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Pathos ist ein wirkmächtiger Produzent gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Ob man »Achsen des Bösen« beschwört oder mit Slogans à la "Du bist Deutschland" die Nation noch einmal zu aktivieren versucht: Zur Konstruktion kollektiver Identitäten, der Herstellung von Feindbildern und gemeinschaftsstiftenden Sinn- und Wertehorizonten eignet sich kaum eine Form der Rede so sehr wie die pathetische. Aber wie genau funktioniert diese "pathetische Rede", und welche Folgen hat sie für das, wovon die Rede ist? Mit dem zeitgenössischen Kino nimmt dieses Buch einen Ort in den Blick, wo Pathos nach wie vor…mehr

Produktbeschreibung
Pathos ist ein wirkmächtiger Produzent gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Ob man »Achsen des Bösen« beschwört oder mit Slogans à la "Du bist Deutschland" die Nation noch einmal zu aktivieren versucht: Zur Konstruktion kollektiver Identitäten, der Herstellung von Feindbildern und gemeinschaftsstiftenden Sinn- und Wertehorizonten eignet sich kaum eine Form der Rede so sehr wie die pathetische. Aber wie genau funktioniert diese "pathetische Rede", und welche Folgen hat sie für das, wovon die Rede ist? Mit dem zeitgenössischen Kino nimmt dieses Buch einen Ort in den Blick, wo Pathos nach wie vor Konjunktur hat. Filmen wie TITANIC, PEARL HARBOR oder BREAKING THE WAVES lassen sich dabei Einsichten in die Funktionsweise pathetischer Artikulationen entnehmen, die zugleich deren ideologisches Potenzial abzuschätzen erlauben: Es liegt in der Verkopplung von Sinn und Sinnlichkeit, die Filme aufgrund ihrer multi-medialen Möglichkeiten besonders effektiv herzustellen wissen. Die Studie, die sich auch als methodischer Beitrag zur rhetorischen Filmanalyse versteht, weist den Weg zu einem kritischen Verständnis des Pathetischen, das für alle gesellschaftlichen Bereiche relevant ist, wo mit "großen" Worten Tatsachen geschaffen werden.
Autorenporträt
Christian Schmitt wurde 1984 in Heppenheim an der Bergstraße geboren. Nach einer Berufsausbildung in einem kaufmännischen Beruf entschied er sich zum Studium der Sozialpädagogik. Während des Studiums konnte Christian Schmitt bereits Erfahrungen bei einem Praktikum in einer Erziehungsberatungsstelle sowie bei der Tätigkeit als Kinderbetreuer sammeln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2010

Die diskreten Tränen der Bourgeoisie
Im Affektstrom: Zwei Erkundungen im unübersichtlichen Terrain der Kinogefühle

Die enorme Summe von 460 000 Reichsmark bekam allein Hans Albers 1944 für seinen Auftritt in Helmut Käutners "Große Freiheit Nr. 7". Aber obwohl der erste Farbfilm der "Terra Filmgesellschaft" seine teuren Kosten möglichst schnell wieder einspielen musste und seit Herbst 1944 in deutsch besetzten Gebieten mit großem Erfolg lief, wurde er bis Kriegsende in Deutschland selbst nicht gezeigt - zu problematisch war offenbar die von Albers verkörperte zerrissene, zerbrechliche Männerfigur, die nichts mehr mit Albers' altem "Hoppla, jetzt komm ich"-Image gemein hatte und am deutlichsten eigentlich an jene Frauenfiguren erinnert, die bereits im deutschen Vorkriegsmelos zum oft tödlichen Opfergang auf dem Altar der Liebe, der Tugend oder der Pflichterfüllung antraten.

Melodramen wie dieser Film, schreibt Astrid Pohl in ihrem aus einer Dissertation hervorgegangenen Buch "TränenReiche BürgerTräume", seien eine Kunstform, die einerseits ganz im Rahmen der bürgerlichen Kulturtraditionen steht, die andererseits "sich offenbar der definitiven Festlegung besonders gut zu entziehen vermag". Das Melodram ist das Gefühlsgenre par excellence; gerade darum eignet es sich anscheinend hervorragend für politischen Missbrauch. Denn aller Propaganda geht es keineswegs um Überzeugung, sondern um Überwältigung und emotionale Identifikation. Das Melodram ist somit "eine der wichtigsten Erzählformen des propagandistischen Films" und damit des Kinos im Dritten Reich. Pohl hat über 200 NS-Filme untersucht und erzählt in ihrem Buch anhand des Melodrams chronologisch die Geschichte des Films im Nationalsozialismus. Davon hatte man bisher fast nur anhand berühmter Fallbeispiele erfahren können. Pohls Buch füllt diese Lücke. Auch als Nachschlagewerk hätte es sich gut geeignet - nur dummerweise hat der Verlag ausgerechnet auf einen Namens-oder Filmindex verzichtet.

