Es war zwar verboten, aber wir haben es trotzdem gemacht! Unter diesem Motto ist in Ostdeutschland zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 Geschichte geschrieben worden. Den erstarrten Verhältnissen in der DDR war nur beizukommen, wenn man sich über alte Regeln hinwegsetzte und das Neue mutig wagte. So wurden kurzerhand Bürgermeister und Betriebsleiter entmachtet, Kasernen und Gefängnisse belagert, Geheimdienstzentralen besetzt und Redakteursräte organisiert, Bürgerbewegungen und neue Parteien gegründet. Plötzlich spürten viele ihre Kraft und starteten in die spannendste Zeit ihres Lebens.
Dutzende dieser Erinnerungen sind im vorliegenden Buch zusammengetragen worden, die das überraschende Ausmaß an Phantasie und kreativem Potential jener Zeit verdeutlichen, aber auch die Absurdität und Komik mancher Situation belegen.
Dutzende dieser Erinnerungen sind im vorliegenden Buch zusammengetragen worden, die das überraschende Ausmaß an Phantasie und kreativem Potential jener Zeit verdeutlichen, aber auch die Absurdität und Komik mancher Situation belegen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2005Auch auf dem Lande
Manchmal etwas zu niedliche Geschichten der friedlichen Revolution vom Herbst 1989
Christoph Links/Sybille Nitsche/Antje Taffelt: Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90. Ch. Links Verlag, Berlin 2004. 239 Seiten, 14,90 [Euro].
Von Berlin weiß es der Westdeutsche, auch natürlich von Leipzig, eher weniger von Erfurt und Rostock, aber bestimmt kaum oder gar nicht von Arnstadt, Bautzen, Freyburg an der Unstrut, Glauchau, Gohrisch, Gosen, Heiligenstadt, Mildensee, einer Insel in der Müritz, Parow, Prenzlau, Rüterberg, Schönwalde, Strausberg, Waren, Weimar. Überall aber und an vielen anderen Orten - eben nicht nur in Leipzig, Berlin oder Dresden - haben 1989/1990 Menschen unterschiedlichster Herkunft sich gegen die SED-Diktatur aufgelehnt und deren totalitäres Regime gestürzt. Das geschah also, um noch einmal ein DDR-Wort aus der Rumpelkammer zu holen, "republikweit".
In großen und kleinen Orten geschah das, es geschah Großes und Kleines. Das Große und Bekannte war etwa die Rettung der MfS-Akten vor der Vernichtung durch das MfS und vor dem Wegschließen im Bundesarchiv oder die Verhinderung des Ausbruchs von Gewalt am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Etwas ganz Kleines, das aber von der Staatssicherheit als staatsgefährdend erkennungsdienstlich behandelt wurde, war das schlichte Aufstellen eines schwarzen Trauerkreuzes und zweier Kerzen auf der Straße zum 40. Jahrestag der DDR oder das nur scheinbar einfache Neinsagen bei Zumutungen durch die Partei, das aber doch großen Mut erforderte. Dazwischen liegt die Vertreibung von Bonzen aus Jagdrevieren und Gästehäusern, selbstgefertigte illegale Plakate und Aufrufe zu illegalen Demonstrationen, das Gründen einer unabhängigen Zeitung, die Auflösung geheimer und offener MfS-Stützpunkte, die Verschrottung von Kalaschnikows der SED-Kampfgruppen oder das Verjagen der alten und das Einsetzen neuer örtlicher und anderer Autoritäten.
Das alles wird in kleinen Skizzen geschildert, oft im Plauderton, manchmal zu niedlich, als ob es sich um eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel gehandelt habe. Es war aber doch bitter ernst, es war hoch riskant, der - gute - Ausgang stand keineswegs fest. Es waren eben keine medienbegleiteten Rangeleien mit bundesdeutscher Polizei, und die so ungeheuer berühmte Demonstration im Bonner Hofgarten war ein lächerliches Happening gegenüber den tiefernsten und riesigen Zügen der deutschen Herbstrevolution, die sich jeden Montag langsam durch Leipzig bewegten. Ja, es war ein wunderbares Jahr, aber weniger wegen der gelegentlich anarchischen Verhältnisse, sondern wegen der Abschüttelung einer erstickenden Diktatur, die sich für die Ewigkeit eingerichtet hatte.
Glücklicherweise kommt der Ernst und die Gefährlichkeit der großen und kleinen Widerstandsaktionen im Buch doch auch oft zum Ausdruck, etwa wenn berichtet wird, wie endlich die Wahrheit über die Einrichtung des mörderischen Grenzregimes ans Licht gebracht wurde oder wenn die Selbstbefreiung der politischen Häftlinge in Bautzen II geschildert wird. Und es ist ein großes Verdienst des Buches zu zeigen, wie derselbe mutige Geist nicht nur in den Großstädten, sondern auch auf dem Lande dazu beigetragen hat, die Diktatur zu stürzen. Um so rätselhafter und erschütternder ist es, daß diese Tat im gesamten deutschen Geschichtsbewußtsein kaum einen Platz hat, so, als hätte es sie nie gegeben. Ein wenig möge das Buch dazu beitragen, daß sich das ändert.
