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Dresden, Ende August 1989. Eine junge Frau steigt in den Zug und verlässt ihr Land. Was inmitten der großen Fluchtwelle so entschieden beginnt, wird für sie bald zur existentiellen Reise. Während der Fahrt tauchen Bilder einer einsamen Kindheit auf, in einer sprachlos gewordenen Familie: Der musische, aber haltlose Vater, der in seiner Agententätigkeit aufgeht und seine Obsessionen auslebt, die ohnmächtige Mutter, Tochter eines NS-Funktionärs, die sich in der Kälte einrichtet. Das alles hinter einer makellosen Lebensfassade: "eine Puppenstubenlandschaft, wie ein Leben lang auf Kur."

Produktbeschreibung
Dresden, Ende August 1989. Eine junge Frau steigt in den Zug und verlässt ihr Land. Was inmitten der großen Fluchtwelle so entschieden beginnt, wird für sie bald zur existentiellen Reise.
Während der Fahrt tauchen Bilder einer einsamen Kindheit auf, in einer sprachlos gewordenen Familie: Der musische, aber haltlose Vater, der in seiner Agententätigkeit aufgeht und seine Obsessionen auslebt, die ohnmächtige Mutter, Tochter eines NS-Funktionärs, die sich in der Kälte einrichtet.
Das alles hinter einer makellosen Lebensfassade: "eine Puppenstubenlandschaft, wie ein Leben lang auf Kur."

Autorenporträt
Ines Geipel, geb. 1960 in Dresden, sechs Jahre DDR-Hochleistungssport mit Zwangsdoping und Weltrekord über 4 x 100 Meter. Nach dem Germanistik-Studium in Jena 1989 Flucht nach Westdeutschland und Studium der Philosophie und Soziologie in Darmstadt. 1996 gibt sie Gedichte und Prosa von Inge Müller heraus; daneben u.a. eigene Texte (ein Roman, eine Gedichtsammlung). Heute ist sie Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Mitarbeiterin des Hannah-Arendt-Instituts.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2005

