Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2000

Festlicher Mord am ewigen Juden
Pathetisch amoralisch: Gustav Landauers "Arnold Himmelheber"

König David begehrte Bathseba, das Weib des Uria. Er schickte Uria in den Krieg, an einen Platz, an dem er todsicher fallen musste, und freite Bathseba. Die Tat gefiel dem Herrn übel. Ludwig, ein junger Arzt, begehrte Judith, das schöne Weib des Viehhändlers Wolf Tilsiter. Er schickte den Tilsiter auf den Operationstisch, wo er mit ein wenig Nachhilfe starb, und freite Judith. Die Tat gefiel dem Landauer wohl - das ist der Unterschied.

Gustav Landauer, bekannt als Anarchist und Verfasser des emphatischen "Aufruf zum Sozialismus", 1919 ermordet, hat sich auch immer wieder als Literat versucht. Philippe Despoix und ein kleiner Berliner Verlag wollen mit einer Neuausgabe der zuerst 1903 erschienenen Erzählung "Arnold Himmelheber" daran erinnern. Die Novelle beginnt zart und poetisch, großäugig, bleich und schön. Am Ende steht ein Mord. Die Spannweite schafft Spannung, und wenn nur das Kriterium gälte, dass man sich nicht langweilt, dann wäre Landauers "Himmelheber" ein ziemlich gutes Buch.

Das Geschehen kreist um zwei Paare, Ludwig und Judith das eine, die schmächtige Lysa und ihr riesenhafter Vater Himmelheber das andere. An Ludwig und Judith wird gezeigt, dass Leben und Liebe sich über alles hinwegsetzen dürfen, auch über einen im Wege stehenden Viehhändler. An Lysa und Arnold wird gezeigt, dass Vater und Tochter miteinander schlafen können, warum auch nicht. Die beiden tragen ihren Inzest wie ein keusches Geheimnis, und er gewinnt Weihe dadurch, dass Lysa plötzlich und grundlos verlischt. Anders als derjenigen von Judith und Ludwig ist der Sünde von Arnold und Lysa keine Dauer beschieden. Der dröhnend vitale Himmelheber ("Drauf, sage ich, drauf! Dann bist du ein Mann!") - wo soll er nun hin mit seiner Potenz?

Der Anfang ist fein und geschmackssicher, geschliffen in der hohen Schule der Décadence. Bald aber schlägt die Theorie zu, und die Erzählung muss zum verlangten Ende gebogen werden, koste es, was es wolle, muss den von Nietzsche abgelernten Amoralismus beweisen, muss den matten Konventionen der Gesellschaft die schwarze Fahne vor die Nase stoßen. Ein Anarchist sollte doch vor allem frei sein, aber hier ist er gefesselt von der eigenen Doktrin, und das Doktrinäre zerstört die anfangs so feine Psychologie. Man muss gar nicht mit Moral kommen. Auch ohne das fünfte Gebot ist der Mord an Tilsiter unzulässig, weil er nämlich literarisch und psychologisch schlecht gemacht ist. Die primitivste aller Lösungen wird gewählt: Tilsiter sei ein Schwein, kein Mensch. Schweine kann man ja töten.

Noch schwächer ist die Motivation des Inzests. Die pure Lust nach Übertretung staffiert sich aus mit sakralem Vokabular. Die sterbende Mutter habe ihr den Vater übergeben, behauptet Lysa. "Ich und die Mutter sind eins", fügt sie, ein Jesuswort umkehrend, hinzu. Auch ihr Himmelheber kommt biblisch daher. "Die Liebe aber höret nimmer auf", kündet er. "Ich entsündige euch", predigt er im Mondenschein und wirft jauchzend die Kleider ab. "Ich bin der ewige Heide! In alle Ewigkeit möchte ich das Leben so schlürfen, wie ich diesen Wein hier trinke. Es gibt keine Sünde, es gibt nur Leben. Das Leben aber höret nimmer auf."

Er ist Arzt, auf seinem Operationstisch starb Wolf Tilsiter. Die Tat geschah im mythischen Auftrag, denn Tilsiter ist nicht nur privat ein Schwein, sondern der Repräsentant aller Schweine, ein fataler Typus, "der ewige Jude, der keine Liebe und keine Freude kennt". Pogrome wetterleuchten in der Ferne. Wer kämpft hier gegen wen? Der Anarchist lässt den Viehhändler über die Klinge springen, beide sind Juden. Die Erzählung ist ein Zeugnis tragischer Verblendung. Es fällt schwer, aus ihr ein vernünftiges Programm deutsch-jüdischer Symbiose herauszulesen, wie es Philippe Despoix im Nachwort entwickelt. Sowohl das deutsch-deutsche Paar (Lysa und Himmelheber) wie auch das jüdisch-jüdische müssten scheitern (Judith und Tilsiter). Zukunftsfähig sei nur "eine Konstellation, in der sich weiblisch-Jüdisches und männlich-Deutsches paaren und zugleich die jüdische sowie die christliche Religion verabschiedet werden."

"Du sollst nicht morden", lautet das fünfte Gebot. "Du sollst nicht ehebrechen" das sechste. Angesichts der Tafeln vom Sinai ist die Schlussszene, in der die zwei Paare neben der Leiche des Tilsiter nackend im Mondschein herumhüpfen, niedrig, peinlich und lächerlich, wie der Tanz ums goldene Kalb. "Fluch dem Menschen", schreibt Thomas Mann 1943, "der da aufsteht und spricht: Sie gelten nicht mehr" - die zehn Gebote, das A und O des Menschenbenehmens.

HERMANN KURZKE

Gustav Landauer: "Arnold Himmelheber". Eine Novelle. Herausgegeben und mit einem Kommentar versehen von Philippe Despoix. Philo Verlag, Berlin und Wien 2000. 124 S., br., 25,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit Hilfe eines kurzen Rekurses auf die biblische Geschichte von Bathseba und König David, ist Rezensent Herman Kurzke schon mittendrin in Landauers Novelle. Den Anfang findet Kurzke noch "fein und geschmackssicher, geschliffen in der Hohen Schule der Décadence". Bald aber missfallen ihm die inhaltlichen Positionen, der "von Nietzsche abgelernte Amoralismus" sehr. Und es fällt ihm schwer, aus der Geschichte "ein vernünftiges Programm deutsch-jüdischer Symbiose" herauszulesen, wie es Herausgeber Despoix im Nachwort entwickeln würde. Im Gegenteil: die Erzählung sei ein Zeugnis tragischer Verblendung.

© Perlentaucher Medien GmbH