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Negts Buch, erschienen 1995, ist noch immer aktuell - nein, viel mehr: Es ist zum Klassiker geworden. Oskar Negt sucht geduldig nach den verzweigten Wirkungen von Achtundsechzig, folgt den Spuren der politischen Intellektuellen und ihren Antriebskräften. Als Begleiter der Protestbewegung bewahrt er die nötige Distanz, aus der heraus er sie zugleich kritisch befragt und leidenschaftlich verteidigt.

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Produktbeschreibung
Negts Buch, erschienen 1995, ist noch immer aktuell - nein, viel mehr: Es ist zum Klassiker geworden. Oskar Negt sucht geduldig nach den verzweigten Wirkungen von Achtundsechzig, folgt den Spuren der politischen Intellektuellen und ihren Antriebskräften. Als Begleiter der Protestbewegung bewahrt er die nötige Distanz, aus der heraus er sie zugleich kritisch befragt und leidenschaftlich verteidigt.
Autorenporträt
Oskar Negt, geboren 1934, studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Soziologie, vor allem bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, und war Assistent bei Jürgen Habermas. Seit 1970 ist er Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Hannover. Zahlreiche Veröffentlichungen. 2011 wurde Oskar Negt mit dem "August-Bebel-Preis" für sein Lebenswerk gewürdigt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.1998

Kritische Theorie revisited
Lacht kaputt, was euch kaputt lacht Oder Wie sich die Welt fühlt

Oskar Negt: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1998. 416 Seiten, 25,- Mark.

Rolf Uesseler: Die 68er: "Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" APO, Marx und freie Liebe. Heyne Buch Nr. 19/564. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998. 368 Seiten, Abbildungen, 16,90 Mark.

Paul Bermann: Zappa meets Havel. 1968 und die Folgen. Eine politische Reise. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Maass. Rotbuch Verlag, Hamburg 1998. 300 Seiten, 38,- Mark.

Michael Ruetz: 1968. Ein Zeitalter wird besichtigt. Mit Texten von Rolf Sachsse. Henryk M. Broder und Michael Ruetz. Zweitausendeins 1997. 387 Seiten, 350 Fotos, 55,- Mark.

1968. The melody haunts my reverie. Der 27 Jahre alte Orchestermusiker zum Beispiel sagt, als er die Musik von "Velvet Underground" 1994 zum ersten Mal hört (sic!), die klinge "irgendwie so 68mäßig", und der katholische Assistenzarzt, der später einmal Psychoanalytiker werden möchte, antwortet auf die Frage nach seinem Alter: "Revolutionsjahrgang! Vom feinsten!" Rührend trotzig wettert der damals zwanzigjährige hiergegen an: "Warum reden alle immer von ,Alt-68ern'? Ich bin 68er!" Wenn die Diskussion an diesem Punkt angelangt ist, sage ich gerne: "Und ich wurde 68 eingeschult!" Vielleicht erzähle ich dann noch, wie mir im Sommer davor die Mandeln entfernt wurden; und daß ich das erzähle, ist wohl ein Beleg für die Privatisierung des Politischen, die statt der Politisierung des Privaten stattfand, wenn ich Oskar Negt richtig verstanden habe.

So schaut's draußen im Lande aus - und drinnen in den Büchern: 68 ist ein Topos aus der Sagenwelt, aber jeder versteht etwas anderes darunter. Was damals eigentlich passiert ist, weiß keiner. Zum Beispiel wurden Paul Bermann zufolge 68 gleich vier Revolutionen ausgelöst, während Rolf Uesseler meint, die 68er hätten noch nicht einmal eine Kulturrevolution gewünscht. Und für Oskar Negt ist 68 ein "mittlerweile verwildertes Landschaftsgemälde". Der vom "Spiegel" einst volkstümlich "APO-Philosoph" titulierte Negt ist so eng mit der damaligen Bewegung verbunden, daß er heute "im Zorn und gegen das Vergessen" schreiben kann, gegen den Opportunismus, "die eigentliche Geisteskrankheit der Intellektuellen". Weil er nicht an dieser Krankheit leidet, hat Negt "bewußt ein Erscheinungsdatum gewählt, das sich querlegt"; das Buch erschien bereits 1995 bei Steidl. Sich querlegen ist allerdings verboten, solange die meisten Verlage an dieser Geisteskrankheit leiden, weswegen es Zweitausendeins jetzt mit korrekter Jubiläumszahl neu auflegt.

Negt schreibt keine Veteranen-Memoiren, sondern er führt vor, wie man mit Hilfe der kritischen Theorie die Welt betrachten kann, die damalige wie die heutige. Sein Instrumentarium hält Negt weiterhin für das richtige, nur nicht unbedingt die Prognosen seiner alten Texte, von denen einige hier wieder abgedruckt werden, was einen authentischen Eindruck davon vermittelt, womit sich die Intelligenz damals herumschlug. Negts Buch ist eine Zeitreise - kritische Theorie revisited.

