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Der IS errichtet sein transnationales Staatsprojekt mittels Gewalt und zwingt damit die internationale Gemeinschaft zu militärischen Interventionen. Luizard dechiffriert diese Strategie als Falle, aus der die internationale Gemeinschaft kaum entkommen kann.
Denn solange die westlichen Interventionen für die arabischen Bevölkerungen in Leid und Zerstörung ohne jegliche Zukunftskonzepte müden, wird der IS Zustimmung finden.Der Islamische Staat hat sich mit blutigen Aktionen die Bühne der internationalen Politik erobert. Von den andauernden Krisen in Syrien und im Irak profitierend, hat der IS…mehr

Produktbeschreibung
Der IS errichtet sein transnationales Staatsprojekt mittels Gewalt und zwingt damit die internationale Gemeinschaft zu militärischen Interventionen. Luizard dechiffriert diese Strategie als Falle, aus der die internationale Gemeinschaft kaum entkommen kann.

Denn solange die westlichen Interventionen für die arabischen Bevölkerungen in Leid und Zerstörung ohne jegliche Zukunftskonzepte müden, wird der IS Zustimmung finden.Der Islamische Staat hat sich mit blutigen Aktionen die Bühne der internationalen Politik erobert. Von den andauernden Krisen in Syrien und im Irak profitierend, hat der IS Macht und Kontrolle über große Regionen erlangt und verfügt über umfangreiche finanzielle Ressourcen.

Der Historiker Pierre-Jean Luizard legt eine umfassende Genese der dschihadistisch-salafistischen Gruppe vor und ordnet sie in einen soziopolitischen Kontext ein.
Autorenporträt
Pierre-Jean Luizard, Historiker, ist directeur de recherche im Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris und dort verantwortlich für die Forschungsgruppe Sociétés, Religions, Laïcités (GSRL).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2017

Wie uns das Kalifat immer wieder überlistet
Die Bücher von Joby Warrick, Pierre-Jean Luizard und Philippe-Joseph Salazar helfen, den IS zu verstehen

Der Kampf um die Rückeroberung Mossuls gestaltet sich schwieriger, als die Kräfte der irakischen Regierung es vorhergesagt hatten. Noch immer haben sich im Westteil der nordirakischen Stadt Kämpfer der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) verschanzt und setzen sich mit allen Mitteln zur Wehr - Scharfschützen, Sprengfallen, Autobomben. Dennoch dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Herrschaft der Dschihadisten über die einstige Millionenmetropole Geschichte ist. Die Eroberung Mossuls war die Krönung des Siegeszugs gewesen, den der IS im ersten Halbjahr 2014 vollführt hatte. Ganze Landstriche Syriens und des Iraks brachten die militanten Islamisten handstreichartig unter ihre Kontrolle. Für Mossul benötigten sie nur vier Tage.

Dort spielte sich am 4. Juli 2014, einem Freitag, eine der denkwürdigsten Szenen der jüngeren islamischen Geschichte ab, als der IS-Anführer Abu Bakr al Bagdadi erstmals an die Öffentlichkeit trat und in der Al-Nuri-Moschee die Wiedererrichtung des Kalifats verkündete, mit sich selbst an dessen Spitze. "Euch erwarten Trübsal und große Schlachten", stimmte er seine Anhänger auf die zu erwartenden Kämpfe ein und fügte an: "Wahrlich, ihr könnt euer Blut nicht an einem besseren Ort vergießen als auf dem Weg, um die Muslime zu befreien, die hinter den Mauern der Götzenbilder gefangen sind. Also greift zu den Waffen und rüstet euch mit Frömmigkeit!"

Im Gegensatz nicht nur zu der kriegerischen Rhetorik seiner Predigt, sondern auch zu den Bildern der schwarzgewandeten Horden, die raubend und mordend durch die Region zogen, war die Inszenierung von Bagdadis Auftritt nachgerade zurückhaltend - und dennoch bis ins Detail durchdacht. Auf diesen Umstand weisen sowohl Philippe-Joseph Salazar als auch Joby Warrick hin. Warrick lenkt das Augenmerk auf einige der symbolischen Gesten, die Bagdadi in der Moschee vollzog und die an überlieferte Handlungen des Propheten Mohammed erinnerten: das kurze Verharren auf jeder Stufe, als er die Treppe zur Kanzel emporschritt, die Reinigung des Mundes mit einem Zahnholz, bevor er die Predigt begann.

