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Was nach Lévy-Strauss typische Denkmuster der sog. Primitiven sind und was nach Foucault in Europa bis zum 16. Jahrhundert das Begreifen der Welt bestimmte, nämlich das Denken in Analogien, die Ähnlichkeitsepisteme, eben: das ,Wilde Denken' steuert auch heute noch in westlichen Kulturen menschliches Erkennen und Begreifen. Das demonstriert die Beziehung zwischen Neuer Musik und der Idee vom Ende der Geschichte. Verschiedene Musikschriftsteller und Komponisten, allen voran Theodor W. Adorno und Wolfgang Rihm, interpretierten und konzipierten zeitgenössische Musik in Bezug auf eine technologisch…mehr

Produktbeschreibung
Was nach Lévy-Strauss typische Denkmuster der sog. Primitiven sind und was nach Foucault in Europa bis zum 16. Jahrhundert das Begreifen der Welt bestimmte, nämlich das Denken in Analogien, die Ähnlichkeitsepisteme, eben: das ,Wilde Denken' steuert auch heute noch in westlichen Kulturen menschliches Erkennen und Begreifen. Das demonstriert die Beziehung zwischen Neuer Musik und der Idee vom Ende der Geschichte.
Verschiedene Musikschriftsteller und Komponisten, allen voran Theodor W. Adorno und Wolfgang Rihm, interpretierten und konzipierten zeitgenössische Musik in Bezug auf eine technologisch dominierte, dehumanisierte und letztlich geschichtlich erstarrte Gesellschaftsverfassung - das Ende der Geschichte, wie es Soziologen und Philosophen in Schreckensvisionen entworfen hatten.
Wildes Denken in der Neuen Musik rekonstruiert die Hintergründe dieser ungewöhnlichen Beziehung zwischen Musik und dem Endgeschichtsgedanken. Es zeigt, wie in den 50er Jahren Adorno, der eigentliche Urheber der Musik-Endgeschichtsbeziehung, sein Aufsehen und Protest erregende Kritik der Neuen Musik auf die Idee vom Ende der Geschichte stützte, indem er auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen seriellen Kompositionstechniken und einer endgeschichtlichen Weltverfassung hinwies. Adornos Kritik blieb nicht ohne Konsequenzen. Obwohl die strukturellen Gemeinsamkeiten den verglichenen Phänomenen - der Musik und dem Endgeschichtsgedanken - lediglich äußerlich sind, verlieh die Ähnlichkeitsepisteme Adornos Argumentation soviel Plausbilität, daß in den 70er und 80er Jahren Komponisten wie Wolfgang Rihm und Luigi Nono Musik ,gegen die endgeschichtliche Bedrohung' schrieben.
Autorenporträt
Beate Kutschke ist promovierte Musikwissenschaftlerin und als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin tätig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Den Musikblock aus sich herausmeißeln
Noch einer, der am liebsten redet: Neu gedeutete Texte von, mit und über Wolfgang Rihm / Von Gerhard R. Koch

Bilde Künstler, rede nicht! Wenige Sätze der deutschen Geistesgeschichte haben so fatal gewirkt wie dieses Diktum Goethes. So recht er mit der Auffassung hatte, daß sich der Künstler hauptsächlich in seinem Werk zu manifestieren habe, so verheerend einseitig wurde die Mahnung als Tabu genommen: ästhetische Reflexion sei bedingungslos dem "Schaffen" hintanzustellen. Doch gerade in der angeblich so begriffslos-ungegenständlichen Musik verfängt solche Polarisierung kaum. Im Gegenteil: Grétry, Rousseau, E.T.A. Hoffmann, Schumann, Berlioz, Liszt, Wagner, Debussy, Busoni, Pfitzner, Schönberg, Ives, Boulez, Stockhausen, Kagel, Henze, Schnebel, Lachenmann - sie alle haben permanent auch schriftstellerisch ihre Kunst reflektiert, auch propagiert, fast als seien es zwei Medien, wenn nicht Seelen in ihrer Brust. Man muß dabei nicht so weit gehen wie Liszt, der deklarierte: "Schumann war Eingeborener in beiden Ländern."