Bei der Lektüre fielen mir die Zeilen aus Brechts "Kinderhymne" ein: "Und weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir's" - dieses Bedürfnis, "sein Land" zu "verbessern", das für mich genauso entfernt klingt wie "Uns ist in alten mæren wunders vil geseit", scheint für Negt ganz selbstverständlich, und so kann er am Ende seines Buches "eine Art politische Verhaltenslehre" aufstellen. Er nimmt seine pädagogischen Pflichten als Universitätsprofessor und Grundschulgründer nämlich ernst. Und es geht sehr ans Herz, daß da jemand Hilfestellung zum richtigen Leben anbietet und seine kraft Alter und Hirn gewonnenen Erkenntnisse in "zehn Empfehlungen" durchnumeriert weitergibt. Ein aus dem Geist von 68 gespeister handfester Beitrag zum geistigen Leben also, und das ist mehr, als man von den meisten Büchern sagen kann.

Rolf Uesselers Buch dagegen ist nicht theoretisch. Es ist ein Beitrag zur Geschichte des Studentenlebens, wohl vor allem für Erstsemester gedacht, wie der Titel vermuten läßt: "Die 68er: ,Macht kaputt, was Euch kaputt macht!' APO, Marx und freie Liebe". Was folgt, ist dann allerdings gar nicht reißerisch, sondern eine sauber gearbeitete Abhandlung vor allem über die Berliner Studentenbewegung, wobei Uesseler in erster Linie aus zeitgenössischen Schriften kompiliert, wie äußerst autoritär der Staat damals war, daß die von Naziprofessoren durchseuchten Universitäten die letzte Bastion des Feudalismus bildeten und die "sozial und grundrechtlich deklassierten" Studenten, laut Werner Maihofer "Proletariat", sich dessen "im Unterschied zu den Arbeitern" aber bewußt waren. Das zu belegen, folgt ein hammerhartes Zitat aufs nächste, und eine kleine Ahnung von Freiheit, Glück und Sinnlichkeit vermittelt nur das Kapitel über "the movement" in den Vereinigten Staaten, wo es nicht nur die originalen Hippies, Yippies ("Do it!") und Weathermen gab, sondern der Aufruhr an den Universitäten auch noch mit einem Zitat aus Thomas Pynchons Roman "Vineland" geschildert werden kann. Einen Chronisten dieser Qualität hat unser kleines Land nun nicht zu bieten, dafür aber das originale Nazitum mit echten Mördern und Eichmännern, wovon nur saubere Theoriebildung erlöst - mögen sich die angehenden Geisteskoryphäen damals gedacht haben, als sie bei Oskar Negt im rechtsphilosophischen Kolloquium saßen und in "erregten und häufig auch erregenden Diskussionen" "Positionen" entwickelten, die darauf zielten, "philosophische Voraussetzungen für eine materialistische Rechtstheorie zu bestimmen".

Ja, es waren wohl eher gruselige Zeiten. Und es wurden schreckliche Sätze gebildet: "Menschenrechte sind eine universelle Sache, selbst wenn sie im Bürgertum entstanden sind", schreibt Negt, und die Verkrustung der "formierten Gesellschaft" treibt Uesseler zum Stil des Kriegsromans: "Die Lage der Studenten war ernst und beängstigend. Sie fühlten sich isoliert, allein gelassen und physisch bedroht. Sicher half ihnen die Solidaritätswelle, die schon am nächsten Tag in den Universitätsstädten der Bundesrepublik einsetzte, den ersten Schock (nach der Ermordung von Benno Ohnesorg) zu überwinden. Aber es war vor allem ihr Wille, sich nicht zu beugen, der sie zur Reflexion und Analyse des Geschehenen befähigte; und sie zogen konkrete Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen." Indem sie nämlich einen "Beschluß" veröffentlichten, neben der Presseerklärung bekanntlich die stärkste Waffe im Klassenkampf.

Soweit zur deutschen Lage. Der Amerikaner Paul Bermann betrachtet den Rest der Welt und bevorzugt den psychologischen Roman. Über die aus jüdischen Familien stammenden französischen 68er-Aktivisten weiß er zu berichten: "Sie empfanden keinen Haß auf Menschen, die anders sind, sondern Liebe, und zwar unter bereitwilliger Anerkennung ihres Andersseins . . . Und so betrachteten die jungen Leute die Älteren und spürten - Verachtung . . . Sie fühlten sich angesichts dessen, was die Generation der Eltern durchgemacht hatte - oder womit sie sich abgefunden hatte -, moralisch wertlos . . . Die jungen Leute wollten eine Erlösung ihrer Seelen."

