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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Berlin
  • Seitenzahl: 268
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 344g
  • ISBN-13: 9783871344374
  • ISBN-10: 3871344370
  • Artikelnr.: 10059550
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2001

Alle Macht den Experten?
Beiträge aus dem Willy-Brandt-Kreis zur Schieflage der Nation

Willy-Brandt-Kreis (Herausgeber): Zur Lage der Nation. Leitgedanken für eine Politik der Berliner Republik. Rowohlt Verlag, Berlin 2001. 192 Seiten, 9,90 Euro.

Große Persönlichkeiten werden nicht selten nach ihrem Tode von politischen Vereinigungen als Namensgeber und Patron vereinnahmt. Dieses Schicksal ist auch Willy Brandt nicht erspart geblieben. In einem nach ihm benannten "Kreis" haben sich Mitte der neunziger Jahre einige seiner Weggefährten sowie Brandts Sohn Peter und eine Reihe von meist auf der sozialdemokratischen Linken angesiedelten Personen aus Politik, Kultur und Wissenschaft zusammengefunden. Die Gedanken, die sie zu Papier gebracht haben, hat jetzt der Friedensforscher Dieter S. Lutz eingeleitet.

Die anspruchsvolle Titelwahl begründet Lutz damit, daß der jährliche Bericht "Zur Lage der Nation" von Bundeskanzler Brandt eingeführt worden sei - was freilich ebenso unrichtig ist wie einige andere Behauptungen in den folgenden Texten. Daß auch inhaltlich der Sammelband nicht dem entspricht, was der Titel suggerieren will, wird der geneigte Leser bald feststellen. Zutreffender wäre: Zur Schieflage der Nation aus Sicht linker Sozialdemokraten.

Wie verzerrt aus dieser Perspektive die Realität erscheint, zeigt der Beitrag der Journalistin Daniela Dahn, der für eine ehrliche Geschichtsschreibung auf beiden Seiten plädiert, aber an Einseitigkeit nicht zu überbieten ist. Willy Brandt hätte wohl mit Staunen vernommen, "daß ein nicht unwesentlicher Teil sozialdemokratischer Programmatik in der DDR ansatzweise konsequenter verwirklicht wurde als in allen sozialdemokratisch regierten Ländern". Ähnlich sieht Manfred Uschner (der 1989 wegen "Sozialdemokratismus" aus dem SED-Apparat entfernt wurde) den Hauptmangel der heutigen SPD darin, "daß man entgegen den Wahlversprechen von 1998 kaum erkennen kann, was an der Politik der Regierung Schröder eindeutig und originär sozialdemokratisch ist, was sie von der Politik bürgerlicher Regierungen unterscheidet". Und nach Günter Grass gibt es "die demokratische Linke nur noch als beschworenes Gespenst oder allenfalls in Gestalt einiger zum Fossil degradierter Einzelgänger" - wie eben Grass selbst.

Einige Autoren sind etwas gemäßigter in ihrer sozialistischen Nostalgie. So beklagt zum Beispiel Hans Misselwitz (Leiter des Büros von Wolfgang Thierse im Parteivorstand), daß die "Hoffnung, eine Diskussion über das politische Selbstverständnis des vereinten Deutschlands zu führen, womöglich die Vision einer neuen Republik zu entfalten", nicht aufgegangen sei. Hin und wieder wird zwar anerkannt, daß sich mit der "Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik" manches im Osten zum Besseren gewendet habe. Aber alles Positive wird von einem düsteren Negativbild überlagert. Kaum überrascht, daß die "Treuhand" und die "Gauck-Behörde" die Schurken in diesem Stück abgeben. Grass versteigt sich sogar zu der Aussage, daß die Gauck-Behörde - gewiß ungewollt - "die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes der DDR fortsetzt".

Egon Bahr wiederholt in seinem Beitrag und in einer fiktiven Regierungserklärung sein Plädoyer für ein starkes Europa als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten. Er verbindet bedenkenswerte machtpolitische Überlegungen mit dem idealistischen Wunsch, einen gesamteuropäischen Gewaltverzicht als "Königsweg" zu beschreiten, wodurch "praktisch jeder Staat in Europa gleiche Sicherheit" erhalte. Wie und von wem die Einhaltung des Gewaltverzichts gewährleistet werden könnte, erfährt man freilich von dem Machtpolitiker Bahr nicht. Eigentlich hat Friedrich Gentz vor 200 Jahren schon das Nötige dazu gesagt: "Ein freier Vertrag unter Staaten wird immer nur so lange beobachtet werden, als keiner von denen, welche ihn schlossen, zugleich den Willen und die Macht, ihn zu brechen, besitzen, das heißt mit anderen Worten, solange auch ohne einen solchen Vertrag der Friede, welchen er gründen soll, bestehen würde."

Aber das sind ja alte Weisheiten, die heute angeblich nichts mehr taugen. Was die Zukunft anbelangt, so ist der Herausgeber zweifellos am progressivsten: Er will "eine Demokratie jenseits der Demokratie, wie wir sie kennen", errichten; einen "Zukunftsrat" aus Experten, eine Institution "mit der Unabhängigkeit und der Autorität des Bundesverfassungsgerichtes und sie ausstatten mit den Hoheitsrechten für existenzielle Menschheitsfragen und der Legitimation von Wahlen wie ein Parlament". Die Kandidatenaufstellung würde allerdings nicht durch die Parteien, sondern durch Institute und "Bewegungen" erfolgen. Nach der Rätedemokratie der Arbeiter und Bauern nun also die Rätedemokratie der Experten! Diejenigen, die nicht dem "Willy-Brandt-Kreis" angehören, werden einigermaßen froh sein, daß der SPD-Parteivorsitzende und Kanzler diese "Leitgedanken für eine Politik der Berliner Republik" und die fiktive Regierungserklärung mit Sicherheit nicht in eine reale Regierungserklärung aufnehmen wird.

WERNER LINK

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Werner Link bezweifelt, ob Willy Brandt mit dem, was die Mitglieder des nach ihm benannten Kreises in seinem Namen postulieren, einverstanden gewesen wäre - er selbst ist es jedenfalls nicht. Mitglieder des Kreises, Personen aus Politik, Kultur und Wissenschaft, seien unter anderem Peter Brandt, Hans Misselwitz, Daniela Dahn, Manfred Uschner, Günter Grass, Egon Bahr und der Friedensforscher Dieter S. Lutz, der auch die Einleitung zu dem Buch schrieb, das der Rezensent gerne in "Zur Schieflage der Nation aus Sicht linker Sozialdemokraten" umbenennen würde. Er meint, die Sicht der Autoren auf die Realität sei "verzerrt" und sie ergingen sich in "sozialistischer Nostalgie". Der einzige Beitrag, dem der Rezensent etwas abgewinnen kann, ist der Egon Bahrs, der für ein "starkes Europa als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten" plädiere. Seine Überlegungen hält Link immerhin für "bedenkenswert".

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