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Produktdetails
  • Verlag: Primus Verlag
  • ISBN-13: 9783896785374
  • ISBN-10: 3896785370
  • Artikelnr.: 14215260
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2005

Ungebrochene Tradition
Bassam Tibis Argumente gegen einen EU-Beitritt der Türkei

Bassam Tibi: Mit dem Kopftuch nach Europa? Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union. Primus Verlag, Darmstadt 2005. 224 Seiten, 19,90 [Euro].

Die AKP-Regierung des türkischen Ministerpräsidenten ist islamistisch. Die Maxime der türkischen Islamisten auf dem Weg nach Europa: die Alte Welt einem Islamisierungsprozeß unterwerfen. Zu diesem Schluß kommt zumindest der Islam-Fachmann Bassam Tibi. Er schreibt: "Ob die neuen Islamisten sich europäisieren, so daß sie dann zu Europa als einer Wertegemeinschaft gehören, bezweifle ich jedoch sehr." Im Hinblick auf die AKP, deren Führer Erdogan und Gül einst islamistisch waren und öffentlich dieser Ideologie abgeschworen haben, meint er: "Wenn ein Islamist den Islamismus, der eine Spielart des religiösen Fundamentalismus ist, aufgibt und nur islamisch-konservativ wird, dann impliziert das eine säkulare Weltsicht, so wie sie bei der CDU und anderen europäischen Christdemokraten anzutreffen ist. Aber der Islamismus basiert auf der Scharia (Gottesgesetz) und auf dem Glauben, der Islam sei die Einheit von Staat und Religion. Ich behaupte, daß die AKP in der ungebrochenen Tradition ihrer Vorgängerparteien steht: Ihre Führer sind aus diesem Grunde als Islamisten einzuordnen."

Tibis Behauptungen sind starker Tobak und in dieser Massivität bislang noch nicht oft vertreten worden. Bei der politischen Elite in Europa sei man geneigt zu glauben, daß der Ex-Islamist Erdogan, um es einmal biblisch zu sagen, sich vom Saulus zum Paulus bekehrt habe, so Tibi weiter. Dem sei aber nicht so. Der Autor plädiert im weiteren für einen "Euro-Islam", den die Türkei, trotz gegenteiliger Behauptungen, nicht zu geben gewillt sei. Als Beleg führt Tibi an, daß die Türkei in den vergangenen vierzig Jahren bis in die jüngste Vergangenheit nur orthodox-konservative Imame in ihre Gemeinden nach Deutschland geschickt habe: solche Vorbeter, für die Staat und Religion ineinanderfallen und die keine Freunde der europäisch-säkularen Gesellschaften seien.

Unter der Regierung Erdogan sollten in der Tat die religiös-konservativen Imam-Hatip-Schulen rehabilitiert werden. Früher konnte jemand, der diese Schulen absolviert hat, nicht an einer Universität studieren. Nun ist der Sprung zur höheren Bildung für Abgänger dieser Einrichtungen möglich. Das Ergebnis auf lange Sicht: mehr Islamisten an den Hochschulen, die den Anhängern von Staatsgründer Kemal Mustafa Atatürk das Wasser abgraben. Dies sei ein Beweis für seine Thesen, so Tibi. Und: "Außer der Formel ,Wir sind keine Islamisten mehr, sondern nur eine islamisch-konservative Partei' hat die AKP bisher nichts Inhaltliches zur Begründung des neuen Kurses vorgelegt."

Tibi liefert mit seinem neuen Titel all denen ein Handbuch, die einen Überblick über die Argumentation gegen den Beitritt der Türkei in die Europäische Union suchen. Er präsentiert viel Richtiges, aber wenig Neues. Tibi wiederholt und bündelt die altbekannten Argumente und faßt sie in einem semiwissenschaftlichen Text zusammen. Sein Buch ist in weiten Teilen ein Erlebnisbericht, der von persönlichen Erlebnissen und Einschätzungen getragen ist. Das macht den Text leicht lesbar, die Belege für das Behauptete bleiben dabei leider häufig auf der Strecke. Aus der subjektiven Wahrnehmung werden generelle Schlußfolgerungen gezogen. Dabei steht er mit seinen Einschätzungen nicht alleine: Selbst türkische Medien haben bis vor noch nicht allzu langer Zeit die Frage gestellt, ob sich Ministerpräsident Erdogan bei seinen Verhandlungen mit den Europäern der "Takkia", der taktischen Lüge, wie sie der Islam erlaubt und vorsieht, um den Islam auszubreiten, bedient oder nicht. Auch den einheimischen Beobachtern kam der Wandel vom Saulus zum Paulus spanisch vor.

Tibi kritisiert die europäischen Politiker und Verantwortlichen, die ihre Augen vor der "Entsäkularisierung" der Türkei verschließen. In den vergangenen 20 Jahren ist die Bevölkerung in dem Land von 58 auf 70 Millionen Menschen angestiegen, in 15 Jahren werden es 100 Millionen sein, so Tibi. Mit einer vollberechtigten Mitgliedschaft in der EU würden die türkischen Muslime sich in alle Länder der Gemeinschaft verteilen. Islamisten in der Türkei vertreten dabei nach außen eine Spielart des Multikulturalismus, um Minderheitsgemeinschaften der Muslime im Okzident "mit der Beanspruchung eines Grundrechtes auf die Bildung von islamistischen Parallelgesellschaften als Enklave des ,Haus des Islam' in Europa" auszurüsten. Sein Fazit: "Weil Islamisten jedoch keine Multikulturalisten sind, liegt es näher, daß dieser Schritt als eine Etappe der anvisierten Islamisierung Europas gesehen wird."

ALEXANDER GÖRLACH

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Von einem staatlich bestallten Professor hätte sich Volker Stahr weniger Einseitigkeit gewünscht. Bassam Tibi stelle sich "klar" gegen einen Beitritt der Türkei. Allerdings verwende er dabei nur die Fakten, die "in die Argumentation passen", die anderen, kritisiert Stahr, werden gar nicht beachtet. Zwar müsse man Tibi zugestehen, dass er im Gegensatz etwa zu Hans-Peter Raddatz ("Die türkische Gefahr?") immer sachlich bleibt und sogar "einzelne Gegenpositionen" erwähnt. Wenn Tibi aber in einem "kühnen Bogen" von einer von der türkischen Regierung verfolgten Islamisierung Europas spricht, mag der Rezensent nicht mehr folgen, vor allem weil Tibi diese Behauptung "nirgends schlüssig begründet".

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