Unter den jüngeren Komponisten ist es der fünfzigjährige Wolfgang Rihm, der die Gewaltenteilung des eigenen Ich so intensiv lebt wie kaum ein anderer. Sagt man von manchen Musikern: Komponieren, Aufführen, Hören sei ihr Lebenselixier, so hat man bei Rihm diesen Eindruck auch beim Schreiben oder Reden: Lust an der sprachlichen Selbstentäußerung, in Notat, Vortrag oder Diskussion, selbst privatem Gespräch scheint ihm essentiell. Und so wie ihm in Gestus und Klang von Musik, nicht nur der eigenen, das "Haptische" überaus wichtig ist, so stellt sich das Gefühl ein, daß Sprache für ihn etwas vom paraerotischen Fluidum hat.

Diese elementare Affinität zum "Material" ist bei Rihm indes nicht nur auf Musik-Sprache/Sprach-Musik beschränkt; Film und Bildende Kunst stehen ihm ähnlich nahe. Und keineswegs zufällig sind denn auch entsprechende Metaphern. So möchte er am liebsten alle seine Werke "Gebilde" nennen. Ja mehr noch: 1978 sprach er von dem "Musikblock" in sich, den es herauszuarbeiten gelte. Im Museum des Mailänder Castello Sforzesco gibt es eines der großartigsten Beispiele des Ineins von Werk und Entstehungs-Prozeß, den Torso von Michelangelos "Pietà Rondanini": Da spürt man Mühe, Schmerz und Glück des Aus-sich-Herausarbeitens. Wolfgang Rihm ist nicht nur bisweilen beängstigend produktiv, auch die Arbeit selber scheint ihm rasch von der Hand zu gehen - beim Komponieren wie Formulieren. Die Lust am Gelingen des Spagats zwischen mitunter schier archaischer Wucht und artistischer Distinktheit, selbst Eleganz, gerade im Wortgewirke, ist immer wieder gegenwärtig. Texte muß man von ihm hören, will man ihren transliterarischen Klang leibhaftig erfahren.

Der unerhörten Vielfalt und Fülle von Rihms Werkverzeichnis entsprechen Zahl und Variabilität seiner Publikationen. 1997 erschienen zwei stattliche Bände mit Schriften und Gesprächen: "ausgesprochen". Deren Herausgeber, Ulrich Mosch, hat nun einen Sammelband ediert, der nicht eben wenige schon publizierte Beiträge enthält, gleichwohl diese neu vernetzt und beleuchtet. "Offene Enden" heißt die Kollektion, und Offenheit, Anti-Dogmatik ist in der Tat für Rihm typisch, der gleichermaßen Busoni und Pfitzner, Nono und Cage, Schostakowitsch und Feldman liebt: für Orthodoxe ein Affront. Aber Rihms Schriftsteller-Bewegung ist dialektisch: So freizügig er ist, so sehr gilt auch für ihn Max Frischs Formel: "Schreiben heißt sich selber lesen". Insofern haben auch Rihms Texte ihr bisweilen Monologisierendes. Ebendarin aber liegt die Abwehr des Narzißmus. Bezeichnenderweise heißt der einzige Original-Beitrag "Notiz über den Eigenwert von Programmheft-Einführungen" (1993). Paradoxie und Ambivalenz werden da deutlich: der Widerwillen, sie zu verfassen, die Lust an der Selbstdarstellung, aber auch der Glaube "an die genuine Unverständlichkeit und Unvereinbarkeit von Kunst". Gleichwohl: "Verstehen ist Prozeß ... also immer utopisch." Rihm liebt solche Spannungen.

Dazu gehört auch das Verhältnis zur Kritik, die er ebenfalls utopisch sieht - so etwa, wenn er großen Kritiker-Begabungen die "Gnade der Kompetenz" zuschreibt: "Ihnen kann nichts vorgemacht werden. Also müssen auch sie nichts mehr vormachen." Um so mehr lautet seine Konklusio: "Die einzige Form von Kritik an Kunst ist Kunst." Da setzt der sonst so Tolerante scharf auf die ausschließende Kraft in der Immanenz des Ästhetischen. Und da ist er auch dem Autonomie-Ethos der von Adorno beschworenen "musique informelle" nahe. Der späte Nono ist für Rihm wichtig geworden: als "Wanderer", für den der Weg zum Ziel wird. Ein schönes Kafka-(Gegen?)Modell hat er hierfür gefunden: "Es gibt nur ein Ziel, keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern." Daß der unablässig schreibende Rihm gerade von dieser Sphäre fasziniert ist, mag kein Zufall sein, ja mit Abwehr, zumindest Kompensation zu tun haben. Denn: "Jeder Klang ist Hinweis auf den Tod." Die großen Botschaften lehnt er ab: "Je vieldeutiger, desto humaner". Ebendeshalb wahrt der Cinéast Distanz gegenüber dem Film, beharrt auf dem Lebendig-Unabgeschlossenen des (Musik-)Theaters.

