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Was tun, wenn man fünfundzwanzig wird und dort lebt, wo Russland und Asien ineinander übergeben, im sibirischen Minusinsk. Roman arbeitet nach dem Militärdienst als Kulissenschieber im Stadttheater, fühlt sich als Künstler, träumt von der idyllischen Kindheit oder von der Liebe - und schlägt doch nur die eintönige Zeit tot, mit den Kumpanen des Wohnheims, den Kollegen und seinen Maler- und Musikerfreunden beim Saufen. Romans Eltern, ehemals Idealisten, die die Kultur in die sowjetischen Republiken tragen wollten, leben vom Gemüseanbau in einem benachbarten Dorf. Die Seelen trösten oder…mehr

Produktbeschreibung
Was tun, wenn man fünfundzwanzig wird und dort lebt, wo Russland und Asien ineinander übergeben, im sibirischen Minusinsk. Roman arbeitet nach dem Militärdienst als Kulissenschieber im Stadttheater, fühlt sich als Künstler, träumt von der idyllischen Kindheit oder von der Liebe - und schlägt doch nur die eintönige Zeit tot, mit den Kumpanen des Wohnheims, den Kollegen und seinen Maler- und Musikerfreunden beim Saufen. Romans Eltern, ehemals Idealisten, die die Kultur in die sowjetischen Republiken tragen wollten, leben vom Gemüseanbau in einem benachbarten Dorf. Die Seelen trösten oder vergiften sich diese Existenzen, Maulhelden, dealende Kleinkriminelle oder einfach nur Ratlose wie Roman, mit billigem Wodka - und der heißt in Minusinsk, mit sprechendem Namen, Minus. Minus: ein Debütroman, der die gewohnten Formen postsowjetischer Literatur hinter sich läßt und stattdessen authentisch und ironisch, schonungslos aber auch verständnisvoll von Menschen aus der rauen und schäbigen Provinz erzählt. Minus liest sich als aufregender Bericht über eine sibirische 'lost generation' - ohne Geld aber mit Lebensmittelmarken, mit wenig Zukunft aber mit vielen Vorsätzen: "Wir müssen uns etwas Ernsthaftes einfallen lassen ... heutzutage muss man zuschlagen."
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2004

Tief unten
Negativer geht’s nimmer: Roman Secin besichtigt ein Minus
Nur in der Gegenwart zu leben, mag hierzulande erstrebenswert klingen – im postsowjetischen Sibirien scheint es die Hölle zu sein. Eine, in der illegal gebrannter Fusel namens „Zigeunerin” zur Wegzehrung gehört und die Nähe einer Frau zwangsläufig zudringlich werden lässt. Minusinsk heißt die sibirische Stadt an der Grenze zu Asien, in der der Protagonist von Roman Sencins Roman „Minus” seine Tage mehr übersteht als durchlebt. Dorthin ist er mit den Eltern vor der Gewalt gegen Russen nach der Unabhängigkeit seiner sowjetischen Heimatrepublik geflohen. Die ehemaligen Kulturfunktionäre schlagen sich in einem nahen Dorf als Kleinbauern durch, ihr erwachsener Sohn ist Bühnenarbeiter am Stadttheater und hofft, dass es ihm nur nicht zu gut geht. Denn „dann kommt sofort etwas Schlimmes auf einen zu. (...) Wenn alles normal läuft, dann ist es gut ...”.
Normal läuft es, wenn der karge Lohn in wenig nützlichen Warengutscheinen ausgezahlt wird, wenn jeden Tag Geld für eineinhalb Liter „Zigeunerin” zusammengekratzt werden kann, wenn einer der Nachbarn im riesigen Wohnheim einen Joint herausrückt, wenn ein anderer den Beginn seines Militärdienstes mit Strömen von Wodka feiert und alsbald bewusstlos mit dem Kopf auf dem Tisch liegt, so dass der gierigste Gast auf die Ehefrau losgehen kann. Normal sind die Langeweile und die Ödnis. Dass das Theater Schauspielern wie Besuchern Rausch und Ekstase verschafft, erfüllt den Bühnenarbeiter mit Verachtung: ist doch alles nur Betrug. Die Hoffnung, weiß eine der Figuren, „ist das größte Übel, sie, nur sie, richtet die Menschen zugrunde”. Fast ergeht es dem Erzähler so mit seiner einzigen Hoffnung: einem Mädchen mit kastanienbraunen Haaren, das er zweimal von hinten gesehen hat.
Dieses Sibirien von unten verlangt nach einem harten Kerl als Erzähler. Doch Sencin schickt einen jungen Mann vor, den beim Kiffen schon ein Läuten an der Wohnungstür ästhetisch aus der Bahn wirft. Er lässt das Klingeln nicht nur von einer Figur durch ein recht überflüssiges „Mist, wer ist das?” kommentieren, sondern schiebt auch noch ein furchtsames „Tatsächlich, wer konnte da einfach aufkreuzen?” hinterher. So also sieht die Gedankenrede aus, wenn die Gedanken fehlen. Nicht zufällig heißt dieser Hasenfuss genauso wie der 32-jährige Autor, dem die Erlebnisse offenbar noch immer an die Nieren gehen.
Erstaunlich, dass der erzählende Roman Sencin trotzdem mit verächtlicher Geste auf die philosophischen Gedanken verzichtet, die er als Pubertierender wälzte; erstaunlich, dass ihm seine Zeit als Punk-„Extremsänger” genauso fern ist. Der Autor Roman Sencin scheint diesen doppelten Verzicht auf Erfahrungen, der Hand in Hand geht mit jenem auf literarische Traditionen, für die Voraussetzung eines ungetrübten Blicks zu halten. Doch die angestrebte Illusionslosigkeit schlottert wie ein aus dem Theaterfundus entliehener Frack um sein Alter Ego.
JÖRG PLATH
ROMAN SENCIN: Minus. Roman. Aus dem Russischen von Ulrike Zemme. DuMont Literaturverlag, Köln 2003. 318 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Zwanzig Grad unter Null Bock
Holden Caulfield in der Steppe: Roman Sencin seziert die russische Provinz / Von Stefanie Peter

