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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Berlin
  • Originaltitel: Napkönyv
  • Seitenzahl: 318
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 411g
  • ISBN-13: 9783871342530
  • ISBN-10: 387134253X
  • Artikelnr.: 24397502
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2000

Hunderettung
Mihály Kornis im Parlando · Von Matthias Bischoff

Der Autor liefert die Kritik gleich selbst: "Ein schlechter Schriftsteller. Schwülstig. Unausgegorene Bravourstückchen, monochromer, psalmodierender, obsessiver Stil . . . Sein Rhythmusgefühl ist gut, aber lieber Gott, was bringt das - in der Prosa?" In der Tat ist "Der Held unserer Geschichte" ein oft geschwätziges, disziplinloses, larmoyantes Buch, das man enerviert zuklappen möchte und das den Leser doch nicht loslässt - ein ungeheuerliches Werk, ein sperriges Stück großer Literatur.

Am Ausgang des Jahrhunderts bietet der 1949 in Budapest geborene Dramatiker Mihály Kornis noch einmal sämtliche Stilmittel des modernen Romans auf, die Auflösung der Perspektiven, die Zertrümmerung der Chronologie, die Simultaneität innerer und äußerer Vorgänge, und treibt sie in einem furiosen Parlando auf die Spitze. Nur mühsam lässt sich aus dem ungefügen "Singsang des Lebens", wie Kornis sein lyrisch-rhapsodisches Sprechen nennt, ein nacherzählbarer Kern herausschälen. Der im Jahr 1994 in Ungarn erschienene und von Christina Viragh bravourös übersetzte Roman, der erste Teil einer auf mehrere Bände angelegten Reihe mit dem Titel "Sonnentagebuch", ist die schonungslose Selbstbefragung eines Intellektuellen, der im Chaos des postkommunistischen Ungarn, geplagt von Schreibblockaden und einer als unerträglich empfundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit nach einem Fixpunkt für sein Schreiben sucht, nach einer letzten Wahrheit.

Die Figur des Schriftstellers Mihály Tabor - unschwer als Alter Ego seines Autors erkennbar - ist ein jüdischer Stadtneurotiker und moderner Gralssucher ebenso wie ein Nachfahre Leopold Blooms. Und wie Dublin bei Joyce wird das Budapest der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu einem Mikrokosmos aus Farben und Gerüchen, Stimmen und Geräuschen, die durch das wahrnehmende Ich hindurchfluten. Wie in einem Durchlauferhitzer vermengen sich Wortspiele, Reklametexte und Kindersprache, jiddische Sprachfetzen, Slang und Hochsprache, das Ordinäre mit dem Sakralen, das Obszöne mit dem Sentimentalen zu einem Strom, der Roman wird zum Seismographen des Unbehagens angesichts des Ungeheuerlichkeiten hervorbringenden Einbruchs des Wilden Westens in eine geschlossene Gesellschaft. "Etwas stimmt nicht", konstatiert eine Stimme, und eine andere kontert: "Was soll schon nicht stimmen, Kollegen, das werden eben die abgefuckten neunziger Jahre gewesen sein, dafür werden sie mal berühmt, für ihre Bösartigkeit, dafür, dass die Gefahr sofort unaufhaltsam wurde, dass ein chaotischer erfolgreicher Schlussverkauf im Gang ist, eine Faschismus-Nostalgie, der letzte Mensch verändert sich nicht mehr, haha, zittern sollt ihr, ihr Schlappschwänze, da sind sie wieder, die Rasenden, die Satansbrut, die rasierten Köpfe, die Schwanzkontroll-Razzien, die genagelten Stiefel und die Volksverhetzer, der Schweinsnacken des auferstandenen Himmler und der Hexenglaube, alles, was böse ist, hat heute Konjunktur, am meisten das nutzlos Niederträchtige und sinnlos Brutale."

