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RAOUL TRANCHIRERS BEMERKUNGEN ÜBER DIE STILLE sind der Schlußstein der umfassenden ENZYKLOPÄDIE FÜR UNERSCHROCKENE LESER, ein Lexikon aus purer Literatur, das dem Leser den Kopf zurechtsetzt, und das kam so: Im Juli '53 erscheint Tranchirer mit einer Reisetasche auf dem Gelände des Anhalter Bahnhofs und sagt, auf den Fußboden deutend: 'Der Fußboden ist die Unterlage unserer täglichen Existenz, auf ihm ruht und bewegt sich das ganze Tagesleben.' Dieser Satz war der Beginn einer radikalen Beschäftigung mit den Geheimnissen der Welt. 1983 erschien sein VIELSEITIGER GROSSER RATSCHLÄGER, ein…mehr

Produktbeschreibung
RAOUL TRANCHIRERS BEMERKUNGEN ÜBER DIE STILLE sind der Schlußstein der umfassenden ENZYKLOPÄDIE FÜR UNERSCHROCKENE LESER, ein Lexikon aus purer Literatur, das dem Leser den Kopf zurechtsetzt, und das kam so: Im Juli '53 erscheint Tranchirer mit einer Reisetasche auf dem Gelände des Anhalter Bahnhofs und sagt, auf den Fußboden deutend: 'Der Fußboden ist die Unterlage unserer täglichen Existenz, auf ihm ruht und bewegt sich das ganze Tagesleben.' Dieser Satz war der Beginn einer radikalen Beschäftigung mit den Geheimnissen der Welt. 1983 erschien sein VIELSEITIGER GROSSER RATSCHLÄGER, ein inzwischen in vielen Ausgaben auf sämtlichen Kontinenten verbreitetes Werk. Bis ins Jahr 2001 arbeitete er ohne sichtbare Ermüdungserscheinungen an seiner vierbändigen ENZYKLOPÄDIE FÜR UNERSCHROCKENE LESER, dieser einzigartigen Besichtigung der Wirklichkeit, der Weichheit und Bleichheit, der Geschwindigkeit und Geschmacklosigkeit, Gemütlichkeit und Gefräßigkeit, der Trockenheit, der Feuchtigkeit, der Gelassenheit und Verlassenheit, der Gewöhnlichkeit, der Empfindlichkeit, der Grausamkeit, Einsamkeit, Schamlosigkeit und Bequemlichkeit, vor allem aber der Selbstverständlichkeit aller dieser Erscheinungen. Enzyklopädien sind, wie wir wissen, ihrem Wesen nach unabschließbar. Für Tranchirers Enzyklopädie gilt das nicht. Zweifellos wird er die Welt weiterhin beobachten, aber er wird sich nicht mehr zu ihr äußern. Nach seinen Bemerkungen über die Stille schweigt Raoul Tranchirer. Die ENZYKLOPÄDIE FÜR UNERSCHROCKENE LESER ist abgeschlossen. Ror Wolfs neues Prosabuch ist eine Erstausgabe: Sämtliche Texte und die zahlreichen, teils farbigen Collagen sind bislang unveröffentlicht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2005

Was soll nur werden aus der Welt?
Ror Wolf beendet "Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser"

Wer denkt, es sei nur das Jahr, das heute an sein Ende gelangt, befindet sich in einem Irrtum. Denn es gilt, den Abschluß einer Unternehmung anzuzeigen, die in der deutschen Literatur ihresgleichen nicht kennt: Nach zweiundzwanzig Jahren hat Ror Wolf einen Schlußpunkt unter "Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser" gesetzt. Das ist mehr als bedauerlich, führt es doch unweigerlich zu der Frage, was eigentlich mit der Welt passieren soll, wenn sie nicht mehr von Raoul Tranchirer beobachtet, erforscht, beschrieben und beraten wird. Wir könnten die naheliegende Vermutung, das Ende der Enzyklopädie bedeute auch das Ende der Welt, an dieser Stelle verschweigen, um unsere Leser nicht weiter zu beunruhigen. Aber wir tun es nicht.