Salazar nennt Bagdadis Auftritt rundheraus ein "Meisterwerk". Er vermerkt "würdiges Auftreten und natürliche Haltung", lobt die sachliche Eloquenz und bedenkt diejenigen, die für Bagdadis Selbstproklamation nur Spott übrig hatten, mit dem Hinweis, dass der Vorgang sich "jenseits der Begrifflichkeit unserer modernen politischen Rhetorik" vollzog. "Lästern bringt uns nicht weiter, wir müssen uns um Verständnis bemühen."

Wie muss man den Aufstieg des "Islamischen Staates" und seines Kalifen Ibrahim also verstehen? Drei neue Bücher zum IS wählen drei unterschiedliche Ansätze: den ereignisgeschichtlichen, den politischen und den rhetorischen. Das umfangreichste und am aufwendigsten recherchierte Werk hat der amerikanische Journalist und Autor Joby Warrick verfasst. Sein Buch "Schwarze Flaggen", das 2016 mit dem Pulitzer-Preis prämiert wurde, erzählt die Geschichte der Terrorgruppe IS, vor allem aber ihre Vorgeschichte. Dass er ursprünglich eine Biographie des jordanischen Terroristen Abu Musab al Zarqawi schreiben wollte, der bis zu seinem Tod durch amerikanische Bomben im Juni 2006 der "Superstar unter den Dschihadisten" war, sagt Warrick offen. Dementsprechend benötigt er zwei Drittel seines Buchs, bis er bei der Entstehung des IS aus den Ruinen von Zarqawis "Al Qaida im Irak" angelangt ist.

Die liefern eine detaillierte, aus mehreren Perspektiven erzählte und mit zahlreichen Spannungsbögen versehene Schilderung von Zarqawis Aufstieg: von dem Kleinkriminellen, der 1989 nach Afghanistan geht und sich radikalisiert und später in einem Gefängnis am Rande der jordanischen Wüste auf den charismatischen Ideologen Abu Muhammad al Maqdisi trifft (der sich später von Zarqawi abwendet), über den Leiter eines Dschihad-Ausbildungslagers im Nordirak von 2001 an, das von den Amerikanern als Beleg für die terroristischen Aktivitäten Saddam Husseins verwendet wird, bis hin zu dem "Scheich der Schlächter", der im Post-Saddam-Irak fast im Alleingang einen konfessionellen Bürgerkrieg entfesselt.

Gegengeschaltet sind die Bemühungen jordanischer und amerikanischer Geheimdienstler und Militärs, dem Dschihadisten das Handwerk zu legen. Die Konzeptlosigkeit der Amerikaner im Irak wird dabei ebenso deutlich wie ihre Ohnmacht gegenüber Zarqawis Strategie des forschreitenden Tabubruchs - er erfindet etwa das Filmen von Hinrichtungen -, die schließlich sogar Kritik der Al-Qaida-Führung hervorruft.

Nach seinem Tod war Zarqawis Organisation weitgehend irrelevant geworden, erst durch die Marginalisierung der Sunniten im Irak sowie durch den syrischen Bürgerkrieg bekam sie wieder Aufwind. Der eher zufällig an die Spitze gelangte Abu Bakr al Bagdadi (bürgerlich hieß er Ibrahim Awad al Badri) versuchte wie sein Mentor Zarqawi die Gewalt gegen Schiiten und Nichtmuslime religiös zu rechtfertigen, verfügte im Gegensatz zu diesem aber über theologische Bildung und Autorität. Anschaulich beschreibt Warrick, wie professionell Bagdadi sein Vorgehen plante und das politische Vakuum im krisengeschwächten Nahen Osten sowie die gegenseitigen Ressentiments für seine Zwecke nutzte.