Pohl zeigt, wie sich das Genre sachte verschob, wie das Sozialmelodram verschwindet, wie dafür neue Genres, etwa der melodramatische Heimatfilm, entstanden. In dem ließen sich bestimmte ideologische Positionen besonders klar unterbringen, zugleich wurde durch die Isolation der idealtypischen Naturschauplätze von der deutschen Wirklichkeit ihre propagandistische Instrumentalisierung aber wieder erschwert. Pohl stellt auch überzeugend dar, wie in den Filmen zwar gewisse Gesellschaftskritik möglich wurde, sie aber doch selten auf die deutschen Verhältnisse beziehbar war. Eine Art subversives Potential lag wie immer im Melodram allenfalls in dem Beharren auf individuellem Glücksanspruch, von dem diese Geschichten immer wieder handelten. Und sie lag in der enormem Kraft, die Gefühle auf der Leinwand entfalten können.

Von der handelt Christian Schmitts Buch über "Kinopathos". Dies ist eines der wenigen Werke, die den wichtigen Versuch unternehmen, das schwierige und unübersichtliche Terrain der Kinogefühle zu erkunden. Mit Erfolg. Grundsätzlich steht man in unseren Zeiten zwar Pathos und Leidenschaft misstrauisch gegenüber. Entweder hohl oder unheimlich sind die großen Gefühle - das gilt zumindest theoretisch auch fürs Kino. In der Praxis funktionieren aber nahezu alle Kinofilme, von Blockbustern wie "Titanic" oder "Pearl Harbour" bis hin zu zeitgenössischem Autorenkino, wie etwa Lars von Triers "Dancer in the Dark" oder Abdellatif Kechiches "Couscous mit Fisch", nur über eine komplexe Film-Rhetorik melodramatischer Gefühlserzeugung und -steigerung. Schmitts Buch ist voller kluger Überlegungen und Anregungen dazu, wie sich Gefühle im Kino und ihr Funktionieren besser verstehen lassen.

Trotz einem umfangreichen Apparat gelehrter Verweise von der Spätromantik bis zur Postmoderne verweigert er sich aber am Ende dann doch allen naheliegenden Fragen nach einer Gefühlstheorie des Kinos. Kann man als Filmemacher Gefühle auf dem Reißbrett entwerfen? Kann man mit Gefühlen eindeutige Botschaften formulieren, ob gefährlich oder nicht? Und kann man als Zuschauer seinen eigenen Gefühlen im Kino vertrauen? Schmitt ist da eher optimistisch: "Kinofilme wissen oft mehr" als die Theorie, schreibt er. Und lobt Filme wie Tarantinos "Kill Bill" oder Malicks "The New World". Die seien zwar pathetisch, reflektierten aber das eigene Pathos, indem sie "eine zweite Version der Geschichte zulassen".

Für Schmitt funktioniert der Affektstrom im Kino aber trotzdem in erster Linie als Konsensmaschine - was der vorhergehenden Beobachtung widerspricht. Damit bestätigt er, was die ältere Filmwissenschaft bereits über das Melodram gesagt hatte: Es sei "das konservative Genre per se", formulierte einst Heide Schlüpmann. Im Gegenwartsfilm gibt es aber zumindest jenseits von Hollywood bedeutende Gegenbeispiele: die Franzosen Arnaud Desplechin oder Christophe Honoré zeigen gerade, wie mehrdeutig und ambivalent Gefühle sein können. Sie nehmen ihre Zuschauer mit auf eine rasende Achterbahnfahrt der Emotionen, ohne dass diese dabei den Verstand ausschalten müssen, und entlassen ihn am Ende in die Freiheit, auch die zum Fühlen. Was wünschte man sich mehr?

RÜDIGER SUCHSLAND

Astrid Pohl: "TränenReiche BürgerTräume". Wunsch und Wirklichkeit in deutschsprachigen Filmmelodramen 1933-1945. Edition text+kritik, München 2009. 431 S., br., 38,- [Euro].

Christian Schmitt: "Kinopathos". Große Gefühle im Gegenwartsfilm. Bertz+Fischer, Berlin 2009. 192 S., br., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rüdiger Suchsland hat sehr angeregt zwei Bücher zum kaum erforschten Thema der Kinogefühle gelesen. Christian Schmitts Werk "Kinopathos" setzt sich mit dem komplexen und vertrackten Gebiet der im Kino erzeugten "großen Gefühle" auseinander  und macht das ziemlich gut, wie der Rezensent findet. Suchsland lobt nachdrücklich Schmitts inspirierenden und kenntnisreichen Darlegungen, findet allerdings, dass der Autor sich widerspricht, wenn er einerseits betont, dass Filme häufig das eigene Pathos zugleich reflektieren und infrage stellen, andererseits aber - insbesondere das Hollywood-Melodram - als "Konsensmaschine" wirken.

© Perlentaucher Medien GmbH