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Unruhig sitzt der alte Mann in der Küche seines Hauses, er scheint auf etwas zu warten, fast erdrückend ist die Spannung, die sich um ihn herum aufbaut. Seine Unruhe hält an, als er aufbricht, um »noch ein paar Dinge zu erledigen.« Er geht durch sein Dorf, macht Besuche, durchwandert die umliegende Landschaft, an einem warmen, windigen Oktobertag. Es ist die Zeit der Herbstmanöver. Eine unbestimmte Furcht zieht sich durch Pauls Wahrnehmungen, und mehrmals nimmt er Haltung an, so »als müsse er sich vor jemandem zeigen.« Warum schreckt er immer wieder auf?Paul ist ein schweigsamer Mann: Mit G.,…mehr

Produktbeschreibung
Unruhig sitzt der alte Mann in der Küche seines Hauses, er scheint auf etwas zu warten, fast erdrückend ist die Spannung, die sich um ihn herum aufbaut. Seine Unruhe hält an, als er aufbricht, um »noch ein paar Dinge zu erledigen.« Er geht durch sein Dorf, macht Besuche, durchwandert die umliegende Landschaft, an einem warmen, windigen Oktobertag. Es ist die Zeit der Herbstmanöver. Eine unbestimmte Furcht zieht sich durch Pauls Wahrnehmungen, und mehrmals nimmt er Haltung an, so »als müsse er sich vor jemandem zeigen.« Warum schreckt er immer wieder auf?Paul ist ein schweigsamer Mann: Mit G., seiner Frau, und den Nachbarn Dr. Frost und Professor Schneider wechselt er nur wenige Worte. Welches Verhältnis hat er zu Ingeborg, der alten Freundin, die er bei Einbruch der Dunkelheit aufsucht?Was denkt Paul? Auch der Erzähler scheint darüber zu schweigen. Am Ende dieses außergewöhnlichen Tages wird Paul zur Rede gestellt.
Autorenporträt
Arne Roß, geboren 1966 in Hamburg, lebt in Berlin, wo er als Schriftsteller und Leiter von Schreibwerkstätten arbeitet. 1999 erschien sein Roman Frau Arlette, für den er den Preis für das beste deutschsprachige Debut der Süddeutschen Zeitung erhielt. Der Anfang von Pauls Fall wurde bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2004 in Klagenfurt mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2006

Der Tod ist ein Skandal
Exemplarisch: Arne Roß erzählt vom Sterben eines Greises

Das Ungeheuerlichste, von dem die Literatur erzählen kann, ist das Sterben. Noch ungeheuerlicher wird es, wenn ausgerechnet die Hauptfigur stirbt, weil man sich mit ihr als Leser schnell identifiziert und mit dem Helden zwangsläufig auch seine Geschichte aufhört. Der Leser ist geschockt, und diesen Schockeffekt haben viele Autoren, die über das Sterben geschrieben haben, genutzt. Man denke etwa an Margaret Edsons preisgekröntes Theaterstück "Geist", in dem die krebskranke Hauptfigur Vivian Bearing dem Publikum gleich zu Anfang entgegenschleudert: "Ich habe nicht vor, die Handlung zu verraten, aber am Ende sterbe ich wohl." Edsons todgeweihte Englischprofessorin steht für viele tragische Helden der Literaturgeschichte, die um ihr Sterben wissen, sich dagegen aufbäumen und es doch nicht verhindern können.

Das Ringen mit dem Tod ist die letzte, große Prüfung des Menschen. Was aber, wenn das Sterben viel unspektakulärer, unheroischer und gar nicht so bewußt abliefe? So wie bei Paul, dem kauzigen alten Mann aus Arne Roß' zweitem Roman, dessen Anfangskapitel vor zwei Jahren in Klagenfurt ausgezeichnet wurde. Die Juroren erkannten darin eine eindringliche Studie über das Altern. Tatsächlich aber ist Pauls Fall ein Buch über das Sterben. Denn schließlich geht es darin um einen Tag im Leben eines Rentners, der - das ahnt man früh - sein letzter sein wird.

