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Aus Kolumbien, einem Land, das für seine lange Geschichte der Gewalt bekannt ist und das uns üppige, ja, monumentale Romane geschenkt hat, kommen diese zarten, filigranartigen Kurzgeschichten zu uns. Ein Paradox - aber nicht das einzige in Esther Fleisachers Literatur und Leben. Diese Autorin ist eine Jüdin, die streng religiös erzogen wurde, sich aber, als sie erwachsen war, vom jüdischen Glauben losgesagt hat; eine jüdische Renegatin, die sich jedoch nicht dagegen wehren kann, dass in ihren Texten immer wieder jüdische Themen hochkommen; eine Erzählerin, deren Protagonistinnen fast…mehr

Produktbeschreibung
Aus Kolumbien, einem Land, das für seine lange Geschichte der Gewalt bekannt ist und das uns üppige, ja, monumentale Romane geschenkt hat, kommen diese zarten, filigranartigen Kurzgeschichten zu uns. Ein Paradox - aber nicht das einzige in Esther Fleisachers Literatur und Leben. Diese Autorin ist eine Jüdin, die streng religiös erzogen wurde, sich aber, als sie erwachsen war, vom jüdischen Glauben losgesagt hat; eine jüdische Renegatin, die sich jedoch nicht dagegen wehren kann, dass in ihren Texten immer wieder jüdische Themen hochkommen; eine Erzählerin, deren Protagonistinnen fast ausschliesslich Frauen sind, ohne dass wir es mit feministischer Literatur zu tun haben; eine Frau, die gern auf Friedhöfe geht, aber nicht, um einen morbiden Totenkult zu pflegen, sondern um 'ein Band mit dem Leben zu knüpfen'.Esther Fleisachers Themen sind nicht spektakulär, aber tiefgründig, auch deshalb, weil die Autorin, von Beruf Psychoanalytikerin, etwas von der menschlichen Seele versteht. Viele Geschichten handeln von einem Drama in der Familie, das Aussenstehenden verschlossen sein mag, für die Beteiligten aber von elementarer Bedeutung ist: das verzweifelte Bemühen einer Mutter, ihren an einem fernen Ort begrabenen Sohn zu sich zu holen; die Schwierigkeiten einer nicht-jüdischen Ehefrau, in der sich abkapselnden jüdischen Gesellschaft heimisch zu werden; die verpasste Versöhnung mit einer alten Schulfreundin; die Frage nach der Authentizität, die im Zusammenhang mit den grauen Haaren einer mittelalterlichen Frau und eines falschen Muttermals auf der Stirn gestellt wird.Ein wesentlicher roter Faden, der sich durch Esther Fleisachers Literatur zieht, hat mit der jüdischen Diaspora, dem Verlust der alten Heimat und dem Neuanfang in der Fremde zu tun und ist in der heutigen Zeit globaler Völkerwanderungen zu einem universellen Thema geworden. Mit zwei reizvollen Erzählungen ('Kirchen besuchen', 'Mangos vom Camposanto') gelingt es der Autorin auch, eine Brücke zwischen verschiedenen Religionen zu schlagen.
Autorenporträt
Esther Fleisacher, geb. 1959 in Palmira nahe Cali (Kolumbien), hat seitens beider Elternteile jüdische Wurzeln; ihr Vater stammt aus Chotyn (Rumänien), ihre Mutter aus Alexandria (Ägypten). 1965 Umzug der Familie von Palmira nach Medellín. Studium der Psychologie. Lebt in Medellín, wo sie eine Praxis als Psychoanalytikerin hat. Werke: Las tres pasas (Erzählungen 1999), La flor desfigurada (Erzählungen, 2007), La risa del sol (Roman, 2011), Canciones en la mente (Lyrik, 2011); Gestos hurtados (Prosa, 2016). In einer Kirche hast du nichts verloren ist eine Auswahl aus den drei Prosabänden und enthält vier bisher unveröffentlichte Texte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2018