Wie hat der Untergang der Welt, wie wir sie durch Raoul Tranchirer kennenlernen durften, ihren Anfang genommen? Im Juli des Jahres 1953 tritt ein Mann aus der Dunkelheit des Anhalter Bahnhofs. Tranchirer erscheint "mit einer Reisetasche auf dem Bahnhofsgelände und sagt, auf den Fußboden deutend: ,Der Fußboden ist die Unterlage unserer täglichen Existenz, auf ihm ruht und bewegt sich das ganze Tagesleben.'" Dieser Satz, so schreibt Ror Wolf weiter in seiner aufschlußreichen Schlußbemerkung zu "Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille", sei "der Beginn einer radikalen Beschäftigung mit den Geheimnissen der Welt" gewesen.

Dieser Angabe zufolge hat es immerhin drei Jahrzehnte gedauert, bis Tranchirer die ersten Ergebnisse seiner Tätigkeit publik machte. "Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt", erschienen 1983, bildete den Auftakt der sechsteiligen Enzyklopädie für unerschrockene Leser. Insgesamt, so wurde errechnet, hat der Wirklichkeitswissenschaftler etwa 1900 alphabetisch geordnete Stichworte zusammengetragen, die eine lehrreiche, erheiternde und verstörende Lektüre abgeben, aber erst im Zusammenspiel mit 650 Collagen Ror Wolfs die Welt kenntlich machen als das, was sie ist: ein Phänomen, das um Form und Haltung ringt, dabei aber allzuwenig Unterstützung erfährt und durch den vorhersehbar heftigen Einfluß des Unvorhersehbaren in ihren Bemühungen immer wieder zurückgeworfen wird. In diesem Sinn sind Tranchirers Weltbeschreibungen Diagnose und Therapie zugleich.

Es gehört zu den Prinzipien dieser Enzyklopädie, daß Aufschluß über eine Sache nicht etwa zu finden ist unter dem Stichwort, das die Sache selbst bezeichnet. Wie eins oft aus dem anderen entsteht und wie oft erst der Umweg zum Ziel führt, so verhilft auch hier in der Regel nur ausgiebige, sich dem Zufall überlassende Lektüre zur Erkenntnis. Immer wieder bestätigt Tranchirer dabei freimütig vom Leser längst gehegte Vermutungen, so etwa, wenn er bekennt, sich zu bestimmten Worten besonders hingezogen zu fühlen. Das Eingeständnis findet sich unter dem zunächst wenig reizvoll klingenden Stichwort "Vorbeischwimmen", wo es dann im weiteren unerwarteterweise tatsächlich ums Vorbeischwimmen geht, nämlich ums Vorbeischwimmen verschiedener Meeresbewohner wie des Vipernfisches, des Hunds-, Schweins-, Schwert-, Schwall-, Schell- und Schleimfisches. Es gibt aber auch namenlose Fische. Am Ende folgt noch ein Bekenntnis: "Ich weiß nicht, ob es das wirkliche, körperliche Vorbeischwimmen ist, das mich in diesem Moment in ein tiefes Schweigen versetzt oder nur das Wort: Vorbeischwimmen."

Wer dem Phänomen des Wortes an sich nachgehen möchte, wird den schönsten Fund in dem 1994 erschienenen Band "Raoul Tranchirers letzte Gedanken über die Vermehrung der Lust und des Schreckens" machen. Dort heißt es unter dem Stichwort "Glanz": "Das Wort soll glänzen, der Glanz des Wortes sollte die Welt verzaubern. Wir vergraben das Wort deshalb nicht in einem düsteren Winkel, sondern stellen es so auf, daß es zu leuchten beginnt. Wer ein persönliches Verhältnis zu seinen Worten hat und sie wie seine Freunde liebt, der wird an ihnen viel Freude haben: bei der Verschönerung seines Feierabends und bei der Verbesserung seiner gesamten Verhältnisse."

Man kann diese schönen Sätze, ein programmatisches Herzstück in dieser Kollektion sorgfältig gearbeiteter Prosaminiaturen, auch in einem soeben erschienenen Taschenbuch nachlesen. Der von Günter Kämpf herausgegebene Band "Raouls Tranchirers Taschenkosmos" versammelt nicht nur zahlreiche Einträge aus verschiedenen Bänden der Enzyklopädie sowie 24 Collagen, sondern enthält auch die Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage, wann das Ende komme und wie es wohl aussehen werde.

