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Wie verwandelte sich die deutsche Wissenschaft im Übergang vom Nationalsozialismus in die zweite deutsche Demokratie? Die Geschichtswissenschaft streitet seit einigen Jahren über den Werdegang führender Historiker, deren frühere Nützlichkeit später mit Schweigen übergangen wurde. Der vorliegende Band begnügt sich nicht mit moralischen Urteilen über Schuld und mangelnde Bewältigung. Vielmehr geht er davon aus, daß die Erfahrung der professionellen Selbstmobilisierung vor 1945 in allen Disziplinen konstitutiv für die Ausrichtung auf eine neue wissenschaftliche Zukunft gewesen ist.…mehr

Produktbeschreibung
Wie verwandelte sich die deutsche Wissenschaft im Übergang vom Nationalsozialismus in die zweite deutsche Demokratie? Die Geschichtswissenschaft streitet seit einigen Jahren über den Werdegang führender Historiker, deren frühere Nützlichkeit später mit Schweigen übergangen wurde. Der vorliegende Band begnügt sich nicht mit moralischen Urteilen über Schuld und mangelnde Bewältigung. Vielmehr geht er davon aus, daß die Erfahrung der professionellen Selbstmobilisierung vor 1945 in allen Disziplinen konstitutiv für die Ausrichtung auf eine neue wissenschaftliche Zukunft gewesen ist.
Wissenschaftliche Innovationen entwickelten sich dabei nicht einfach aus der politischen Abkehr vom Nationalsozialismus oder dem intellektuellen Anschluß an den Westen, sondern in komplizierten Übertragungsprozessen, die hier an Beispielen aus dem Bereich der Soziologie und Ökonomie, Geschichte und Philosophie, Pädagogik und Germanistik, Psychiatrie und Humangenetik sowie der Atomphysik untersucht werden.
Autorenporträt
Bernd Weisbrod, geb. 1946, ist seit 1990 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen; Gastprofessuren an der Hebrew University of Jerusalem. Rutgers University (USA), New School University New York und am Magdalen College Oxford. Er ist Vorsitzender des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2002

