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Produktdetails
  • Verlag: Stroemfeld
  • Erscheinungstermin: März 2007
  • Deutsch
  • Abmessung: 270mm
  • Gewicht: 852g
  • ISBN-13: 9783878778349
  • ISBN-10: 3878778341
  • Artikelnr.: 09946567
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2002

Lenis neunzehn Schürzen: Pierre Imhasly und Renato Jordan zeigen die innerste Schweiz

Magdalena Zenklusens Hand ist eben durch ihr graues Haar gefahren, das unter dem Kopftuch hervorsieht und in dem einzelne Schneeflocken hängen; die Hand beschützt das Ohr und gibt den Blick frei auf das durch Falten fein gezeichnete Gesicht einer alten Frau vor einer Hauswand mit quadratischen Luken, die aus dem Schnee aufragt. Der Mantel der Frau ist aus einem auffallend gemusterten Stoff, wie man ihn in den fünfziger Jahren für Möbelbespannungen verwendete, was der archaischen Szene einen beschwingten Duktus verleiht und im Betrachter die Neugier weckt, nach dem leuchtenden Blick und der "klaren Schärfe" dieser Frau zu fragen. Sie ist Hebamme und Bäuerin im Schweizer Grenzgebiet zu Italien, wo unten die Doveria von Simplon durch die Gondo-Schlucht nach Domodossola strömt und oben die Terrassen der Almen zur Baumgrenze aufsteigen. Pierre Imhasly, der Dichter der "Rhone-Saga" (1996), und der in Brig/Wallis ansässige Fotograf Renato Jordan haben das Porträt einer Frau gezeichnet, die durch ihre Lebensform die kulturellen Epochengrenzen auf ganz persönliche Weise durchbricht.

Imhaslys in kolloquialem Ton gehaltener Hymnus, die meist doppelseitigen Schwarzweißfotografien Jordans und die im Anhang gegebenen Erläuterungen feiern kein Idyll. Zwar reicht das Leben der Magdalena Zenklusen tatsächlich in die Vorzeit der Moderne, denn wer - oft nach Märschen durch Eis und Fels - "zweihundertfünfundachtzig Kinder ans Licht gesetzt" hat, wer allsommerlich mit Geißen, Eseln und Katzen auf die Almen zieht, fügt sich schlecht in neuzeitliche Raster. Zum anderen hat aber die Abgeschiedenheit des Tales - wie Imhasly mit spöttischer Verve betont - zu radikaler Emanzipation geführt: "An ihrem Berg gibt es nur Frauen. (Und Tiere auch.) Wo Männer auftauchen, sind sie zum Helfen da; ohne Unterschied." Leni wird so zu einer an Artemis und Hekate gemahnenden Herrin der Tiere, der die Geißen nachlaufen, die die Katzen liebt und die ohne Blick beim Sauschlachten vorbeigeht. Zugleich ist sie "Herrin der Consecutio Temporum": Sie hat den katholischen Heiligenkalender und die kirchlichen Feste im Blut, ohne doch durch sie gefesselt zu werden. Zur Zeit der Fronleichnamsprozession ist sie längst auf dem Berg, und wenn der Pfarrer zu Jakobi, am 25. Juli, zur Kapelle auf die unterste Alm kommt, ist sie meist schon eine Terrasse höher gezogen. Ihre Frömmigkeit ist anders begründet.

Die Leni, Schwester eines Pfarrers und Kind aus einer alten, weitverzweigten Familie, wohnt in einem Haus aus dem Jahr 1647 und blickt dennoch über ihr Tal hinaus. Sie liest viel, von "Frauenliteratur" bis zu Tolstoj und Dostojewskij: "Die Russen, tüchtig schwer", so Leni. Auf ihrem Nachttisch steht ein Globus, sie war in St. Petersburg, in Spanien und auch in Indien. Ihre "neunzehn Schürzen der Serenität" werden für Imhasly zu "Saris", und den unvergeßlich groß geblümten Kleidungsstücken, die man auf mehreren Fotos sieht, wird man diesen Namen schwer versagen. Das im Text geübte Projizieren fernöstlicher Muster auf die alpine Lebensform dürfte allerdings allein auf das Konto Imhaslys gehen, denn Leni, die "Schwester der Kompromißlosigkeit", scheint hierin klüger als ihr Dichter, fordert sie doch genaues Studium des fremden Glaubens: "Wir können unsere Religion auch nicht einfach so hinstellen", so Leni. Gewöhnungsbedürftig ist auch Imhaslys Sprachmischung, in der "mega Schöpfkellen" neben dem "Sankt Herrgottstag" stehen, doch im französisch und italienisch durchwachsenen Idiom der Schweiz mag das angehen.

Die Schwarzweißfotografien von Renato Jordan haben es leichter, die Spannungen dieser Lebenswelt auszuleuchten. Sie sind oft aus starker Untersicht aufgenommen, ganz nah und mit bisweilen schroff zusammengespannten Bildausschnitten. Sie zeigen heiteren Takt bei allem Folkloristischen und spüren aufmerksam den feinsten Linien nach: in Felsen, Holz und Gesichtern. Die Monochromie ermöglicht es dabei dem Fotografen wie einem buddhistischen Tuschmaler, die Einheit der Welt in seinem Medium unmittelbar darzustellen: Fels und Atem, Katze und Schatten, Schnee und Sonnenlicht sind bloß Nuancen des einen. Ob Magdalena Zenklusen daran oder nicht doch an ganz anderes glaubt, bleibt ihr Geheimnis.

THOMAS POISS.

Renato Jordan (Fotos), Pierre Imhasly (Text): "Leni, Nomadin". Stroemfeld Verlag, Basel/Frankfurt am Main 2001. 128 S., Abb., geb., 27,- .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Den Bild- und Textband "Leni Nomadin" über eine alte Hirtin in den Schweizer Bergen hält Rezensent Rüdiger Dilloo für großartig, dicht und schön. Imponiert hat ihm die Unaufgeblasenheit des Ganzen, die dem Betrachter Rätsel aufgibt: "Bilder-Rätsel wie aus einem frühen Bergman-Film", wenn der Fotograf die "Szenen eines Nomadenlebens" scharf ausleuchtet., ..."Fragmente einer fremd gewordenen ... Lebensweise". Der Text scheint ihm dazu zu passen: "kryptisch, widerständig, Poesie". Und genau gelesen, findet er, macht er hinter dem "körperlichen Dasein" der alten Frau eine "unerwartete geistige Ebene" aus. Das hat mit Religion zu tun und, Dilloo ist richtig überrascht, mit Literatur. Denn Leni liest Tolstoj.

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