Produktdetails
  • Verlag: Pendo Verlag Gmbh
  • ISBN-13: 9783858425737
  • ISBN-10: 3858425737
  • Artikelnr.: 20976599
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.01.2005

Revolutionäre der Liebe
Das rastlose Leben der Schweizerin Margarethe Hardegger
Im Mai 1919 liegt Gustav Landauer ermordet im Waschhaus des Gefängnisses München-Stadelheim. Das Experiment der bayerischen Räterepublik, die er ausgerufen hat, ist zerschlagen. In seinen Sachen steckt ein Foto, auf dem „Mark Harda” steht, ein Pseudonym. Das Bild datiert von 1907 und zeigt eine junge Frau ohne Lächeln, streng und korrekt gekleidet, mit großer Aktentasche.
Margarethe Hardegger ist hübsch, brillant und radikal, als sie 1904 die erste Arbeitersekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes wird. Aber einigen Funktionären ist die rastlose Agitatorin und Publizistin aus Bern unheimlich. Sie will vor allem Frauen für die Arbeiterbewegung gewinnen. Aber sie teilt auch die Ideen der von Valentin Grandjean 1907 gegründeten Malthusianischen Liga und klärt in diesem Sinn bei Vorträgen über Verhütung auf - ein Skandal.
Die Züricher Historikerin und Fernsehjournalistin Regula Bochsler hat auf knapp fünfhundert Seiten das ruhelose Leben von Margarethe Hardegger (1882-1963) aufgeschrieben. Ein Stück Schweizer Gewerkschaftsgeschichte, sicher. Aber das Buch führt weit darüber hinaus: dem Weg der Hardegger folgend in die Schwabinger Boheme und in die vegetarische Naturmenschen-Kolonie Monte Verità im Tessin. Es zeigt auch, welche Bedeutung die zweite Reihe, vor allem Leute aus dem Handwerker-Milieu, beim Aufbau sozialrevolutionärer Strukturen spielte. Bochsler gelingt das verblüffend anschauliche Porträt einer international verzweigten Clique, die aus unterschiedlichen Einflüssen heraus - Arbeiterbewegung, Anarchismus, Sozialismus, Psychoanalyse - Ideen für eine neue Gesellschaft bastelte. Man bastelt in dieser Zeit auch Bomben. Ein falsches Alibi für ihren Freund Ernst Frick im Zusammenhang mit einem Attentatsversuch bringt Hardegger in größte Schwierigkeiten. Die groteske Aktion gilt der Befreiung eines polnischen Revolutionärs aus Züricher Polizeihaft, eine ungezündete Bombe landet hektisch im Gully und verletzt später spielende Kinder.
1908 kommt Landauer zu einem Vortrag nach Bern. Er erwartet die Begegnung mit „Mark Harda”, den er aus Briefen kennt - und ist nun von Margarethe hingerissen. Sie bereden, Revolutionäre der Liebe, in stillen Tagen am Thuner See die Gründung einer neuen Organisation - des Sozialistischen Bundes. Erste Mitglieder werden Erich Mühsam und Martin Buber; Margarethe Hardegger soll Sektionen in der Schweiz gründen. Sie lässt sich auf den lukrativen Sacharin-Schmuggel ein, um Geld für die Sache aufzutreiben.
Es kommt zum Bruch mit dem verheirateten Landauer. Er baut - wohl nicht zuletzt unter dem beunruhigenden Eindruck der Schweizer Affäre - ein intellektuelles Bollwerk zum Schutz der Institution Ehe auf, während Hardegger nun schreibt, dass die Ehe in der Gesellschaft der Zukunft abgeschafft gehört. Ihre eigener Man ging fort, um Opernsänger zu werden. Sie steht allein mit den Töchtern da. Sie hält Vorträge in München und beginnt eine Liaison mit Erich Mühsam.
In den folgenden Jahren muss Hardegger mehrmals ins Gefängnis - wegen des falschen Alibis für Frick, wegen Beihilfe zur Abtreibung. Permanent ist sie in Geldnot. Ihr Haus in Bern wird ab 1914 zur Kommune, wo sie einen Arbeiter-Diskussions-Club betreibt. Einer ihrer Schützlinge ist der württembergische Schreiner Toni Waibel, der 1919 die Räterepublik in Würzburg ausruft. Sie selbst unterzeichnet in dieser Zeit einmal einen Brief mit „Alte vom Berg” - in Anspielung auf den Gründer der Assassinen-Terror-Sekte. Ironie? An solchen Stellen lässt Bochsler die Bewertung offen. Sie hält konsequent Distanz zu ihrer Heldin.
Die beginnt immer neue Projekte, finanziert sich mit dem Vertrieb eines Bodenwachsmittels und unternimmt mehrere Anläufe für Kolonieansiedlungen sozialutopischer Prägung. Letztlich gelingt das in der Nähe des Monte Verità, und es bleibt der Eindruck, dass Hardegger sich während der dreißiger Jahre dort in Machtlosigkeit vor den Geschehnissen in Deutschland verschanzt, vor dem Nationalsozialismus, dem schrecklichen Tod Erich Mühsams im KZ, vor dem Scherbenhaufen ihrer Generation. In diesen Jahren zeigt sich bei ihr ein Hang zur Esoterik, zu Horoskopen, zu einer diffusen Spiritualität. Sie baut eine Reform-Bäckerei auf und verkauft Frucht-Vollbrot. Eines der letzten Fotos zeigt Margarethe Hardegger weißhaarig und zerzaust am Wegrand sitzen, zwischen lässig gekleideten jungen Leuten. Es ist 1963, irgendwo zwischen Lausanne und Genf, beim ersten Ostermarsch der Friedensbewegung in der Schweiz. Längst hat eine andere Zeit begonnen. Wo deren Träume begannen - vieles darüber steht in diesem Buch.
CLAUDIA TIESCHKY
REGULA BOCHSLER: Ich folgte meinem Stern. Das kämpferische Leben der Margarethe Hardegger. Pendo Verlag, Zürich 2004. 456 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Antje Schrupp begrüßt es sehr, dass die Schweizer Sozialistin Margarethe Hardegger nun endlich mit zwei Biografien gewürdigt wird, wenn sie auch findet, dass beide Bücher dieser bedeutenden Protagonistin der Schweizer Arbeiterbewegung nicht wirklich gerecht werden. Die Biografie von Regula Bochsler nähert sich Hardegger auf chronologischem Wege und schildert die wichtigsten Stationen dieses bewegten Lebens, stellt die Rezensentin fest. Allerdings moniert Schrupp, dass die Autorin viel zu viele "nebensächliche Details" aufbietet und Hardegger zwar als "Geliebte berühmter Männer" mit ständigen finanziellen Schwierigkeiten vor Augen führt, über ihre politischen Ansichten und Aktivitäten aber kaum etwas erzählt. Eine Biografie, die Hardeggers politischen Überzeugungen und ihre "alltägliche, persönliche Lebensführung" gemeinsam betrachtet, steht also noch aus und wird die Aufgabe zukünftiger Biografen sein, so Schrupp abschließend.

© Perlentaucher Medien GmbH