Warrick überzeugt am meisten, wo er die Interdependenzen von amerikanischer und nahöstlicher Politik beschreibt. Was seinem Buch, dem man bisweilen ein oberflächliches Lektorat und allzu oft die Übersetzung aus dem Englischen anmerkt, fehlt, ist eine Analyse der grundlegenden Krise der Levante - und damit letztlich ein Teil der Erklärung für den Erfolg des IS. Daran versucht sich der französische Historiker Pierre-Jean Luizard, der in "Die Falle des Kalifats" darlegt, welche Faktoren die Dschihadisten zumindest zeitweilig für nicht wenige vor allem irakische Sunniten attraktiv machten, die einen "Islamischen Staat" dem schiitischen Regime in ihrem Land vorzogen. Er greift auf die koloniale und postkoloniale Zeit zurück, um zu erklären, weshalb sowohl Syrien als auch der Irak unter einem Legitimationsdefizit leiden: Über Jahrzehnte wurden von den Machthabern beider Staaten unter dem Deckmantel wechselnder Ideologien ganze Bevölkerungs- und Religionsgruppen gegeneinander ausgespielt.

Zwar misst Luizard mitunter strukturellen Faktoren zu viel Bedeutung zu, etwa im Falle von Saddam Husseins Einmarsch in Kuweit 1990, der sicherlich auch mit der Person des Diktators zusammenhing und überdies keine reine amerikanische "Falle" war. Er liefert aber eine Fülle aufschlussreicher Beobachtungen zum Verhältnis von Staat, Konfession und Ideologie, die durch den Abgleich zwischen Syrien und dem Irak zusätzlich an Konturschärfe gewinnen. In beiden Ländern konstatiert er bei allen Unterschieden das gleiche Ergebnis: "den Zerfall des Staates und das Auseinanderbrechen seines Territoriums entlang ethnischer und religiöser Linien" - im Irak aufgrund der amerikanischen Invasion, in Syrien als Resultat der Arabellion. Und der "Islamische Staat", resümiert er, "entfaltet sich dort, wo die Staaten versagt haben". Selbst im Fall der militärischen Niederlage des IS sieht Luizard keine Zukunft für diese Länder, zumal die Anti-IS-Koalition den Menschen dort "nicht den Hauch einer politischen Perspektive" zu bieten habe.

Warum der Westen in der Konfrontation mit dem IS so oft hilflos wirkt, ist die Ausgangsfrage des französischen Philosophie-Professors Philippe-Joseph Salazar in seinem Buch "Die Sprache des Terrors". Man müsse die Dschihadisten ernst nehmen, anstatt ihnen mit Überheblichkeit und "Sensationsrhetorik" zu begegnen, fordert er. Dem IS attestiert er "Wortgewalt und Überzeugungskraft" und zeichnet nach, wie "das Kalifat" uns immer wieder rhetorisch überlistet. So seien die Propagandaclips des IS gerade wegen ihrer Fremdheit verführerisch; denn diese "öffnet den Weg in ein anderes Universum, das scheinbar außerhalb der Wiederholung, außerhalb des Banalen, außerhalb des Alltäglichen liegt".

Allerdings gelingt es Salazar zu selten, die Fülle seiner komplizierten Darlegungen stringent und verständlich zu einem Ganzen zu verknüpfen. Es bleiben interessante Einzelbeobachtungen haften, etwa zur Männlichkeitsethik und zum Gebrauch von Gesichtsmasken in IS-Videos - diese funktionierten als "das männliche Pendant zum Schleier", schreibt er: "Die Uniform des Milizionärs verhüllt - und fasziniert." Letztlich stellt sich die Frage, ob Salazar sich nicht ein wenig zu sehr von dieser Faszination hat faszinieren lassen. Einerseits plädiert er dafür, die Dschihadisten nicht zu mystifizieren, andererseits schreibt er, der IS, der etablierte Regeln und Normen ablehne, sei "politisch mit nichts zu vergleichen". Wenn die jüngsten Erfolgsmeldungen vom Kampf gegen die Truppen des Kalifen Ibrahim nicht trügen, dann bleibt die Hoffnung bestehen, dass auf die Frage, womit der IS vergleichbar ist, erst dann eine Antwort gefunden sein wird, wenn die Frage sich schon erledigt hat.

CHRISTIAN MEIER.

Joby Warrick: "Schwarze Flaggen". Der Aufstieg des IS und die USA. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. Theiss Verlag, Darmstadt 2017. 392 S., Abb., geb., 22,95 [Euro].

Pierre-Jean Luizard: "Die Falle des Kalifats". Der Islamische Staat oder die Rückkehr der Geschichte. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].

Philippe-Joseph Salazar: "Die Sprache des Terrors". Warum wir die Propaganda des IS verstehen müssen, um ihn bekämpfen zu können. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Pantheon Verlag, München 2016. 224 S., br., 14,99 [Euro].

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