Wer aber spricht hier? Es ist ein zersplittertes Ich, das sich weigert, Ich zu sein, als ob schon die Festlegung auf eine kohärente Identität Lüge wäre. Diese vielstimmige Erzählinstanz steigt hinab in den Schacht des dunklen Jahrhunderts und fördert die Schrecken einer kollektiven Erfahrung zutage: die Verschleppung und Ermordung hunderttausender ungarischer Juden, die Niederwerfung des Volksaufstands von 1956, die jahrzehntelange Unterdrückung durch das Kádár-Regime. "Der Held unserer Geschichte" ist die Confession eines obsessiven Moralisten und bei aller Welthaltigkeit ein zutiefst religiöses Buch, das die Anwesenheit eines guten Gottes zu behaupten sucht, indem es die gottlose Welt, das Böse und das Verkommene, in einer gleichsam delirierenden Suada vorführt.

Gewiss nicht zufällig erinnert der Romanaufbau an ein Triptychon. Im ersten Teil ("Invokation") erforscht Tabor vor allem seine jüdische Herkunft. Er besucht einen Friedhof, Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit werden emporgespült, er sieht das befremdliche Tun der Erwachsenen vor der ihm riesenhaft erscheinenden "Märtyrermauer" mit den Namen der ermordeten Juden. Der in der Gegenwart angesiedelte Gang über den Friedhof lässt ihn an seiner Erinnerung zweifeln: Die Gräber seiner Eltern und Großeltern sind kaum mehr auffindbar, "und als der Held unserer Geschichte, dieser objektive Beobachter, im zärtlichen Sonnenlicht aus den höchst lückenhaften Namenreihen der sechshunderttausend Toten für sein Notizbuch einige jüdische Namen auswählt, die ihm gefallen, dringen Stimmen an sein Ohr. Ich blicke auf. Mutti und Bubi." Die Toten des Holocaust, die Ermordeten aus seiner eigenen Familie bedrängen ihn mit Klagen, die Gegenwart wird von der Vergangenheit beherrscht. Doch aus der Zwiesprache der Lebendigen mit den Toten folgt nichts: "Oh, das sind nur innere Stimmen! Er begibt sich mit dem Heft zum Friedhof, kein Mensch weiß, warum, schreibt Namen auf - bekloppt, der Arme! Warum plagen mich diese Toten? Sie tun mir nichts, sie klären mich auf, vielleicht."

Während im dritten Teil ("Nacht") die Themen der Anfangskapitel, die Suche nach Gott, nach der Kindheit, nach Wahrhaftigkeit und Liebe, wieder aufgenommen werden, erzählt der Mittelteil ("Am Tag") die Geschichte einer Seelenrettung. Bei seinem Gang durch die Stadt hört der Erzähler einen Hund jaulen, entdeckt das verdreckte Tier in einem schwer zugänglichen Graben und gerät in einen Gewissenskonflikt: Soll er sich hinabwagen - woran ihn Ekel und Angst hindern - oder Tierschützer mit der Bergung beauftragen, die den Hund womöglich dem Abdecker übergeben? Quälend ausführlich breitet Kornis die Gefühle seines Helden aus, macht aus dem Hin und Her zwischen Wegschauen und späterer Reue, den Anrufen bei Tierschutzorganisationen, der Einsicht in die eigene Erbärmlichkeit eine nicht ohne Ironie erzählte Parabel über das Ringen von Gut und Böse, Verantwortung, Barmherzigkeit und Ignoranz. Den Hund nicht zu retten bedeutet ihm schließlich, die Menschheit verloren zu geben, sich abzuwenden, wie Gott sich abgewandt hat: "Im lauen Sonnenschein läuft er vor einem im Graben Sterbenden davon, weil es Gott sowieso nicht gibt. Schäm dich nicht, Gott kann es nicht gesehen haben, er ist ja selber längst weggelaufen. Wie ich ihm gleiche, phantastisch!"