Schon der Name dieses südsibirischen Ortes hat etwas Defizitäres: Minusinsk. Als ob alles, was dort geschieht, negativ vorbelastet wäre. Und in der Tat, hier steht ein jeder in der Kreide: der Sohn beim Vater, der Ehemann bei seiner Frau, die Mitbewohnerin bei ihrem Nachbarn et cetera. Man ist sich etwas schuldig, gegenseitig, am meisten aber eigentlich sich selber. Minusinsk ist die Stadt, die allen alles abverlangt. Wie der einheimische Wodka, "Minus", den Gesichtern die Flüssigkeit entzieht, sie allmählich ausdörrt zu Rosinen, so subtrahiert die kleine Stadt mit dem negativen Vorzeichen das Leben.

Kein schönes Bild, das Roman, der Ich-Erzähler in Roman Sencins Debütroman "Minus", von seinem Wohnort am Rande der Steppe zeichnet. Doch wer die Verhältnisse in diesem postsowjetischen sibirischen Jetzt durchschaut wie er, zieht bittere Bilanzen. Die alte russische Stadt war einst ein Vorposten an der Grenze zu den asiatischen Turkvölkern. Das spürte Roman, wenn er dort als Kind seine Großmutter besuchte. Damals waren die Märkte noch Basare, und man sagte "Wochenende" statt "weekend". Heute hingegen "wird alles mit großer Mühe gemacht", das Leben bewegt sich "schlaff und zähflüssig wie das Blut in den Venen eines Greises". Aus Minusinsk geht kein Zug nach Westen. Fast alle, die hier leben, sind Ausgewanderte aus China, Vietnam, Kasachstan. "Man denkt, die sollten eigentlich dieses Städtchen aus seinem hundertjährigen Schlaf erwecken, aber nein, alle lösen sich darin auf wie unnützes Pulver im Sumpfwasser, das weder seine Farbe noch seinen Geschmack beeinflußt . . . " In Romans Wohnheim, einem anonymen fünfstöckigen Hochhausblock, kommen sie zusammen. Er selbst ist mit seinen Eltern aus Kyzyl, der Hauptstadt der Republik Tuva, hergezogen. Als Tuva unabhängig wurde, brachen sich dort antirussische Ressentiments und Gewalttaten Bahn, und mit einem Mal wurde ihr Alltag lebensgefährlich. Während sich Mutter und Vater auf dem Dorf in der Umgebung ansiedelten und nun Gemüse anbauen, schiebt Roman Kulissen am Minusinsker Stadttheater. Sein Militärdienst liegt einige Jahre zurück, früher machte er Musik, heute bezeichnet er sich manchmal als Dichter. Wenn er nicht arbeitet, spielt er mit seinen männlichen Kumpanen Karten oder gibt sich den Träumen vom großen Leben hin. Schokoladenbraune Frauen kommen darin vor, warmes Meer, Kokospalmen und weiße Yachten. Weil diese Träume aber in der Regel aus hochprozentigem Stoff, großen Mengen Haschisch, Gras oder Taigakräutertee gemacht sind, ist die Enttäuschung beim Erwachen um so stärker. "Sich umsehen, zusammenreißen, auf die zersprungenen Fliesen spucken und fluchend in das ekelhafte Leben zurückkehren, das einem zum Hals raushängt, aber doch das eigene ist und das einzige, was man hat." Wenn der Bühnenarbeiter könnte, würde er sein Wohnheimzimmer manchmal gern in einen luxuriösen Salon verwandeln.

Es ist merkwürdig: Ein Autor vom Jahrgang 1971, eine Romanhandlung angesiedelt im zeitgenössischen kleinstädtischen Südsibirien - da müßte doch auf über dreihundert Seiten wenigstens einmal das Mobiltelefon klingeln. Tut es aber nicht. Es gibt in diesem Buch auch niemanden, der per SMS grüßt, seine elektronische Post nachschaut oder Internetseiten anklickt. Als hingen Lëcha, Pavlic, Lena und all die anderen Existenzen in diesem Buch dauerhaft in einem Funkloch. Zu den Diskos der Minusinsker jeunesse dorée bleibt ihnen der Zutritt versagt. Und ins Handelszentrum, das Herz der Stadt, wo das Leben pulsiert, fahren sie fast nie. Als Romans Mutter ihm einmal neue Klamotten kauft und er Bargeld in der Tasche hat, reißt er dort ein Mädchen auf. Zu Hause angekommen, weigert sie sich, aus dem Taxi zu steigen: "Ist das ein Wohnheim? Auf Wiedersehen."