Don Eliécer war immer hungrig
Wie das Schtetl nach Kolumbien kam: Esther Fleisachers Erzählungen rühren an Traumata jüdischer Exilanten

Jeden Freitagabend bringen Doña Antonella und ihr Mann ihren Gastgebern "ein weiches, selbst gebackenes Brot mit". Beim Essen verfolgen die Kinder gespannt, wer die Rosinen bekommt, denn "es waren nie mehr als drei". Eine häusliche Szene in einer jüdischen Familie: Der Freitagabend leitet den Schabbat ein, mit einer festlichen Mahlzeit wird er empfangen, und die Gäste - wie auch das weiße Brot, die Challah - gehören zur Tradition. Zu Beginn der Mahlzeit wird es gebrochen und am Tisch verteilt. Nur mit den Rosinen, von denen es nie mehr als drei gibt, hat es seine besondere Bewandtnis.

Die Szene könnte in einem ostjüdischen Schtetl des neunzehnten Jahrhunderts spielen, aber Esther Fleisacher schreibt ihre Erzählungen in Kolumbien. Dort kam sie 1959 als Tochter jüdischer Eltern zur Welt, die aus Rumänien und Ägypten nach Südamerika geflohen waren, und ein Gefühl der Vertreibung liegt auch über der Geschichte von den drei Rosinen.

Die Erzählerin erinnert sich auf einem Friedhof an sie, am Grab des Sohnes der Doña Antonella. Bald nach seiner Ankunft in Südamerika war er gestorben, kaum neun Jahre alt. Seine Eltern waren später nach Kolumbien gezogen, und lange hatte die Mutter um das Recht gekämpft, ihr Kind auf diesen Friedhof zu überführen. Dann verschlug es sie an einen dritten Ort, wo Doña Antonella kürzlich gestorben war, und jetzt oblag es ihrem Mann, auch den Sohn auf den neuen Friedhof zu holen. Alles sei in die Wege geleitet, schreibt er in einem Brief, "um seine Familie zu vereinen".

Dies erzählt Fleisacher auf drei Seiten. Ihre Texte sind kurz, und sie sind leise. Hat man die Geschichte der Doña Antonella zu Ende gelesen, so sind die drei Rosinen nicht mehr das Kinderspiel, das sie am Anfang zu sein schienen. Unaufdringlich werden sie zum Erinnerungsritual einer Mutter an ihre einst dreiköpfige Familie, und mit ihrem Tod zum symbolischen Vermächtnis.

In den Erzählungen Esther Fleisachers kommt eine weibliche Stimme zum Klingen. Schabbatfeier, Familientisch, das von einer Mutter selbstgebackene Brot - die Texte berühren den Leser in ihrer Intimität, geben ihm das Gefühl, an einem Zwiegespräch teilzunehmen. Zumeist ist es eine Ich-Erzählerin, deren Blick wir folgen, und das verstärkt das Gefühl der Intimität noch: Indem hier eine Stimme zu sich selber spricht, eröffnet sie uns ihre Geheimnisse.

Die Nähe, die Fleisachers Texte erzeugen, täuscht keine Idylle vor. Oft ist Kolumbien nur ein Fluchtpunkt im Leben der Juden, von denen sie erzählt. Don Eliécer stürzt sich nach dem Gebet in der Synagoge immer auf das Essen am Buffet. Alle kennen ihn, sie wissen um den Hunger, den er im Holocaust gelitten hat. Dort verlor er auch seine Familie, und die Großmutter der Erzählerin fügt noch etwas hinzu.

"In Rumänien war er unser Nachbar. Seine Tochter Rahel, schön wie ein Gemälde, war die erste Liebe deines Vaters." Er wollte sie heiraten und nach Amerika mitnehmen, doch sie war noch ein Kind, die Ehe kam nicht zustande. "Dein Großvater - er ruhe in Frieden - hielt sich immer streng an die Gesetze, die in den heiligen Schriften stehen, er erlaubte es nicht. Don Eliécer war auf Reisen, und ohne die Einwilligung des Vaters durfte nicht geheiratet werden." Eine männliche Gegenstimme bildet den Schlussakkord dieser Geschichte, doch die Kritik in den Worten der Großmutter bleibt verhalten.

