach Umzügen. Wieder einmal hat er seine Gefährtin überredet, mit ihm die Wohnung und die Stadt zu wechseln. Das neue Domizil trägt alle Merkmale der Trostlosigkeit und Verkommenheit, doch für ihn ist es „das Paradies”. Die junge Frau versucht, das Beste aus der Situation zu machen, bis sie nach ein paar Monaten von Panik und Widerwillen überwältigt wird. Nun ist sie es, die den Anstoß zum nächsten Umzug gibt, und André, das Riesenbaby, willigt begeistert ein. „Ich liebe ihn”, denkt sie vor dem Einschlafen, und: „Das gehört alles dazu.”
Ein kleines Drama unter normal Verrückten, leise und unspektakulär, aber von beklemmender Eindringlichkeit. Naja Marie Aidt hat die Kunst des Komprimierens aus der Lyrik in die Prosa hinübergerettet: Sie braucht nur wenige Seiten, manchmal nicht mehr als zweieinhalb für eine abgeschlossene Erzählung, um hinter dem Gitter einer knappen, lässigen Alltagssprache tiefe Abgründe sichtbar zu machen, Lebenstragödien, die immer auch etwas Skurriles haben, weil sie jenen zwischenmenschlichen Kommunikationsstörungen entspringen, die man in den Ländern des Nordens pflegt wie ein kostbares Kulturgut.
Männer und Frauen, Kinder und Eltern, Geschwister, Enkelinnen und Großmütter, ja sogar noch Tote und Hinterbliebene missverstehen einander und reden aneinander vorbei. Das, wonach sie alle sich sehnen, der „Zugang” zu den Gedanken und Empfindungen ihrer Mitmenschen, gab der Sammlung den Titel, wird aber in jeder Geschichte zuverlässig blockiert. Zum Trost und Ausgleich müssen manche dieser netten, traurigen Dänen eine Menge Bier oder Schnaps trinken. Einer, offenbar jung und arbeitslos, trinkt nur Coca Cola und Vanilleshake, raucht aber dafür um so mehr Haschisch. Damit er nicht sofort vergisst, womit er am Tag zuvor die Zeit totgeschlagen hat, führt er eine Art Tagebuch, in dessen kargen Notizen die ganze Wüstenei einer zwischen MTV und Burger King sinnfrei dahintreibenden Wohlstandsjugend aufscheint.
Naja Marie Aidt kennt die Milieus, die sie beschreibt, sie vermag sie mit großer Prägnanz darzustellen, und sie variiert ihr Thema nicht nur mit großer sprachlicher Sorgfalt, sondern auch mit unverkennbarer Sympathie für ihre Figuren. Dabei lässt sich allerdings nicht vermeiden, dass der Leser von der Tristesse dieser Dänen-Szenen angesteckt wird und sich bisweilen fühlt wie auf der Notaufnahme einer literarischen Station der Sozialfürsorge.
Ganz schlimm kommt es in der letzten und längsten Erzählung des Bandes, in der ein Zwillingspaar, in extremer wechselseitiger Abhängigkeit aufgewachsen, getrennt dahinvegetiert und dann im selben Moment das Zeitliche segnet: Der Bruder hat sich zu Tode getrunken, die Schwester stirbt an einem faulenden Arm. Mutter und Tante kommentieren abwechselnd das Geschehen, schicksalsgläubig die eine, kaltschnäuzig die andere. Das scheint nun doch etwas zu pathetisch entworfen und zu pastos aufgetragen – andererseits wissen wir ja: Dänen lügen nicht.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
NAJA MARIE AIDT: Zugang. Erzählungen. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Achilla Presse, Hamburg 2003. 134 Seiten, 16 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2003

In der Abendschule des Lebens
Geteiltes Schweigen: Naja Marie Aidts leise Erzählungen

Es zeugt von Mut, wenn ein Kleinverlag junge dänische Literatur publiziert. Nachgerade tollkühn ist der Versuch der Hamburger Achilla Presse, eine so leise Autorin wie Naja Marie Aidt durchsetzen zu wollen. "Wasserzeichen" schlug vor zwei Jahren keine großen Wellen, und Aidts neuer Erzählband mit dem noch stilleren Titel "Zugang" wird vermutlich auch im Ozean der Neuerscheinungen untergehen. Es wäre kein großer Schiffbruch, aber doch auch schade um die Dänin mit grönländischen Wurzeln. Aidt beschreibt mit lyrischer Verve und lakonischer Gespanntheit die feinen Haarrisse zwischen Eltern und Kindern, Geschwistern, Ehepaaren und Freundinnen, die sich jäh zu Familiendramen und Alltagskatastrophen auswachsen. "Von einer Sekunde zur anderen, und ohne besonderen Grund, kann sie so einen Widerwillen gegen andere Menschen empfinden. Wie jetzt gegen ihn. Besonders gegen ihn. Auf Zehenspitzen stehen, um ihn zu küssen, und plötzlich ihn wegscheuchen mit ungeduldiger Hand, etwas Rasendes im Magen wachsen fühlen, etwas, das am liebsten schlagen will, hart und präzise, sein Gesicht blutig schlagen will. Sie knurrt und wendet sich ab."

