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Die Alterung der Gesellschaft zwingt zur erneuten Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Sozialstaates. Können die drängenden Probleme der demographischen Entwicklung noch mit dem Verweis auf Solidarität gelöst werden oder muss man Wohlfahrt neu konzeptionalisieren? Bisher wurde diese Frage allein mit Blick auf die Lage in Deutschland und den westlichen Staaten mitähnlichem kulturellen Hintergrund diskutiert. Doch ein Vergleich mit Japan zeigt gänzlich andere Wege und Möglichkeiten auf. Am Beispiel der Pflegeversicherungen in beiden Ländern werden Ansätze und Strukturen verglichen und so verfestigte Wahrnehmungsmuster aufgebrochen.…mehr

Produktbeschreibung
Die Alterung der Gesellschaft zwingt zur erneuten Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Sozialstaates. Können die drängenden Probleme der demographischen Entwicklung noch mit dem Verweis auf Solidarität gelöst werden oder muss man Wohlfahrt neu konzeptionalisieren? Bisher wurde diese Frage allein mit Blick auf die Lage in Deutschland und den westlichen Staaten mitähnlichem kulturellen Hintergrund diskutiert. Doch ein Vergleich mit Japan zeigt gänzlich andere Wege und Möglichkeiten auf. Am Beispiel der Pflegeversicherungen in beiden Ländern werden Ansätze und Strukturen verglichen und so verfestigte Wahrnehmungsmuster aufgebrochen.
Autorenporträt
Shingo Shimada (Dr. phil.) ist Professor für Modernes Japan mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2006

Stille Revolution
Shingo Shimadas und Christian Tagsolds Geschichte der Pflege

Japan, das Land mit der höchsten Lebenserwartung der Welt bei gleichzeitig einer der niedrigsten Geburtenziffern, wird 2025 den weltweit höchsten Altenanteil aufweisen. Dessenungeachtet fehlt in der Kontroverse zur Altenproblematik hierzulande oft der vergleichende Blick auf fernöstliche Formen der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Shingo Shimada und Christian Tagsold erörtern die Einführung der Pflegeversicherung in Deutschland 1995 und in Japan 2000 auf gesamtgesellschaftlicher sowie auf der Ebene ihrer lokalen Umsetzung in Nürnberg und Fukuoka.

Die Idee des Wohlfahrts- und Sozialstaats ging, so die These der Autoren, aus Europa hervor. In Japan fielen große Bereiche der Dienst- und Sozialleistungen, die in Deutschland von den Kommunen und Wohlfahrtsverbänden übernommen wurden, den Familien und Betrieben zu. Bis in die 1970er Jahre wurde der Ausbau des Sozialsystems wegen des wirtschaftlichen Aufholprozesses verzögert. 1973 postulierte Premierminister Kakuei Tanaka das "Wohlfahrtsgründungsjahr". Die sozialpolitischen Ambitionen wurden aber bald durch die Ölkrisen zurückgeworfen, so daß unter Rückgriff auf konfuzianische familiäre Verpflichtungsverhältnisse von einer Japanese Style Welfare Society die Rede war. Trotz Förderprogrammen für Mehrgenerationenhaushalte zwischen 1978 und 1985 nehmen diese ab.

Die Pflege durch Angehörige wurde als Weg der zumeist pflegenden Töchter und Schwiegertöchter in die "Pflegehölle" kritisiert, bis das Symptom der "Erschöpfung durch Pflege" (kaigo-tsukare) auch offiziell als Krankheit definiert wurde. Zudem ist in Japan, wo das Sprichwort "Auf Tatamimatten sterben" den Wunsch nach dem Tod in den eigenen vier Wänden ausdrückt, die Unterbringung in einem der seit den siebziger Jahren errichteten Pflegeheime sozial stigmatisiert. Ein Problem war auch die massenhafte "Fehlbelegung" der eher gesellschaftlich anerkannten Krankenhäuser mit Pflegefällen.

Mitte der 1990er Jahre besuchten japanische Experten Deutschland. Die gesetzliche Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 2000 belegt die staatliche Anerkennung einer Krise der traditionellen Familie. Im bis dato stark zentralisierten Japan ist die inhaltliche Ausgestaltung der Pflegeversicherung weitgehend Aufgabe der Kommunen. Die Stadt als Versicherungsträger entscheidet über Anträge, erhält die Beiträge und zahlt die Leistungen. Dabei übernimmt ein "Care-Manager", der einen Anbieter auswählt und einen Pflegeplan ausarbeitet, die Lotsenrolle auf dem Pflegemarkt.

Das Pflegegesetz sieht vor, daß Pflegeleistungen vor allem von privaten Anbietern erbracht werden und die häusliche Pflege im Zentrum steht. Trotz des Paradigmenwechsels vom Pflegebedürftigen zum Kunden machen sich in Nippons Dienstleistungsgesellschaft kulturelle Hintergründe in der Ausgestaltung der Pflege bemerkbar. So wurden gemäß der konservativen Familienideologie eines Gabe-Gegengabe-Verhältnisses nur Sachleistungen, keine Geldleistungen und Anerkennungszeiten für pflegende Angehörige eingeführt.

Die Autoren erkennen semantische Verschiebungen beim Import westlicher Sozialpolitik. Der abstrakten und institutionalisierten Solidarität als Schlüsselbegriff der deutschen Pflegeversicherungsdebatte steht in Japan das Schlagwort der Stadtgestaltung (machizukuri) im Sinne der Förderung nachbarschaftlicher Strukturen gegenüber. Neben privatwirtschaftlichen Anbietern betonen die Autoren die Aktivitäten auf der Ebene von Non-Profit-Organisationen und die Rolle der Ehrenamtlichenarbeit in Japans Pflegepraxis. Dem "Nürnberger Weg der Pflege" und dem kommunalen Unternehmen "NürnbergStift" stellt das Buch das buddhistisch inspirierte Modell-Altenheim "Takurôsho" in Fukuoka gegenüber, in dem alternative Formen des Umgangs mit Demenzkranken erprobt werden.

Anschaulich beschreibt die detailliert recherchierte Studie die Einrichtung der Pflegeversicherung als stille Revolution und Teil eines umfassenden Versuchs, Japan zu dezentralisieren und eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit zu fördern.

STEFFEN GNAM.

Shingo Shimada und Christian Tagsold: "Alternde Gesellschaften im Vergleich". Solidarität und Pflege in Deutschland und Japan. transcript Verlag, Bielefeld 2006. 178 S., br., 18,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein spezielles Buch für spezielle Leser. Doch wer sich für den Umgang mit der alternden Gesellschaft in Deutschland und Japan interessiert, soviel können wir Steffen Gnams Besprechung entnehmen, der kann hier etwas lernen. Gründe sind für Gnam der Umstand, dass der komparatistische Blick in Richtung Fernost eher selten ist und dass die Einführung der Pflegeversicherung in beiden Ländern (1995 bzw. 2000) diesen Blick durchaus nahe legt. Als These präpariert Gnam die Verortung des Ursprungs eines Wohlfahrtsstaates in Europa heraus und referiert Aspekte der Bevorzugung familiärer Altenbetreuung in Japan und ihre kulturellen Hintergründe. Wie die Autoren den Vergleich mit einem Text über das kommunale "Nürnberger Stift" und ein modellhaftes Altenheim im japanischen Fukuoka auf die Spitze treiben, findet Gnam "anschaulich" und "detailliert recherchiert".

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