So vollzieht der Gottsucher Tabor die Erkenntnis aller Verzweifelten nach, denen die Schlechtigkeit der Welt die letzte Instanz der Hoffnung geraubt hat: "Es gibt keinen Gott. Dergleichen gibt es nicht. Nichts Violettes, nicht Ideales, nichts Märchenhaftes in der Wirklichkeit! Wir haben es nur so erfunden, als Zuckerl." Und doch wird die schließlich mit Hilfe einer skurrilen Tierschützerin vollbrachte Rettung zum bewegenden, bei aller Lächerlichkeit ergreifenden Gottesbeweis, einer zwar kläglichen, gerade dadurch aber glaubwürdigen Epiphanie im Alltag. Wider alle Vernunft wird als eine Art credo, quia absurdum in Fettdruck behauptet: "Gott war da, neben mir. Als Frage." Und als die Frau Tabors ihm am Ende des Romans die zu Weihnachten bevorstehende Geburt eines Kindes ankündigt, beginnt nach der Nacht des Zweifels, dem mit sich selbst ausgetragenen Kampf und dem Eintauchen in die eigenen Abgründe und die menschlichen Niederungen ein neuer Morgen; der Kreisgang von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, von den Schrecken des Todes hin zu einer kleinen, durch Ironie und verstümmelten Satzbau gleichsam in relativierenden Anführungszeichen stehenden Hoffnung schließt sich.

Jenseits der Dreiteilung ist "Der Held unserer Geschichte" ein radikal formloses, ungefüges Buch, das es vor allem in den beiden Seitenteilen dem Leser nicht eben leicht macht. Kornis' Lust an der Disziplinlosigkeit lässt den Leser ermüden, ist oft sogar ärgerlich und verwirrend. Besonders wenn der Erzähler die Unfähigkeit, seinem Gedankensturzflug Einhalt zu gebieten, mit recht koketter Selbstironie zu kaschieren sucht: "Ich bin kein guter Schriftsteller. Ich bin ein sentimentaler Clown . . ." Und weiter: ",Ich kann nicht schreiben.' Das muss ich so reinbringen, ,ich kann nicht schreiben', schön ironisch, damit man glaubt, ich hätte überhaupt kein Selbstmitleid mehr, ach, wenn es nur schön ironisch rauskommt!"

Bis in das Druckbild lässt Kornis den Leser an seinem inneren Chaos teilhaben: fett gedruckte Passagen, abrupter, sinnlos spielerischer Wechsel von kleiner zu großer Typographie, vom Ich zum Er, Kursivierungen und eingerückte lyrische Einsprengsel sind der mimetische Ausdruck einer in ihre Einzelteile zerfallenden Persönlichkeit, die es aufgegeben hat, durch eine vordergründig geschlossene Form den Anschein von Konsistenz zu wahren. So treibt Kornis die Selbstdramatisierung seines Ich auf Schwindel erregende Weise bis hin zum Äußersten, und der Leser wird dabei in ein Echolabyrinth aus einander widerstreitenden Stimmen tief hineingezogen, deren Durcheinander kakophonisch an einem vorüberrauscht. Die Frage "Warum ist, was er schreibt, nicht gut? Oder ist es gut?" stellt sich nun überhaupt nicht, denn die Qualität dieses Romans behauptet sich jenseits solcher Kategorien.

Mihály Kornis: "Der Held unserer Geschichte". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Viragh. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1999. 380 S., geb., 39,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Ursula März ist schlichtweg hingerissen von diesem Roman: Von seiner, wie sie schreibt, entfesselten Erzählerschaft, seiner anarchischen Gedankenführung, der explosiven Textur, der wilden Typographie. Vor allem aber hält sie ihn für ungemein komisch: "Bewundernswert ist Kornis` Kunst der gezielten Geschmacklosigkeit und der gewollten Banalität." Und das bei dem Thema! Sie hätte ja auch betroffen sein können über die Verzweiflung eines ungarischen Juden, der sich selbst und seinen Glauben inmitten der Gräber seiner ermordeten Vorfahren sucht. Wie März jedoch schreibt, muss man es aber zwischen Woddy Allen und Dante stellen. Den Ton trifft März selbst ganz gut. Überschrieben hat sie ihre Kritik mit der treffenden Zeile "Kornis lässt seinen Helden vom Hund auf Gott kommen".

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