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Produktdetails
  • Verlag: Jonas Verlag
  • 2000.
  • Seitenzahl: 168
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 398g
  • ISBN-13: 9783894452681
  • ISBN-10: 3894452684
  • Artikelnr.: 08989075
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2001

Die Entstehung des Films aus dem Geist der Passion
Vom Rosenkranz zum Daumenkino: Jörg Jochen Berns führt die bewegten Bilder auf Strategien bewegender Innenschau zurück

Die These sollte kühn genug klingen, um den Leser mühelos durch einen Essay von hundertdreißig Seiten zu ziehen. Die Techniken des bewegten Bildes, schreibt der Marburger Germanist Jörg Jochen Berns, allen voran Film und Fernsehen, entstanden "aus Versehen". Sich "versehen" heißt hier, der ursprünglichen Verwendung des Wortes entsprechend: einem Anblick zu verfallen. Noch bevor der Autor sich anhand von typischen Darstellungsmustern und Projektionsverfahren des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit der Vorgeschichte filmischer Wahrnehmung zuwendet, steht im Raum, daß er das Aufkommen der laufenden Bilder für eine Art Unfall der Mediengeschichte hält. Vielleicht sogar für ein Unglück.

Von einem gewissen Zeitpunkt an, so mutmaßt Berns, hat die Faszination für bewegliche technische Bilder gerade das geschwächt und zurückgedrängt, was diese Bilder ursprünglich in Gang setzen und steuern sollten: die Tätigkeit der Vorstellungskraft, den Fluß der Imagination. Die Aufmerksamkeit des Autors gilt eben diesem "inneren Film", den er dem "äußeren" gegenüberstellt. Ohne den "Imaginationsfluß hinter unseren Augen", so die Ausgangsposition des Essays, bleibt auch der Bilderstrom vor den Augen unverständlich. Daher hat der "äußere Film" sich auf die Gesetze des "inneren" einzustellen. Umgekehrt steht die Imagination seit jeher unter dem Einfluß von Strategien, die sie lenken und begrenzen sollten.

Als aus der Art geschlagene Erben solcher Strategien betrachtet der Autor Kino und Fernsehen. Nicht um Technikgeschichte geht es also in diesem Beitrag zur Praecinema-Forschung, sondern um Wahrnehmungs- und "Seelengeschichte". Da der Angelpunkt dieses Ansatzes, der "innere Film", aber allenfalls indirekt zugänglich ist, rücken letztlich doch "äußere" Instrumente in den Vordergrund: Bilder und Bildfolgen, die zur "Imaginationssteuerung" eingesetzt wurden und auf den so gegensätzlichen Feldern der religiösen Andacht und des militärischen Drills einem "exercitium von Leib und Seele" dienten. Zwei Bildtypen und der Wandel ihrer Ordnungsprinzipien sollen den Einfluß der gelenkten Imagination auf den Film vor Augen führen.

Das Grundmuster der seit dem vierzehnten Jahrhundert in ganz Europa verbreiteten Arma-Christi-Ikonographie besteht im Wechselverhältnis einer zentralen Figur - ursprünglich des gekreuzigten oder seine Wunden präsentierenden Christus - mit einer Reihe von ringsum angeordneten Symbolen der Passion (der "Waffen" oder "Wappen" Christi). Indem der Betrachter diese Merkzeichen auf das Hauptmotiv bezieht, kann er sich in beliebiger Reihenfolge die Stationen der ihm bekannten Leidensgeschichte vergegenwärtigen. Diese Offenheit der Rezeption wird jedoch zunehmend eingeschränkt, indem die ursprünglich frei umherschwirrenden Symbole eingefangen und in Bildzeilen oder Bildrädern miteinander verknüpft werden.

Berns vermutet einen Zusammenhang mit dem Rosenkranz und anderen im fünfzehnten Jarhundert aufkommenden "Gebetszählgeräten", welche die Phantasie des Andächtigen an die Kette legen sollten, damit der Teufel sie nicht auf Abwege führe. Der Rosenkranz ist rund, damit das Denken nicht die Richtung ändern kann. Ähnlicher Methoden bedienen sich auch die Andachtsbilder, um den imaginativen Spielraum ihrer Betrachter zu begrenzen. Nicht selten geschieht dies in deutlich zur Schau gestellter Analogie.

Eine klare Tendenz zur sequentiellen Ordnung zeichnet auch die Ikonographie der Arma hominis aus: Fecht- oder Kriegsbücher demonstrieren in Bildfolgen die Handhabe von Waffen oder illustrieren die Kunstgriffe des Zweikampfs bis in einzelne Bewegungsphasen hinein. Zu den Techniken der Projektion und der Bewegungsillusion ist es von dort aus nur noch ein kleiner Schritt. Projektionsapparate wie das "Smicroscop" des Jesuitenpaters Athanasius Kircher oder die Laterna magica des Johannes Zahn verwandeln in der zweiten Hälfte des siebzehnnten Jahrhunderts "das fromme Subjekt" in ein "Objekt des Bildbeschusses". Von nun an hat der Betrachter genug damit zu tun, mit "äußeren" Bildern Schritt zu halten, die meditative Hervorbringung "innerer" Bilder ist aus dem Rezeptionsakt verbannt.

Daß der Film nicht allein ein Erbe jener visuellen Neuentdeckung der empirischen Welt ist, die für die Frühe Neuzeit oft genug beschrieben wurde, sondern auch auf Strategien der Innenschau zurückgeht, legt Jörg Jochen Berns anschaulich dar. Schlußfolgerungen für eine gegenwartsbezogene "Medienkritik als Wahrnehmungskritik" bleiben dagegen nur angedeutet. Die bedenkliche Aufspaltung in eine "Fern-" und "Nahethik", auf die Berns hinweist, hängt, wie er selbst schreibt, nur indirekt mit der Entwicklung des Films zusammen. Und das Verschwinden der Kontemplation vor der Leinwand hat schon Walter Benjamin 1936 in seinem Aufsatz "Über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" diagnostiziert. Benjamin wußte sogar zu sagen, wie die Zerstreuung des Kinozuschauers sich als glückliche Errungenschaft deuten läßt.

FRANK KASPAR

Jörg Jochen Berns: "Film vor dem Film". Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Jonas Verlag, Marburg 2000. 168 S., 56 Abb., geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die These des Buches wiederholt der Rezensent Frank Kaspar gleich mehrmals. Das Medienereignis Film zurückzuführen auf Darstellungsmuster und Projektionsverfahren des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit und es so zu einer Art Unfall der Mediengeschichte zu degradieren, erscheint ihm mächtig kühn. Allerdings fehlt es dem Autor wohl nicht an Überzeugungskraft. Frank Kaspar nämlich konzentriert sich im folgenden seiner Besprechung ganz auf die staunende Wiedergabe der dargelegten Positionen: Die im Band vorgestellte Analogie etwa zwischen dem "inneren Film" des Imaginationsflusses, hervorgerufen beispielsweise durch die sequentielle Ordnung christlicher Ikonographie, und den Techniken der Projektion und der Bewegungsillusion. "Dass der Film nicht allein ein Erbe jener visuellen Neuentdeckung der empirischen Welt ist", schreibt Kaspar, lege der Autor anschaulich dar.

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