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Vermutlich war Gert Jonke eine der letzten wahrhaftigen Dichter-Existenzen unter den deutschsprachigen Autoren: Sein Leben und Schreiben war eine untrennbare Einheit. Aber Gert Jonke als Lyriker? Ist da eine neue Seite an dem Sprachzauberer zu entdecken? Ja und nein. Das poetische Universum dieses Dichters kannte bekanntlich keine Gattungen und keine Grenzen. So sind viele der Chorlieder und Zorn-Arien, der Anrufungen und Gesprächsduette in seinen Theaterstücken unverkennbar lyrische Gesänge. Das hat auch sein Publikum so wahrgenommen. Hier erscheinen diese Kleinodien neben den originären…mehr

Produktbeschreibung
Vermutlich war Gert Jonke eine der letzten wahrhaftigen Dichter-Existenzen unter den deutschsprachigen Autoren: Sein Leben und Schreiben war eine untrennbare Einheit. Aber Gert Jonke als Lyriker? Ist da eine neue Seite an dem Sprachzauberer zu entdecken? Ja und nein. Das poetische Universum dieses Dichters kannte bekanntlich keine Gattungen und keine Grenzen. So sind viele der Chorlieder und Zorn-Arien, der Anrufungen und Gesprächsduette in seinen Theaterstücken unverkennbar lyrische Gesänge. Das hat auch sein Publikum so wahrgenommen. Hier erscheinen diese Kleinodien neben den originären Gedichten in einem neuen Kontext. Und beinahe ist es schon in Vergessenheit geraten: Gert Jonke hat schließlich als Lyriker begonnen. Seine ersten Veröffentlichungen, als Sechzehn- und Siebzehnjähriger, waren Gedichte bis sein Vormund ihm das Schreiben und Veröffentlichen verboten hat. Das Verbot hat nicht lang gehalten, und Gert Jonke hat weiter Gedichte geschrieben, hat sie in Sammelbänden publiziert oder hat sie in seine Stücke, seine Prosa und seine Essays hineingezaubert. In diesem Buch wird der Schatz gehoben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2003

Vom Ruhr- ins Bleistiftgebiet
Mahlzeit: Henrik Hieronimus erzählt Stories aus der Produktion

In seinem "Monolog eines morganatischen Maurers" erzählt Max Goldt den üblen Streich, den die biertrinkenden Kollegen im Bauwagen dem Abkömmling einer Künstlerfamilie gespielt haben: Sie versteckten die Kühltasche, in der er das Eis für seinen Martini aufbewahrte, so daß er auf den üblichen "Pausendrink" verzichten mußte. Beim Essen und Trinken sind sie eben eigen, die Männer auf der Baustelle. Nehmen wir Herbert, der schon auf die sechzig zugeht und sich "keinen mehr abbricht": "Herbert nahm sich immer eine Frischhaltebox mit, die bis oben hin mit eingelegtem Fisch, Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Vollkornbrot und Wurst gefüllt war. Er biß in eine rohe Zwiebel, stopfte das Ende eines Herings hinterher, kaute und spülte alles mit Gemüsesaft runter, dann spannte er seinen rechten Arm an, ließ die Muskeln spielen und grunzte mit halbvollem Mund: ,Fuckmachine, Fuckmachine, Fuckmachine' - und das in einer Tour." Seine Frau hatte ihn schon vor einiger Zeit verlassen und seinen besten Kumpel geheiratet.

Der junge Cherubini, der nach einer Gärtnerlehre im Straßenbau untergekommen ist, bildet mit Herbert ein Kolonne, jedenfalls so lange, bis der Chef merkt, daß den beiden beim Steineschleppen der rechte Biß fehlt, und so kommt noch ein Lehrling hinzu, der vor allem als Kostverächter auffällt. Das Schlußbild dieser ersten kurzen "Geschichte vom Leben" ist fast eine Idylle: Herbert und Cherubini mampfen die Rohkost; der Lehrling wird um halb zehn zur ersten "stinkend-fettigen Bulette" gezwungen. Das Leben auf dem Bau geht eben durch den Magen, und wer hier wieder raus und etwa Schriftsteller werden will, der muß als erstes seine Ernährung umstellen.