Diese Antwort findet sich naturgemäß nicht unter dem Stichwort "Ende", sondern unter dem Stichwort "Erde". Dort heißt es: "Ich muß gestehen, daß ich zur Zeit eine vollständig befriedigende Antwort auf die Frage, wie lange die Erde noch existieren wird, nicht geben kann . . . Scheizhofer hat die Ansicht vertreten, daß es die Erde schon längst nicht mehr gebe, daß sie vielmehr nur mehr eine kugelförmige Erinnerung sei, eine Gedankenblase, wie Scheizhofer es ausdrückt. Diese Ansicht hat sich aber nicht halten lassen und ist in letzter Zeit ebenso in Vergessenheit geraten wie Scheizhofer."

Welche Ansicht Tranchirer selbst über das Ende der Welt, also das Ende der Enzyklopädie, vertritt, sei hier aus Rücksicht auf zartere Gemüter nicht verraten. Im nächsten Jahr aber, so steht zu befürchten, werden wir ohnehin wieder mehr über diese und andere Angelegenheiten erfahren, als uns lieb sein dürfte. Womöglich aber wird alles auch gar nicht so schlimm. Denn vielleicht zieht die Welt die logische Konseqeunz aus dem Abschluß der Enzyklopädie und bleibt einfach in dem unhaltbaren Zustand, in dem Tranchirer sie beschrieben hat. Das wäre wohl für alle das Beste.

Ror Wolf: "Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille". Mit zahlreichen Collagen des Autors. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2005. 157 S., geb., 19,90 [Euro].

Ror Wolf: "Raoul Tranchirers Taschenkosmos". Mit 24 Collagen des Autors. Zusammengestellt und mit einem Nachwort herausgegeben von Günter Kämpf. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005. 123 S., br., 10,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Die Rezensentin Maja Rettig macht um ihre Begeisterung keinen Hehl: Ror Wolf hat wieder nicht Wort gehalten, ist wieder nicht verstummt, sondern hat wieder zugeschlagen, und man kann sich darüber nur freuen. Texte und Bilder, so Rettig, sind in diesem sechsten Band von Wolfs "Anti-Enzyklopädie" nicht aufeinander bezogen und erinnern in ihrer Koexistenz nur ironisch an "dieses doppelte enzyklopädische Prinzip der Welterklärung". Gemeinsam sei ihnen das autoritäre Zeigen, allerdings dem hehren Ziel untergeordnet, Unordnung in die Ordnung in den Köpfen zu schaffen. Und so werde in hochfahrendem Ton "Abwegiges, Nichtiges oder gar nichts" verkündet. Das Vergnügen rühre von der "komische Absurdität" des "Nebeneinanders unvereinbarer Realitäten oder surrealistischer Irrealitäten". Eins, so die Rezensentin, sei jedoch klar: "Es existiert nichts außerhalb des Textes. Die Welt wird radikal durch Sprache erzeugt und entzogen." Schließlich glaubt die Rezensentin in diesem sechsten Band "eine Sehnsucht nach dem Verstummen" vernommen zu haben. Man kann nur hoffen, so ihr Fazit, dass Ror Wolf wieder wortbrüchig wird.

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»Es gilt den Abschluß einer Unternehmung anzuzeigen, die in der deutschen Literatur ihresgleichen nicht kennt (...).« Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung »Der Leser ist aufs Neue beglückt und ruft nach einer Zugabe, schenkt Collunder keinen Glauben, der im Schlusswort das unwiderrufliche Ende von Tranchirers Welterklärungen verkündet.« Maja Rettig, taz Platz 8 der ORF-Bestenliste im August 2005. »Ror Wolf ist erkenntnistheoretisch gewitzt ein Meister aus Kafkanien. In den Spuk- und Schreckenskammern darf das Publikum sich an den eigenen Zivilisationsneurosen und Urängsten delektieren« Michael Kohtes, Die Zeit »Tranchirers Enzyklopädie sei 'abgeschlossen', läßt Ror Wolf dreizehn Mitarbeiter schreiben. Wir hoffen das Gegenteil (...).'« Michael Schweizer, Berliner Zeitung »Ror Wolf ist - wie alle Surrealisten - auch ein Chronist unserer Welt, der mit scharfem Auge die Abgründe einer nur scheinbar festgefügten Realität aufzeigt. Vorzüglich.« Kai U. Jürgens, Kieler Nachrichten