Das Schlupfloch finden
„Heimspiel”: Ines Geipel nimmt Abschied vom alten Leben
Am Ende des neuen Romans von Ines Geipel quält sich eine junge Frau durch das Grenzgebiet zwischen Österreich und Ungarn. Im Spätsommer 1989 schleppt sie sich durch Unterholz, Gestrüpp und Dunkelheit, sie muss „dieses eine Schlupfloch finden, irgendwie durch die Drahtrolle kommen”. In den letzten Momenten wird ihre Flucht aus der DDR zur leiblichen Tortur. Denn „hier ist nichts mit durchmarschieren”, stattdessen heißt es: „Spähen, hocken, kriechen.”Auch auf die Gefahr hin, die Kontrolle über den Körper und damit die Orientierung zu verlieren, es kann nur so weitergehen.„Ja ich weiß, es tut weh. Ja, ich weiß, es gäbe sicher andere Wege”, ist sich die Erzählerin der Strapazen bewusst. Aber die Alternativen, ein falscher Pass oder gar die Willkür einer Schlepperbande, würden nicht zu dieser Frau passen. Es ist ihr ganz eigener Weg. Die Barrikade aus Stacheldraht und das Dickicht im Grenzwald gehören dazu, vor allem aber auch die aufreibende Erinnerung an die Abgründe der eigenen Familiengeschichte.
Ines Geipel erzählt entlang der wenige Tage dauernden Zugreise ihrer knapp 30-jährigen Protagonistin, die von Dresden über Budapest zum Eisernen Vorhang führt, dorthin, wo er schon einen Spalt weit geöffnet ist. Dabei vergegenwärtigt sie mehr als ein halbes Jahrhundert. Mit der räumlichen Entfernung rücken die Erinnerungen an die Familiengeschichte ganz nah. Das politische Zeitgeschehen muss dafür nicht eigens als Hintergrund ausgebreitet werden. Es bricht bei jeder Erinnerung durch, nimmt in einzelnen Personen leibliche Gestalt an. Der Blick aus dem Zugabteil geht über Wald und Wiesen und heftet sich an einzelne Stationen der Vergangenheit: die märchenhaft-traurige Kindheit der Mutter in Riga, über die sich der Schatten des ranghohen Nazi-Vaters legt. Die letzten Kriegsjahre, im Heim der Plauener Wohlfahrtsschwestern, wo der eigene Vater als Halbwaise in bedrückender Enge die Pubertät beginnen muss.
Spähen, hocken, kriechen
Führt der Weg in den Westen zunächst in entgegengesetzte Richtung, so scheint die junge Frau auch nur über die Umwege, die sie durch ihre Vorstellungswelten nehmen muss, ihrer gegenwärtigen Identität habhaft zu werden. Auch hier ist kein schneller Durchmarsch möglich, auch hier gilt es zu spähen, zu hocken und zu kriechen. Das schmerzt, etwa wenn sie sich an die ideologisch verblendete Pädagogik des Vaters erinnert. Der „nicht anders könnende Mann”, wie er penetrant bezeichnet wird, verweigert Puppen und diktiert Systematik. Systematisch missbraucht er die Tochter dann auch als „Stechpuppe”, probt den Ernstfall für seine Missionen als West-Spion. Die Mutter, „die kleine, stille Frau”, hüllt sich in Schweigen. Diktatur und Verdrängung spiegeln sich drastisch im Familiären.
Bevor Vergangenheit bewältigt werden kann, muss sie zunächst einmal anschaulich werden. In Ines Geipels Buch geschieht das, indem sich Vorgeschichte und Innenleben der Hauptperson als Mosaik präsentieren. Aber der Blick auf dieses Gebilde ist so nah, dass daraus keine herkömmliche Biografie entsteht. Auch nicht die der Autorin selbst. Sicher, vieles mag die 1960 geborene Germanistin, die im Sommer 1989 in den Westen floh und heute an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch” lehrt, selbst erlebt haben. Aber „Heimspiel” liefert alles andere als eine stringente Entwicklungsgeschichte der flüchtenden Frau. Ihre Erinnerungen lösen sich ab, vermischen sich auf beinahe mythische Weise. Zeitebenen durchdringen einander, Grenzen verwischen. Motive wiederholen sich über Generationen hinweg. An erster Stelle immer wieder die Enge, das Gefangensein: Die kindlichen Ausbruchversuche der Eltern, wenn sie von zuhause weglaufen, erscheinen vor dem geistigen Auge der jungen Frau genauso nah wie ihre eigene Flucht.
Ines Geipel kann die Vergangenheit so gegenständlich und unvermittelt darstellen, weil sie die persönliche Sicht ihrer Protagonistin nie umgeht. Das Geschehene wird nicht einfach nur erinnert. Es bricht in die Gegenwart herein, im Präsens, und macht Vergangenes präsent. „Heimspiel” ist ein Roman, der den Akt des Erinnerns selbst zum Thema hat: „Der einzig verlässliche Teil der Erinnerung ist der Körper, heißt es immer. Atmen, tasten, hören, sehen, riechen, schmecken.” Die sinnliche Darstellung rückt den Roman nahe ans Lyrische . Die Situationen von damals erfahren ihre unmittelbare Vergegenwärtigung, werden mit allen Sensoren eingefangen und in aneinander gereihten Wörtern und Bezeichnungen wieder ausgespuckt.
Diese Prozedur strengt an. Und das nicht nur die junge Frau, die sich unablässig mit den Bildern der Vergangenheit auseinander setzt. Die Lektüre verlangt auch dem Leser einiges an Durchhaltevermögen ab, nicht zuletzt weil die Sprache manchmal in überzogenes Pathos abdriftet. Aber die Anstrengung lohnt. Für die Flüchtende zeigt sich darin ein Weg, den Abschied vom alten Leben und dessen Lasten zu vollziehen und damit die Ankunft im neuen Leben vorzubereiten. Dem Leser kann „Heimspiel” mehr als einen Eindruck von Flucht und Vorgeschichte vermitteln. Wenn er die Strapazen auf sich nimmt, kann er sie miterleben.
CHRISTOPH SCHMAUS
INES GEIPEL: Heimspiel. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2005. 203 Seiten, 16,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein anstrengendes Buch, schreibt Christoph Schmaus, fügt jedoch sogleich mit Nachdruck hinzu: Aber es lohnt sich! Denn wer sich einlässt auf die Herausforderungen von Geipels sehr sinnlicher und manchmal auch recht pathetischer Prosa, der kann Schmaus zufolge die Flucht einer jungen Frau aus der DDR über Ungarn in den Westen und ihre innere Suche nach Identität nicht nur nachvollziehen und beurteilen, sondern geradezu miterleben. Die eigentliche Handlung umfasst nur einige Tage des Jahres 1989, doch in der Erinnerung ihrer Protagonistin "vergegenwärtigt (Geipel) mehr als ein halbes Jahrhundert". Wobei "vergegenwärtigt" ganz wörtlich zu nehmen ist: Alles, so Schmaus, drängt bruchstückhaft und im Präsens durch die Erzählung der Gegenwart und ergibt eine Familiengeschichte von "Diktatur und Verdrängung" - nur eben nicht aus rückblickender Distanz, sondern unmittelbar aus der Bewusstseinsperspektive einer Frau an einem Wendepunkt ihres Lebens.

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