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Die vorliegende Abhandlung versteht sich als empirische, textgestützte Untersuchung zur Wahrnehmung des Dritten Reiches in dem von der historischen Forschung bisher kaum beachteten Zeitraum 1945/46. Gegenstand der Analyse sind drei gesellschaftliche Bereiche, deren Repräsentanten in besonderer Weise beanspruchten, für das staatlose deutsche Volk einzutreten: Parteien, Kirchen und Universitäten. Als Materialbasis dienen programmatische Verlautbarungen, Hirtenbriefe und Synodalbeschlüsse sowie Reden, die zur Wiedereröffnung der Universitäten gehalten wurden. Untersucht werden das…mehr

Produktbeschreibung
Die vorliegende Abhandlung versteht sich als empirische, textgestützte Untersuchung zur Wahrnehmung des Dritten Reiches in dem von der historischen Forschung bisher kaum beachteten Zeitraum 1945/46. Gegenstand der Analyse sind drei gesellschaftliche Bereiche, deren Repräsentanten in besonderer Weise beanspruchten, für das staatlose deutsche Volk einzutreten: Parteien, Kirchen und Universitäten. Als Materialbasis dienen programmatische Verlautbarungen, Hirtenbriefe und Synodalbeschlüsse sowie Reden, die zur Wiedereröffnung der Universitäten gehalten wurden. Untersucht werden das Wahrnehmungsbild des Dritten Reiches, die angebotenen Erklärungen für die geschichtlichen Wurzeln und die Herrschaft des totalitären Staates, die Selbstprüfung wegen eines etwaigen eigenen Schuldanteils bzw. der jeweils vertretenen Klientel, die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, die Wertung des Widerstandes gegen das Regime und das Urteil über die Folgen der Herrschaft des Nationalsozialismus. Zwar wurden Nationalsozialismus und Drittes Reich stets einschränkungslos abgelehnt, die Antworten auf Genese und Herrschaftspraxis, Verbrechen und Schuld fielen bei den Repräsentanten der Parteien, Kirchen und Universitäten jedoch sehr unterschiedlich aus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2002

Was alles hereinbrach
Eike Wolgast fragt nach der frühen Wahrnehmung der Nazi-Zeit

Die Besatzungszeit und die Frühgeschichte des geteilten Deutschlands lassen sich nicht zuletzt als eine "Nachgeschichte" des Dritten Reiches verstehen, die von intellektuellen ebenso wie von politischen Auseinandersetzungen um die eigene Vergangenheit geprägt war. Diese Nach- und Bewältigungsgeschichte mit ihrem Spannungsfeld von Erinnerung und Verdrängung bildete in den vergangenen zehn Jahren eine der wichtigsten zeitgeschichtlichen Forschungsperspektiven. Insgesamt hat sie, wenn man ein vorläufiges Fazit versuchen will, zu einem eher kritischen Bild der späten vierziger und der fünfziger Jahre geführt - als Gegenakzent zu der Anerkennung gesellschaftlicher Modernisierung in der Nachkriegszeit.

Die ältere Vorstellung von einer völligen Sprachlosigkeit oder einem bewußten Be- und Verschweigen wich in den neueren Untersuchungen einem differenzierteren Bild: Zumal in den späten vierziger Jahren gab es vielfältige und ausdrucksstarke Formen der Erinnerung und der Vergegenwärtigung der Verbrechen, die erst im folgenden Jahrzehnt wieder zunehmend in den Hintergrund gedrängt wurden. Erinnerung und demokratischer Neuanfang gingen auch nicht unbedingt zusammen; es konnte, wie zuletzt Jeffrey Herf betont hat, eine Spannung zwischen Erinnerung und Demokratie geben.

Der Heidelberger Neuzeithistoriker Eike Wolgast, sonst eher in den ruhigen Gefilden früherer Jahrhunderte heimisch, hat sich jetzt auf dieses heißumkämpfte Terrain der deutschen Zeitgeschichte begeben. In seinem Buch untersucht er die Wahrnehmung des Dritten Reiches unmittelbar nach dessen Zusammenbruch bei den Eliten in politischen Parteien und Verbänden, christlichen Kirchen und Universitäten. Herausgekommen ist eine sehr quellennahe Untersuchung, die entlang der mit großer Akribie zusammengetragenen Selbstzeugnissen argumentiert.

Wolgast konzentriert sich dabei auf den öffentlichen Diskurs, wie er damals schon auf die Meinungsbildung in Ost- und Westdeutschland eingewirkt hat: Er verwendet Programme politischer Parteien, Erklärungen und Bekenntnisse der evangelischen und katholischen Kirche, Reden von Politikern und Rektoren. Sein erklärtes Ziel ist es, eine "Wahrnehmungsgeschichte" zu schreiben und damit nicht nur einen Beitrag zur Zeitgeschichte, sondern auch zu methodischen Experimenten der Historiographie zu leisten, welche die Vergangenheit als subjektiv erfahrene, mental gedeutete und sprachlich entworfene Vergangenheit rekonstruieren wollen.

In dem sorgfältigen Blick auf seine Quellen bestätigt der Autor im wesentlichen jene Einsichten und Ergebnisse, die auch von anderen Historikern formuliert worden sind - etwa in Jeffrey Herfs "Zweierlei Erinnerung", auf das Wolgast sich denn auch häufig bezieht. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten, die Judenpolitik des Dritten Reiches und der Holocaust spielten meistens eine auffallend geringe Rolle. Im marxistischen Lager dominierte die Einordnung des NS-Regimes in die historischen Schemata von Steigerung und Verfall des Kapitalismus und der "bürgerlichen Herrschaft".