Von Beruf ist Fleisacher Psychoanalytikerin, und nicht zufällig hält ihre Prosa den Umgang mit schmerzlichen Erinnerungen fest. "Alles fing damit an, dass ich mich beim Kochen verbrannt habe", heißt es in einem der Texte. "Es war die gleiche Verletzung wie am Unterarm meiner Mutter, eine, die man sich beim Hantieren mit alten Kochtöpfen holt." Das Trauma ruft ein Bild hervor - "meine tote Mutter, und obwohl der Arm wehtat, freute ich mich über ihren unerwarteten Besuch" -, doch schnell ist die Freude vorbei. "Schon sah ich, wie sie aus Ärger über meine Ungeschicklichkeit ihr Gesicht verzog. Genau wie ihre Mutter es getan hatte, meine Großmutter. Keiner konnte man es recht machen."

Auch in der eigenen Küche tauchen die Fluchten der Vergangenheit auf, die Erinnerung eilt weiter zurück: zur Großmutter, die es von Jerusalem nach Alexandria und schließlich nach Kolumbien getrieben hatte; zu Esther, der Schwester der Großmutter, die in Ägypten geblieben war und beim Säubern der Fische erblindete, "weil ihr die Schuppen in die Augen sprangen. - Und deren Namen ich trage, um der Tradition zu folgen."

Es ist eine Tradition der Not und der Schmerzen, aber nirgends lässt sie die Geschichten Esther Fleisachers bitter werden. Das Herz wird leichter, wo man sich ausspricht: Das weiß sie aus ihrer therapeutischen Arbeit - und als Erzählerin weiß sie noch mehr.

Nur eine Geschichte des Bandes, "Das Notizbuch", wird aus männlicher Sicht erzählt, und sie ist voller Ironie. Ein Ehemann entdeckt das Notizbuch seiner Frau und beginnt in ihm zu lesen. "Ich habe von Papá geträumt, er streichelte mir übers Haar wie damals, als ich klein war; ich lächelte wie früher, aber mit dem Gesicht von heute. Ich habe immer geglaubt, dass Papá sterben wollte, Mamá war immer enttäuscht, immer (. . . ). Ohnmächtig, wie er war, schied er lieber freiwillig aus dem Leben."

Der Ehemann schüttelt den Kopf. Der Schwiegervater hatte nicht Selbstmord begangen, er war an einem Herzinfarkt gestorben. Dann bemerkt er seine Frau, die lächelnd im Türrahmen steht. "Ich besuche eine Schreibwerkstatt. Gefallen dir meine Übungen?" - "Erfindest du das?" - "Glaubst du es, wenn du es liest?" - "Ja." - "Dann ist es auch wahr." - "Aber deine Geschwister reden nie von diesen Dingen." - "Ich rede ja auch nicht, ich schreibe."

Das Schreiben ist mehr als das Reden, selbst auf der Couch der Psychoanalytikerin. Es befreit nicht nur die Seele von ihrem Schmerz. Es befreit auch unsere Phantasie, lässt aus einem Sterben immer ein Leben entstehen.

Dem Übersetzer Peter Schultze-Kraft ist es zu verdanken, dass die Erzählungen auch im Deutschen zu einem Lesevergnügen werden. Seit Jahren macht er die kolumbianische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt bekannt, und jetzt wird der Name Esther Fleisacher zu einer schönen Entdeckung.

JAKOB HESSING

Esther Fleisacher: "In einer Kirche hast du nichts verloren". Erzählungen aus Kolumbien.

Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft und Peter Stamm. Edition 8, Zürich 2017. 142 S., geb., 19,80 [Euro].

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