Wie eng Rihms Beziehungen zur Malerei sind, belegt der (Bild)Band "Brustrauschen. Zum Werk-Dialog von Kurt Kocherscheidt und Wolfgang Rihm" (Hatje Cantz), in dem man viel über die medial-personale Interaktion der beiden erfährt. Eine Wergo-CD liefert das klingende Gegenstück. Der Musiker Rihm gebietet über eine neiderweckende Repertoire-Kenntnis; selbst entlegenste Stücke vermag er zu identifizieren. Die Historie ist ihm alles andere als ein totes Buch. Für die Musikwissenschaft ist sie dies leider allzu oft gewesen: eine Tauben-Disziplin. Wie schöpferische Energie und geschichtliches Denken kreativ ineinandergreifen können, belegen zwei grandiose Dialog-Veröffentlichungen: zwischen Hans-Heinrich Eggebrecht und Matthias Spahlinger (Musik-Konzepte) und zwischen Rihm und Reinhold Brinkmann (ConBrio). Wer erfahren möchte, wie Wissen, Hören, Denken und Fühlen im Gespräch sich steigern, wird beiden Bänden bewegende Erkenntnisse zu verdanken haben. Und auch die Einsicht, wie eine Musikwissenschaft, die ihren Doppel-Namen wahrhaft verdient, als konkret utopische Verpflichtung aussehen könnte. Schon seit längerem hat sich eine solcherart offene Musikologie auch Rihm zugewandt. Jüngstes Zeugnis ist Beate Kutschkes Buch "Wildes Denken in der neuen Musik. Die Idee vom Ende der Geschichte bei Theodor W. Adorno und Wolfgang Rihm". Instruktiv und materialreich fächert sie die ästhetisch-geschichtsphilosophischen Komplexe auf. Doch deren Entschlüsselung und die reale Rezeption des Komponierten zeigen eine Kluft. Kutschkes These, daß Nonos "Prometeo" im Gegensatz zu Rihms eher sponteneistischer Art "präzise durchkonstruiert" sei, ist nur die halbe Wahrheit: Aufführungen von Nonos Spätwerken erweisen sich in Mikro-Intervallik, Live-Elektronik und Raumklang-Bewegungen als relativ "offen" - analog zu Rihms "Enden".

Wolfgang Rihm: "Offene Enden". Denkbewegungen um und durch Musik. Edition Akzente. Hanser Verlag, München 2002. 296 S., br., 19,90 .

Beate Kutschke: "Wildes Denken in der neuen Musik". Die Idee vom ,Ende der Geschichte' bei Theodor W. Adorno und Wolfgang Rihm. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002. 338 S., br., 44,- .

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Beate Kuschkes "Wildes Denken in der neuen Musik" zeugt nach Einschätzung des Rezensenten Gerhard R. Koch von der Offenheit der neueren Musikologie, die sich nun seit einiger Zeit auch dem Komponisten Wolfgang Riehm zugewandt hat. Er lobt die Autorin für ihre "instruktive und materialreiche" Darstellung des ästhetisch-geschichtsphilosophisches Problemkomplexes. Allerdings erblickt Koch zwischen Kuschkes theoretischen Ausführungen und seiner "realen Musikrezeption" eine Kluft. Gegen Kuschkes These, dass Nonos "Prometeo" im Unterschied zu Riehms "eher spontaneistischer Art" eine präzis kalkuliertes Konstrukt sei, macht Koch geltend, dass sich Aufführungen von Nonos Spätwerken in Punkto "Mikro-Intervallik, Live-Elektronik und Raumklang-Bewegungen" ganz analog zu Riehms Kompositionen als relativ "offen" erweisen.

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