Es ist Montag, der 20. Oktober. Ein schöner Herbsttag, wahrscheinlich des Jahres 1986, als das Kernkraftwerk in Tschernobyl explodierte. Zumindest ist im Buch einmal von einem Atomunfall die Rede. Aber Daten und weltpolitische Ereignisse haben für den bereits senilen Paul sowieso keine Bedeutung mehr. Seine verlangsamt-regressive Existenz wird von banalen Riten und Marotten bestimmt, mit denen er sich notdürftig die Zeit vertreibt.

Schon morgens sitzt Paul stundenlang am Küchentisch, um Zeitungsartikel mit Kugelschreiber zu unterstreichen. Sein Blick schweift immer wieder ab, mal zur Küchenuhr, mal zum Fenster. Völlig in sich versunken, vergißt er fast, einen Kuchen seiner Frau rechtzeitig aus dem Ofen zu holen, die im Buch nur "G." genannt wird: "Als G. heimkam, saß er immer noch am Küchentisch und schaute aus dem Fenster, er sah aus, als habe er geschlafen, sein Haar zerzaust, sein Hemd hing aus der Hose. Was machst du da, fragte sie. Er reagierte nicht. Er ließ sie reden."

Paul schweigt nicht nur an dieser Stelle. Er ist eher ein Voyeur als ein Akteur seines Lebens und damit das genaue Gegenteil zur lebenslustig-schwatzhaften "Frau Arlette" aus Roß' erstem Roman, die sich selbst noch mit einundachtzig Jahren, noch dazu blind und brustamputiert, in eine wilde Liebesaffäre stürzte. Paul hingegen hält sich am liebsten aus allem heraus, eine Haltung, die mit einer Erzählperspektive korrespondiert, die stets distanzierte Beobachtung bleibt. Das ist sozusagen der entscheidende Kniff in "Pauls Fall": So räumlich nah dieser Erzähler dem Rentner auch steht, so fern-teilnahmslos bleibt er doch dessen Schicksal gegenüber.

Akribisch listet er zwar in quasi-detektivischer Manier jeden Schritt und jede Verrichtung des alten Mannes auf. Eine Erklärung aber, einen Kommentar liefert er ebensowenig wie Einblicke in Pauls Gedanken und Gefühle. Damit jedoch fehlt in dieser Chronik eines Seniorentodes das, was Sterbegeschichten normalerweise ausmacht - reuevolle Rückblicke, reflektierende Bilanzen, kurzum: jene Rituale eines Abschieds, die den Verlust des Lebens erst faßbar und erträglich machen. In "Pauls Fall" muß der Leser sich alles selbst zusammenreimen. Wer ist dieser Alte überhaupt? Was macht ihn so besonders? Auf den ersten Blick: gar nichts.

Von seiner Frau beauftragt, den Kuchen beim Nachbarn vorbeizubringen, bummelt Paul durch die Neubausiedlung, den Wald und über Kuhweiden. Er erschreckt sich beim Donnern von Bundeswehr-Tieffliegern und besucht schließlich nicht nur den Nachbarn, sondern auch noch eine alte Freundin namens Ingeborg, die wahrscheinlich einmal mehr als nur eine Freundin war. Das alles liest sich wenig überraschend, wie das normal-banale Rentnerleben - gäbe es nicht doch einige Merkwürdigkeiten, die gewisse Abgründe in Pauls Charakter erahnen lassen: Sobald Paul beispielsweise den Kuchen in Händen hält, hat er nichts Eiligeres zu tun, als das für den Nachbarn bestimmte Gebäck heimlich selbst aufzuessen. "Er brach noch ein Stück Kuchen ab, legte es auf die Zunge, so langsam und bedächtig, daß es schien, als wolle er keinen Bissen vergessen. Er leckte seine Fingerspitzen ab." Nach schlechtem Gewissen klingt das nicht. Als Paul kurz darauf vom krebskranken Hund des Nachbarn beschnuppert wird, versetzt er diesem unbemerkt einen Tritt, so daß der Hund bald röchelnd in der Ecke liegt.