Solche Sätze muß man sich erst einmal trauen! Leider sind sie das einzig Mutige an diesem Buch, denn Bermann ist ein netter Langeweiler, den sich jede Schwiegermutter zum wissenschaftlichen Assistenten nur wünschen kann. Er ist in der Lage, über 50 Seiten hinweg sämtliche Organisationen, Fraktionierungen und Splitterungen der amerikanischen sogenannten "neuen Linken" seit 1905 bis in die siebziger Jahre hinein zu beschreiben. Gleiches leistet er für die amerikanische Schwulenbewegung, die aber zum Glück erst 1969 richtig losging, weswegen dieses Kapitel auch kürzer ausfällt. Hier frönt er bereits seiner Lieblingsbeschäftigung: anderer Leute Bücher referieren. Im letzten Kapitel des Bandes, "Ein Rückblick auf das Ende der Geschichte", läuft er dabei zu großer Meisterschaft auf, indem er erst über knapp 40 Seiten Leben und Werk von André Glucksmann darstellt und gleiches dann mit Francis Fukuyama tut, um zu dem Schluß zu gelangen, daß ihm "beide Botschaften", Glucksmanns sowohl wie Fukuyamas, als "einigermaßen wahr erscheinen". Das dürfe er sagen, weil er Kritiker sei und kein Philosoph. Nein, so etwas darf nur der Dalai Lama sagen! Das ist doch ein ziemliches un68mäßiges Ende, daß alle irgendwie recht haben sollen. Wettgemacht wird das aber durch den allerletzten Satz, in dem Bermann uns - und das soll wohl ein Glucksmann-Zitat sein - erklärt, wie "die Welt" sich "fühlt" (ja: die Welt!), nämlich"so: "bescheiden, skeptisch, besorgt, ängstlich, erschüttert".

Zwischen all den Referaten geht das noch interessanteste (und kürzeste) Kapitel über den Einfluß der Vereinigten Staaten auf die Entwicklungen in der CSSR zwischen 1945 und 1989, in dem die These aufgestellt wird, daß amerikanische Popkultur auch ein Faktor in der samtenen Revolution gewesen sei, leider unter. Mit 68 hat das zu tun, weil der Prager Frühling 68 stattfand.

Und doch hat es 68 wirklich gegeben! Schließlich habe ich keine Mandeln mehr, und schließlich gibt es Fotodokumente. Michael Ruetz hat seine Fotos schon zuvor an verschiedenen Stellen veröffentlicht (vielleicht nicht alle - es fehlt jeglicher Hinweis darauf -, aber doch viele). Bei Ruetz sind die schrecklichsten Sätze Bildunterschriften aus dem Reich des Herrenwitzes, den man bei 68ern eigentlich (eigentlich!) (ja, eigentlich) nicht erwartet: Da gibt es "Die Bräute der Revolte" und den "Raub der Sabinerinnen". Sonst kommen Frauen eher am Rande vor. (Um das zu kompensieren, mußten sie später dann die Frauenbewegung gründen und in den terroristischen Clubs die Führungsrollen besetzen.) Das mit den Frauen fällt mir auf, weil mir sonst nichts auffällt, denn keines dieser Bilder springt einen an. Ruetz zeigt seinen Gegenstand wie unter einer Glasglocke und musealisiert ihn dadurch unmittelbar. Im Begleittext von Rolf Sachsse wird Ruetz' Methode mit der teilnehmenden Beobachtung der Ethnologen verglichen. Das mag theoretisch stimmen, nur kommen Ethnologen von außen und sprechen auch die Sprache der Außenstehenden. Das tut Ruetz aber nicht, und so vermitteln seine Bilder nichts als die splendid isolation, in der sich die Studenten damals offenbar befanden, wie Uesseler sofort bestätigen würde. Es sind fremde Menschen, und ich wüßte nicht, was sie mich angingen.

So, und was ist jetzt 68? Kritische Theorie bis zum Abwinken? Vier Revolutionen? Keine Revolution? Wenigstens Kulturrevolution? Befreiung der Studenten aus jahrhundertelanger Knechtschaft? Oder bloß der Stoff, aus dem die Senioren von heute ihr Seemannsgarn spinnen? Nichts von alledem: 68 ist das Jahr, in dem ich eingeschult wurde. Auf meiner Schultüte klebte eine Mickymaus, und ich trug ein weißes Kleid mit rosa Punkten.

IRIS HANIKA

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Das Buch, bereits 1995 erschienen, sei aus aktuellem Anlass neu aufgelegt worden, schreibt Rudolf Walther und findet das ganz in Ordnung. Zwar räumt er ein, dass sich der Autor nicht ohne Zorn und auch nicht jenseits von Parteilichkeit mit seinem Thema auseinandersetze, gerade die eigene "Erfahrungsqualität" aber sei es, so Walther weiter, die ihn vor Heroisierung und Larmoyanz bewahre. Dieses scheuklappenfreie Berichten und Nachdenken über 68 hat dem Rezensenten Eindruck gemacht. Ein prägnantes Plädoyer gegen den "medialen Spektakelbetrieb" und einen "unglaublichen intellektuellen Konformismus", lautet sein Urteil.

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