Im bürgerlichen Lager knüpfte man dagegen gerne an ein kulturkritisch-konservatives Weltbild an, das den Nationalsozialismus entweder als Folge von Sittenverfall und Materialismus oder als ein Schicksal, das über die Deutschen "hereingebrochen" war, interpretierte. Auch insofern greift Eike Wolgast die Beobachtung von Herf auf, daß die frühe Erinnerung ebenso wie die Deutung des Dritten Reiches maßgeblich von Denkfiguren und ideologischen Mustern geprägt war, die noch aus der Zeit der Weimarer Republik oder des späten Kaiserreichs stammten.

Je nachdem, welche Institutionen und Eliten man in den Blick nimmt, fällt das Urteil dabei durchaus unterschiedlich aus. Am konstruktivsten war, so der Verfasser, der Umgang der Parteien mit der Nazi-Vergangenheit; ein gemischtes Bild ergibt sich für die katholische und evangelische Kirche; und am kritischsten wird die "Vergangenheitspolitik" (Norbert Frei) der Universitäten gesehen, was angesichts der politischen Herkunft und kulturellen Milieus ihrer Rektoren, unter denen sich deutlich weniger Emigranten oder Oppositionelle der Nazi-Zeit fanden als unter den Politikern, nicht verwundert.

Man merkt diesem Buch, in einem durchaus positiven Sinne, das persönliche Engagement seines Verfassers an. Dagegen stehen jedoch auch deutliche Grenzen. Gelegentlich finden sich eigenartig schiefe Urteile wie die Behauptung, die überlebende Politikergeneration aus der Weimarer Republik sei bis auf die Kommunisten als demokratisch ausgewiesen gewesen: Wo aber bleibt da das antidemokratische und antirepublikanische Spektrum auf der bürgerlichen Rechten, von der DNVP bis weit in die DVP hinein? Ob die Repräsentanten der Parteien, Kirchen und Universitäten ihrer Sprecherrolle für alle Deutschen "ohne Abstriche" nachkamen, mag man gleichfalls bezweifeln. Konzeptionell gesehen, stößt vor allem die Einengung der Untersuchung auf den engen Zeitraum von ein bis zwei Jahren auf Probleme. Wolgasts Studie trägt deshalb Züge einer Momentaufnahme; die dynamischen Elemente fehlen in seiner Interpretation des Stoffes. Seine Schlußthese, wichtige Elemente der Erinnerungskultur der fünfziger Jahre seien im Kern bereits 1945/46 formuliert worden, muß deshalb unbewiesen bleiben.

In methodischer Hinsicht bewährt sich der Versuch, Wahrnehmungsgeschichte im Zugriff auf unterschiedliche Institutionen und Organisationen aufzuschlüsseln, nur zum Teil. Weiterführend wäre vielleicht eher ein systematischer oder topischer Zugang gewesen, der gezielt nach der Wahrnehmung Hitlers, des Krieges, der Judenpolitik und so weiter gefragt hätte. Das Quellenkorpus ist relativ eng; Seitenblicke in andere Medien oder Diskurse gestattet Wolgast sich kaum. Er beklagt, daß die Rektoren Modelle gesamtgesellschaftlicher Neuordnung nicht entwickelten, aber seine Methode vermag solche Modelle auch kaum zu erkennen und aufzuschlüsseln. Man vermißt jenes Gefühl für die Eigenwertigkeit der Sprache, jene Sensibilität für die Bedeutung von Sprache und Diskurs als politische und gesellschaftliche Kraft sui generis, von der in der einen oder anderen Weise alle (älteren und neueren) Strömungen der Wahrnehmungs-, Diskurs- oder Begriffsgeschichte ausgehen. Dann kann man, zum Beispiel, das Nationale nicht einfach eine "Phrase" nennen. So gesehen, fehlt dieser Zeitgeschichte aus Heidelberg auch die intellektuelle Tradition - Heidelbergs.

PAUL NOLTE

Eike Wolgast: "Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/46)". Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2002. 360 S., geb., 36,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eigentlich ist Eike Wolgast Neuzeithistoriker, hat es also - wie der Rezensent Paul Nolte feststellt - sonst mit, aus heutiger Perspektive jedenfalls, ruhigeren Zeiten zu tun. Die Beschäftigung mit der deutschen Nachkriegszeit lasse, so Nolte, auf besonderes Engagement schließen und tatsächlich sei das dem Buch auch anzumerken. Der "sorgfältige Blick" auf die Quellen fehlt dennoch nicht. Die Ergebnisse des Quellenstudiums seien auch durchaus interessant, findet der Rezensent; keineswegs nämlich habe pauschale Verdrängung der jüngsten Vergangenheit stattgefunden. Die Parteien haben früh mit der Aufarbeitung begonnen, die Kirchen zögerlicher, die Universitäten kaum. Typisch sei freilich der Rückgriff auf die kulturkonservativen Denkmuster der Weimarer Republik gewesen. Einwände hat Nolte vor allem im Methodischen: Allzu wenig Sensibilität zeige Wolgast bei der Untersuchung von "Sprache und Diskurs", problematisch bleibe die Beschränkung auf den kurzen Zeitraum und die vergleichsweise wenigen Quellen.

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