Je länger man liest und je genauer man den Tagesablauf dieses unscheinbaren Rentners betrachtet, desto mehr entdeckt man darin eine kindliche Grausamkeit, derer sich Paul allerdings offenbar selbst gar nicht immer bewußt ist. Seinem Nachbarn hört er beim Kaffeeplausch nicht zu. Für seine Freundin Ingeborg, die sich bei einem Fahrradunfall den Arm gebrochen hat, hat er kein Wort des Trostes parat. Und auf ihre Aufforderung, ihr etwas Nettes auf den Gips zu schreiben, fällt ihm dann nur "Alles Gute, Paul" ein. Und "G.", seine Frau? Auch sie hat unter Pauls Anwandlungen zu leiden. Während sie sich beim Abendessen mit einer Freundin unterhält, schaltet er direkt neben ihr das Radio ein. Als er Tee verschüttet, herrscht er sie an: "Warum machst du meine Tasse so voll?" Diese Ausfälle wirken um so beunruhigender, als man nie recht weiß, ob sie sich nun Pauls Senilität oder vielleicht doch boshafter Absicht verdanken. Man weiß nie, ob man bei ihm besser lachen oder weinen soll.

Dieser grantig-unkontrollierte Greis scheint jedenfalls mit dem Bild, das wir uns von einem reifen, gealterten Menschen machen, der im Angesicht des Todes seinen Frieden findet, wenig zu tun zu haben. Auf die Kunst des Sterbens versteht er sich nicht. Paul wirkt wie jemand, den das Alter bereits dermaßen derangiert hat, daß er weder richtig leben noch richtig sterben kann. Die Memento-mori-Zeichen, die seinen letzten Lebenstag durchziehen, bleiben ungedeutet. Gleich zweimal beobachtet Paul auf seiner Wanderung einen Fast-Autounfall. Außerdem schlägt der anfängliche Sonnenschein ebenso plötzlich wie symbolträchtig in schattiges Herbstwetter um. Und dann hat er auch noch dauernd "so ein Kribbeln im Arm": Signal für einen bevorstehenden Schlaganfall. Doch genauso hilflos und nachlässig, wie Paul mit seinen Mitmenschen umgeht, begegnet er auch seinem eigenen Schicksal. Der Tod ereilt ihn auf eine Weise, die in allen Religionen von alters her als größter Schrecken des Menschen gilt: als mors repentina, als völlig unvorhergesehener Tod, der die Möglichkeit zur Rückschau nicht mehr bietet.

GISA FUNCK

Arne Roß: "Pauls Fall". Roman. Schöffling und Co. Verlag, Frankfurt 2006. 192 S., geb., 18,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Christoph Schröder gibt zwei Warnungen zu Arne Ross' Roman "Pauls Fall" aus. Er mute seinem Leser viel zu, weil darin nichts geschieht. Man beobachtet einen alten Mann einen Tag lang, begleitet ihn beim Kuchenessen, Zeitunglesen und Spuckefaden-Ignorieren. Und doch, das ist die zweite Warnung, sollte man sich davon nicht abschrecken lassen: "in diesem Buch geschieht unheimlich viel". Arne Ross habe die Fähigkeit, die Zeit zu dehnen, bis man es kaum noch erträgt. Ihm gelinge es, den Leser von einer positiven, weil mitleidgeprägten Haltung gegenüber dem Alten hin zu einer Skepsis zu führen, die sich erst nach und nach bemerkbar macht. Dies geschieht, so der Rezensent, indem Ross einen "Schwebezustand" in seinem Roman aufrecht erhält, hinter dem der Leser eine permanente Gefahr vermutet. Des Autors Romanheld sei zwar in keiner Weise interessant, aber er befindet sich "am Rande des Abgrundes", und das, so meint der Kritiker, macht ihn dann doch reizvoll. Die "äußerst kunstvolle Art", in der Ross erzählt, bringt eine "unheilvolle Endzeitstimmung und atmosphärische Aufgeladenheit" in den Roman, der so zum "Erlebnis" wird.

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