Die Krisen des Erwachsenwerdens und der Liebe äußern sich in kleinen Macken und körperlichen Ausfallerscheinungen, Mißverständnissen und Schweigen; am Ende stehen unüberwindliche Gräben voller Ekel, Schuld und Scham. Die meisten Figuren wirken nicht sonderlich stabil: Die Frauen sind launisch, weltfremd, demütig oder hysterisch aufgekratzt, die Männer unsicher und unruhig, alle ständig auf dem Sprung aus ihrer Haut. In "Möglichkeiten" will der Mann ständig umziehen, ausbauen, renovieren, wird aber in jeder neuen Wohnung von Depressionen und unerklärlicher Apathie eingeholt. "Ich liebe ihn", sagt seine Frau. "Wir werden umziehen, und das gehört dazu. Das gehört alles dazu." In "Bitte an ein Stück Himmel" fleht eine Frau am Grab des Mannes, der sich in das Schneckenhaus seines Schweigens zurückzog, er möge ihr wenigstens postum ein Kompliment machen. Sie litt unter seiner Sprachlosigkeit, aber das geteilte Schweigen war, wie sie zu spät erkennt, ihr Himmel auf Erden. Mehr Glück gibt es nicht in einer Welt, in der eine Frau ihren Mann nach einer durchzechten Nacht nicht mehr wiedererkennt oder verlassen wird, bloß weil sie die Abendschule besucht. So erwachsen aus winzigen Irritationen grundlosen Euphorien, aus harmlosen Suchbewegungen Trennungen und Tragödien.

Aidts Menschen haben gelegentlich eine "verflucht kranke Art von Humor". In "Unverbrüchlich" etwa, der vielleicht rätselhaftesten Erzählung, fällt ein Trinker jubelnd und tanzend ins Delirium tremens, während seiner Zwillingsschwester Arm und Zunge bei lebendigem Leibe verfaulen; die Mutter murmelt: "Es ist alles in schönster Ordnung." Sätze wie "Das ist nicht so schlimm" oder "Irgendwas muß man ja machen" sind die Mantras einer Religion stoischer Entsagung. Nur selten, etwa in dem Abtreibungsmelodram "Umstände", löst Aidt ihr latentes Unbehagen moralisierend auf. Klar ist allerdings, daß die Welt "total verkehrt zusammengeschraubt" ist und Nächsten- nur Fernstenliebe sein kann: Selbst im trauten Familien- und Eheidyll bleibt man einsam und einander fremd. Liebe ist ein Bündnis von Ohnmächtigen, eine tröstliche Bewußtseinstrübung, und die Sprache erleichtert nicht eben die Verständigung: So bleiben alle Geheimnisse unaufgelöst, alle Wunden offen.

Wenn der Leser schwer Zugang zu dieser melancholischen Welt findet, so liegt das nicht an der schlichten Zärtlichkeit der Sprache. Im Gegenteil: Aidt findet immer wieder kraftvolle, leuchtende Bilder für die Rätsel kindlicher Phantasien, die Leer- und Sollbruchstellen einer gefährdeten Intimität. Aber was "hinter den Worten und hinter dem Schweigen" liegt, entzieht sich fixen Begriffen und gängigen Wahrnehmungsmustern, und es bedarf schon einiger Geduld, um die versunkenen Träume ans Tageslicht zu heben.

MARTIN HALTER

Naja Marie Aidt: "Zugang". Geschichten. Aus dem Dänischen übersetzt von Peter Urban-Halle. Achilla Presse, Hamburg 2003. 134 S., geb., 16,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sehr couragiert findet Martin Halter die Initiative eines Kleinverlages wie der Achilla Presse in Hamburg, nun schon zum zweiten Mal einen Erzählband einer jungen dänischen Autorin zu veröffentlichen, der nichts Aufsehenerregendes an sich hat, sondern eher eine Art stiller und recht unzugänglicher Prosa darstellt. Halter hat dennoch Zugang dazu gefunden, allerdings entziehen sich Aidts subtile Beobachtungen der fragilen Existenzen ihrer Figuren den gängigen Wahrnehmungsmustern und schnellen Zuschreibungen, warnt er. Ihre Sprache ist schlicht, innig, kraftvoll, lobt Halter Aidts Schreibweise, mit der sie "die feinen Haarrisse" im Beziehungsgefüge von Familien, Paaren, verliebten Jugendlichen aufspürt, kleine Risse im Getriebe, die sich in null Komma nichts zu Brüchen auswachsen und in richtige Katastrophen umschlagen können. Aidts Welt ist eine melancholische Welt, hält Halter fest, jedoch zärtlich beschrieben; nur einmal gebe die Autorin dem Verlangen nach, ihre Klage moralisierend aufzulösen.

© Perlentaucher Medien GmbH