Die kleinen Szenen und Schnappschüsse aus dem Alltag eines Hilfsarbeiters kann man eigentlich nicht Geschichten nennen; auch in der Gesamtheit fügen sie sich nicht zu einer Entwicklung im Sinne eines proletarischen Bildungswegs. Eher sind es Stationen, an denen im Verlauf des Buchs eine immer größere Distanz zur Herkunft spürbar ist. Es gibt Andeutungen dessen, was man früher Entfremdungskritik genannt hätte, doch kommt die jeden Gedanken tötende Schufterei beim Steineschleppen beiläufig daher; es gibt spontane Besäufnisse mit flüchtig Bekannten, die man am nächsten Tag wieder loswerden muß, viel harten Rock und einige weiche Drogen. Eine Freundin taucht in manchen Geschichten auf und verschwindet wieder, ohne daß konkrete Gründe für eine Trennung genannt würden.

Der soziale Aufstieg erfolgt über Heim und Herd, von Herberts roher Kost führt der Weg über Omelettes mit Parmesan und "Cherry-Rispentomaten" zur selbstzubereiteten Lachsforelle. Bier paßt immer; die feinen Unterschiede kommen dann durch "Zitrone und Rosmarin und so'n Zeug". Und zwischen Fischbuden und Würstchenzelten tut sich auf dem Trödelmarkt plötzlich das Tor zur Welt auf: der Buchhändler, der stolz darauf ist, Solschenizyns "Ersten Kreis der Hölle" an einem Abend durchgelesen zu haben und abgewetzte Bücher zu verkaufen, in denen keine Seite fehlt. Cherubini braucht seine Ruhe und kann bei aller Menschenfreundlichkeit keinen polnischen Mitbewohner gebrauchen: denn er arbeitet an einem Roman.

Henrik Hieronimus, geboren 1979 in Marl, hat ein denkbar unspektakuläres Erzähldebüt veröffentlicht, ein Buch, das man vielleicht schreiben muß, wenn man vom Ruhr- in das Bleistiftgebiet umziehen will. Ohne das eigene, ganz durchschnittliche Leben zu wichtig zu nehmen, schreibt Hieronimus seine Erfahrungen von der staubbedeckten Seele. Wenn man will, ist das Arbeiterliteratur, alte Schule, old economy sozusagen, doch ohne jede ideelle Überformung. Die wahre Basis ist die Bulette; alles darüber hinaus ist schon fast Literatur.

RICHARD KÄMMERLINGS

Henrik Hieronimus: "Morgens an irgendeinem Tag". Geschichten vom Leben. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2003. 118 S., geb., 16,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Bei dem Erzähldebüt von Henrik Hieronimus handelt es sich nach Auffassung des Rezensenten um "Arbeiterliteratur alter Schule, doch ohne jede ideelle Überformung". Was früher mal Entfremdungskritik hieß, fände bei Hieronimus eher beiläufig Erwähnung, wie dass die Arbeit auf dem Bau eine dem Denken abträgliche Tätigkeit sei, meint Richard Kämmerlings. Und doch ginge es um einen sozialen Aufstieg, der sich Kämmerlings über Berichte von Heim und Herd vermittelt. Denn die Arbeit auf dem Bau geht zuallererst durch den Magen, und wer dort schuftet, isst anders, als ein Angestellter kocht. Henrik Hieronimus, Jahrgang 1979, hat sich seine Erfahrungen als Hilfsarbeiter "von der staubbedeckten Seele geschrieben", vermutet Kämmerlings. Es seien eher Szenen und Schnappschüsse, findet Kämmerlings, statt richtiger Geschichten, und auch in der Gesamtheit würden sie sich nicht zu einer Entwicklung im Sinne eines proletarischen Bildungsromans fügen. Ein unspektakuläres und sympathisches Debüt.

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