Wünschen tun sie alle in Minusinsk, und träumen, vom großen Leben. Aber nur noch wenige glauben daran, daß es besser wird. "Nicht umsonst spucken sich die Menschen über die linke Schulter, um etwas nicht zu verschreien, und wiederholen dabei immer wieder: Wenn Gott will . . . Wenn nur alles gutgeht . . . Sie haben Angst, sich herzlich über etwas zu freuen, Zukunftspläne zu schmieden. Ich weiß das aus eigener Erfahrung: Man freut sich, und kurz darauf möchte man sich aufhängen."

Roman beobachtet seine Umwelt haarscharf, sieht, wie die Leute sich ihre Weltbilder zurechtbasteln und wo es mit den Erklärungen hapert. Ganz gleich, ob er seinen Trinkgenossen zuhört, wenn sie - wie Pavlik, der Drogenschmuggler - von französischer Literatur schwärmen, anschließend radikale "Eßt die Reichen"-Phantasien ausbreiten und - wie Sura, der Maler - auf einen Esoteriktrip kommen. Oder ob er aufs Dorf fährt und sich von seinem Vater, einem enttäuschten Idealisten, Litaneien darüber anhören muß, warum er und seinesgleichen nach der Wende die Chance auf den großen Coup verstreichen ließen und jetzt keine Zukunft mehr sehen. Oder ob er sich die Leidensgeschichte einer Frau erzählen läßt: Ihre Tochter war das, die immer in der Gemeinschaftsküche des Wohnheims auf dem Fensterbrett gesessen und hinausgestarrt hatte. Eines Tages ging sie auf den Strich, und plötzlich war sie verschwunden. Am Morgen nach dem Gespräch wird die Mutter tot aufgefunden. Im Wohnheim kümmert das niemanden. Jeder ist ums Fortbestehen der eigenen dumpfen Existenz bemüht. Und manchmal dreht jemand durch.

Zwischenmenschliche Begegnungen hält Sencin in all ihrer Intensität fest. Man spürt das Kaputte, die Gleichgültigkeit, das ganze Unglück, die Abgestumpftheit und Lähmung, bis es einem beinahe die Kehle zuschnürt. In der Hauptfigur mischt sich Naivität mit einer Kraft- und Hoffnungslosigkeit, wie man sie von einem Fünfundzwanzigjährigen nicht erwartet. Die Welt der Älteren betrachtet er bisweilen mit den Augen eines Holden Caulfield. Ist das die conditio humana an den Rändern des neuen Rußland, die Sencin hier, gut zehn Jahre nach dem Systemwechsel, vor Augen hat? "Ich sehe nach oben. Über meinem Kopf hängt der farblose Himmel, weder dunkel noch hell, weder hoch noch niedrig. Unklar, was das sein soll. Ab und zu fällt etwas runter. Regen oder Schnee." So unprätentiös dieser Roman daherkommt, er berührt mit emotionaler Eindringlichkeit alles Existentielle. Wer ihm folgt in eine unbedeutende Stadt zwischen Tuva, Burjatien und Chakassien, eine Welt zwischen Dorfleben, Stausee, Wohnsilo und Handelszentrum, wird es so schnell nicht mehr vergessen.

Roman Sencin: "Minus". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Ulrike Zemme. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 318 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Großen Eindruck hat dieser Debütroman auf Rezensentin Stefanie Peter gemacht, dessen Hauptfigur sie an J.D. Salingers Holden Caulfield erinnert hat. So unprätentiös der Roman daherkomme, er berührt für sie mit emotionaler Eindringlichkeit alles Existentielle. Ist dies die "conditio humana" an den Rändern des neuen Russlands? fragt sie erschreckt. Schauplatz ist, wie Peter uns wissen lässt, die Kleinstadt Minusinsk am Rand der sibirischen Steppe. Der Erzähler beobachte seine Umwelt haarscharf, sehe, wie Leute sich ihre Weltbilder zurechtbasteln und wo es hapere. Zwischenmenschliche Begegnungen findet die Rezensentin in all ihrer Intensität festgehalten. Sie spürt das Kaputte, die Gleichgültigkeit, das ganze Unglück, die Abgestumpftheit und Lähmung, "bis es einem beinahe die Kehle zuschnürt". Protagonist Roman lebt, lesen wir, in einem Wohnheim, das in einem Hochhausblock liegt. In ihm mischt sich für die Rezensentin Naivität mit einer Kraft- und Hoffnungslosigkeit, wie sie es bei einem Fünfundzwanzigjährigen nicht erwartet hätte.

© Perlentaucher Medien GmbH"