Persilscheinkultur
Deutsche Professoren: Wie Mittäter zu Opfern wurden
Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 bedeutete für viele Institutionen ein unrühmliches Ende. Die Reichsregierung wurde aufgelöst, die NSDAP verboten, die Wehrmacht liquidiert, das Land besetzt, große Teile abgetrennt, den Verantwortlichen der Prozess gemacht. Man sprach von einer Stunde Null. Ein demokratisches Deutschland sollte entstehen, und zu diesem Zweck sollten die Deutschen entnazifiziert und umerzogen werden.
Heute weiß man, dass diese von den Alliierten begonnenen und schon bald in deutsche Hände übergebenen Maßnahmen gescheitert sind und scheitern mussten. Denn wichtige staatstragende Institutionen wie die Kirchen, der Justiz- und Verwaltungsapparat und die Universitäten samt den dazugehörigen Forschungsförderungseinrichtungen blieben ungeschoren. Ihre Vertreter wiesen Schuld von sich, indem sie argumentierten, es habe nur wenige schwarze Schafe in ihren Reihen gegeben, wofür die Gesamtheit nicht haftbar gemacht werden dürfe.
Der vorliegende Sammelband beschreibt in dreizehn Beiträgen anhand unterschiedlicher Fallbeispiele die Rituale, Verdrängungsmechanismen und diskursiven Strategien, mit denen nach 1945 Kontinuität hergestellt wurde. Es geht vorab um Geisteswissenschaftler, sodann um Kernphysiker und Psychiater. Ziel ihrer Bemühungen war es, Vorwürfe zurückzuweisen und gleichzeitig Rechtsfrieden herzustellen. Hermann Lübbe hat dies später für sozialpsychologisch und politisch notwendig erklärt: Für den Übergang (West- )Deutschlands von der Nazidiktatur zu einer westlichen Demokratie sei das notwendig gewesen. Somit war eine Mohrenwäsche zwangsläufig, denn die genannten Institutionen wurden zur Selbst-Entnazifizierung aufgerufen, wobei zu bedenken ist, dass Juristen, Theologen und Hochschulprofessoren über jeweils eigene Exkulpations- und Erklärungsrhetoriken verfügen.
Die meisten Beiträge befassen sich jedoch nicht mit der „Persilscheinkultur”, sondern mit der Transformation wissenschaftlicher Sachverhalte, die in der NS-Zeit publiziert worden waren und nun einem demokratisch verfasstes Gemeinwesen angepasst werden sollten. Das Ergebnis waren nomenklatorische Retouchen und Uminterpretationen, mitnichten ein Neubeginn. Aus der Rassenhygiene wurde die Humangenetik (Otmar von Verschuer), aus der Ostforschung die Sozialgeschichte (Werner Conze), aus der Moderne- und Nihilismuskritik eine Kritik am Nationalsozialismus (Martin Heidegger), aus der Nationalpädagogik ein Appell zu Bürgertugend und Sittlichkeit (Herman Nohl), aus der Kernspaltungsphysik eine unpolitische Grundlagenforschung (Werner Heisenberg, Otto Hahn).
Das restaurative Klima der Adenauerzeit sorgte dafür, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Ost-West-Konflikt für gravierender hielt als die NS-Verbrechen. Bei Neuberufungen an den Universitäten standen auf der Prioritätenliste der Rektoren die aus den Ostgebieten vertriebenen Professoren und die wegen Mitgliedschaft in NS-Organisationen ihrer Ämter entsetzten Hochschullehrer ganz oben vor den Exilierten. Letztere ließ man spüren, dass man sie nicht wirklich wiederhaben wollte. So wurden nur wenige Emigranten zu Remigranten, und viele verzichteten darauf, innovative Denkansätze, die sie aus ihren Zufluchtsländern mitgebracht hatten, zu verbreiten. Als Störenfriede wollten sie nicht auffallen (beispielhaft für diese Haltung war Helmuth Plessner). Dem Herausgeber Bernd Weisbrod unterläuft die Formulierung, dass der Entnazifizierung in Niedersachsen ein Drittel der Hochschullehrerschaft „zum Opfer fiel”. Der Begriff ist symptomatisch: das beste Mittel der Rehabilitation bestand damals darin, die Mittäter zu Opfern zu stilisieren, damit man sich mit den wirklichen Opfern nicht ernsthaft befassen musste.
Man sollte diesen vorzüglich komponierten und lektorierten Band in einem Zuge lesen, um den Ideen- und Fintenreichtum deutscher Professoren zu bewundern, die alle einmal angetreten waren, um der Wahrheit zu dienen, und hernach nicht vor Fälschungen und Lügen zurückschreckten, um ihre Verantwortung zu minimieren und ihren früheren Mandarin-Status wiederzugewinnen.
FRANK-RUTGERHAUSMANN
BERND WEISBROD (Hrsg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit. Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 288 Seiten, 39,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die Umerziehung und Entnazifizierung der Deutschen nach 1945 scheiterte auch deshalb, weil wichtige staatstragende Institutionen wie die Kirchen, der Justiz- und Verwaltungsapparat und die Universitäten samt Forschungsförderungseinrichtungen ungeschoren blieben, notiert Rezensent Frank-Rutger Hausmann in seiner Besprechung des von Bernd Weisbrod herausgegebenen Sammelbandes "Akademische Vergangenheitspolitik". Wie Hausmann ausführt, beschreibt der Band in dreizehn Beiträgen anhand von unterschiedlichen Fallbeispiele die Rituale, Verdrängungsmechanismen und diskursiven Strategien, mit denen nach 1945 Kontinuität hergestellt wurde. Er hebt hervor, dass neben der "Persilscheinkultur" insbesondere die Anpassung wissenschaftlicher Sachverhalte, die in der NS-Zeit publiziert waren, an das nun demokratisch verfasste Gemeinwesen, thematisiert werden. "Man sollte diesen vorzüglich komponierten und lektorierten Band in einem Zuge lesen", empfiehlt der Rezensent abschließend, "um den Ideen- und Fintenreichtum deutscher Professoren zu bewundern, die alle einmal angetreten waren, um der Wahrheit zu dienen, und hernach nicht vor Fälschungen und Lügen zurückschreckten, um ihre Verantwortung zu minimieren und ihren früheren Mandarin-Status wiederzugewinnen."

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