WOLFGANG SCHULLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Manchmal etwas zu niedliche Geschichten der friedlichen Revolution vom Herbst 1989
Christoph Links/Sybille Nitsche/Antje Taffelt: Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90. Ch. Links Verlag, Berlin 2004. 239 Seiten, 14,90 [Euro].
Von Berlin weiß es der Westdeutsche, auch natürlich von Leipzig, eher weniger von Erfurt und Rostock, aber bestimmt kaum oder gar nicht von Arnstadt, Bautzen, Freyburg an der Unstrut, Glauchau, Gohrisch, Gosen, Heiligenstadt, Mildensee, einer Insel in der Müritz, Parow, Prenzlau, Rüterberg, Schönwalde, Strausberg, Waren, Weimar. Überall aber und an vielen anderen Orten - eben nicht nur in Leipzig, Berlin oder Dresden - haben 1989/1990 Menschen unterschiedlichster Herkunft sich gegen die SED-Diktatur aufgelehnt und deren totalitäres Regime gestürzt. Das geschah also, um noch einmal ein DDR-Wort aus der Rumpelkammer zu holen, "republikweit".
In großen und kleinen Orten geschah das, es geschah Großes und Kleines. Das Große und Bekannte war etwa die Rettung der MfS-Akten vor der Vernichtung durch das MfS und vor dem Wegschließen im Bundesarchiv oder die Verhinderung des Ausbruchs von Gewalt am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Etwas ganz Kleines, das aber von der Staatssicherheit als staatsgefährdend erkennungsdienstlich behandelt wurde, war das schlichte Aufstellen eines schwarzen Trauerkreuzes und zweier Kerzen auf der Straße zum 40. Jahrestag der DDR oder das nur scheinbar einfache Neinsagen bei Zumutungen durch die Partei, das aber doch großen Mut erforderte. Dazwischen liegt die Vertreibung von Bonzen aus Jagdrevieren und Gästehäusern, selbstgefertigte illegale Plakate und Aufrufe zu illegalen Demonstrationen, das Gründen einer unabhängigen Zeitung, die Auflösung geheimer und offener MfS-Stützpunkte, die Verschrottung von Kalaschnikows der SED-Kampfgruppen oder das Verjagen der alten und das Einsetzen neuer örtlicher und anderer Autoritäten.
Das alles wird in kleinen Skizzen geschildert, oft im Plauderton, manchmal zu niedlich, als ob es sich um eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel gehandelt habe. Es war aber doch bitter ernst, es war hoch riskant, der - gute - Ausgang stand keineswegs fest. Es waren eben keine medienbegleiteten Rangeleien mit bundesdeutscher Polizei, und die so ungeheuer berühmte Demonstration im Bonner Hofgarten war ein lächerliches Happening gegenüber den tiefernsten und riesigen Zügen der deutschen Herbstrevolution, die sich jeden Montag langsam durch Leipzig bewegten. Ja, es war ein wunderbares Jahr, aber weniger wegen der gelegentlich anarchischen Verhältnisse, sondern wegen der Abschüttelung einer erstickenden Diktatur, die sich für die Ewigkeit eingerichtet hatte.
Glücklicherweise kommt der Ernst und die Gefährlichkeit der großen und kleinen Widerstandsaktionen im Buch doch auch oft zum Ausdruck, etwa wenn berichtet wird, wie endlich die Wahrheit über die Einrichtung des mörderischen Grenzregimes ans Licht gebracht wurde oder wenn die Selbstbefreiung der politischen Häftlinge in Bautzen II geschildert wird. Und es ist ein großes Verdienst des Buches zu zeigen, wie derselbe mutige Geist nicht nur in den Großstädten, sondern auch auf dem Lande dazu beigetragen hat, die Diktatur zu stürzen. Um so rätselhafter und erschütternder ist es, daß diese Tat im gesamten deutschen Geschichtsbewußtsein kaum einen Platz hat, so, als hätte es sie nie gegeben. Ein wenig möge das Buch dazu beitragen, daß sich das ändert.
WOLFGANG SCHULLER
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Flucht tausender DDR-Bürger über die unbewachte Grenze in Ungarn in den Westen läutete im Sommer 1989 das Ende der DDR ein. Der Verlauf der großen Geschichte ist wohlbekannt, weniger bekannt sind dagegen die kleinen Geschichten in dieser Geschichte, die sich in diesem Sommer, in dem vielerorts faktisch Rechtlosigkeit herrschte, abspielten. Der vorliegende Band über den "wunderbaren Sommer der Anarchie" berichtet davon. Während dieser Zeit wurde all das möglich, "wovon alle Freunde zivilen Ungehorsams träumen", berichtet Rezensent Steffen Pachali: Bezirksregierungen absetzen, Landsitze besetzen, Militärbefehle ignorieren oder Straßen blockieren und dabei von staatlichen Behörden auch noch unterstützt zu werden. In vielen kleinen Geschichten erzählten die Autoren die kleinen Heldentaten ganz normaler Bürger. "Das anarchistische der Geschehnisse ist für nachgeborene oder westdeutsche Leser wohl schwieriger nachvollziehbar", befindet Pachali. Jedenfalls kommt nicht umhin festzustellen: "Aus heutiger Sicht wirken die berichteten Begebenheiten manchmal lächerlich, teilweise nur komisch."
© Perlentaucher Medien GmbH
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