Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 2,50 €
  • Gebundenes Buch

Lotta, Jocke, Anna und Asa besuchen eine Schule in Stensby, einer Trabantenstadt vor den Toren Stockholms. Auf dem Unterrichtsplan steht gemeinsames Werken mit der Klasse von Ylmaz und Zeynep. Lotta nennt sie die Türkenklasse. An der Decke hängt eine Fahne mit einem Halbmond. Es gibt oft Zoff mit den Türken. So wie heute. Das Geschrei im Klassenraum ist groß, Taschen fliegen durch die Gegend. Lottas Lehrerin lacht nervös. Sie sagt, daß die anderen Kinder mit ihnen nur Kontakt aufnehmen wollen. Sie sagt nie Türke. Und sie lobt die Girlande, die Lotta für Zeynep gebastelt hat. Bis Ylmaz aufsteht…mehr

Produktbeschreibung
Lotta, Jocke, Anna und Asa besuchen eine Schule in Stensby, einer Trabantenstadt vor den Toren Stockholms. Auf dem Unterrichtsplan steht gemeinsames Werken mit der Klasse von Ylmaz und Zeynep. Lotta nennt sie die Türkenklasse. An der Decke hängt eine Fahne mit einem Halbmond. Es gibt oft Zoff mit den Türken. So wie heute. Das Geschrei im Klassenraum ist groß, Taschen fliegen durch die Gegend. Lottas Lehrerin lacht nervös. Sie sagt, daß die anderen Kinder mit ihnen nur Kontakt aufnehmen wollen. Sie sagt nie Türke. Und sie lobt die Girlande, die Lotta für Zeynep gebastelt hat. Bis Ylmaz aufsteht und brüllt: "Ich habe Kontakt, mit wem ich will, aber nicht mit den Arabern und den Scheißschweden." Lakonisch, pointiert und ohne falsche Sentimentalität entläßt Lena Andersson die kleinen Helden ihres Romans in das scheinbare Idyll des friedlichen Miteinanders einer multikulturellen Gesellschaft. Was sie stattdessen vorfinden, ist eine Welt, in der Armut und Gewalt, familiäre Zerrütt ung und alltäglicher Rassismus, aber auch Freundschaften und Sympathien die Erfahrungen ihrer Kindheit und Pubertät bestimmen. Lena Andersson hat ein so gefährliches wie ehrliches Buch geschrieben, das unbequeme Fragen stellt und auch hierzulande eine heftige Debatte auslösen wird.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.04.2002

Kleiner Abgesang auf Bullerbü
Immer schon gestrandet: Lena Anderssons Roman „Die Idylle von Stensby”
Christus kam wohl nur bis Bullerbü. In Stensby, einer Stockholmer Trabantenstadt, herrscht vierzig Jahre nach Astrid Lindgrens Dorfgeschichten jedenfalls nicht die Idylle, die der deutsche Titel verspricht. Unweigerlich muss man ja an Lindgrens heile Schwedenwelt denken, wenn man Sätze liest wie diesen: „An einem der Fenster des Kindergartens steht Lotta Svensson und winkt ihrer Mutter zu. Sie hat Pfefferkuchenherzen gebacken, mit Glasur.” Dann aber kippt die Stimmung. „Das Plätzchen zerbricht, als sie winkt. Krümel fallen zu Boden, und sie bekommt klebrige Finger. Mutter ist böse und erschöpft. Sie reißt die Jacke vom Haken und tritt von einem Fuß auf den anderen. Die Einkaufstüte baumelt wie ein pralles Euter über Lotta.” Das hätte sie bei Astrid Lindgren nie getan, von der Lena Andersson stilistisch einiges gelernt hat. Wie Lindgrens Geschichten kann man ihren Roman als Allegorie des schwedischen Volksheimes lesen, freilich mit anders lautendem Befund: Die sozialen Verhältnisse sind inzwischen vollständig zerrüttet.
Lena Andersson hat Lotta, Anna, Mustafa und ein paar anderen Kindern aus Stensby eine Weile beim Erwachsenwerden zugeschaut. Der Roman, eine Folge von leichthändig geschriebenen Episoden, beginnt im Jahre 1973 und endet in der Gegenwart. Historische Daten markieren den Lauf der Zeit: die Abdankung Nixons, Gipfel zwischen Breschnew und Reagan, die Ermordung Olof Palmes, der Aufstieg Gorbatschows. Ein Faktum bleibt vom sonstigen Weltlauf unberührt: die Herrschaft der Sozialdemokratie. Lena Anderssons Roman ist eine im Ton heitere, in der Sache aber ziemlich unerbittliche Abrechnung mit der schwedischen Integrationspolitik. Von Stensby aus betrachtet, ist sie schon 1973 zum Scheitern verurteilt. Schon da jagen sich zwar die schulischen Themenwochen und Modellprojekte, und die Lehrerin bittet die Klasse, das Wort Türke zu vermeiden, da es als Schimpfwort aufgefasst werden könnte. Wenn es dann aber schon im Kindergarten „nach Köttbullar und Frittierfett, Mais, Curry, Zwiebeln und Kümmel” auf einmal riecht, kann der Glaube an die Begegnung der Kulturen nicht recht gedeihen. Auch ohne Einwanderer wäre Stensby kein Idyll: Nichts ist oder war hier je ‚intakt‘. Und sind nicht auch die so genannten Einheimischen letztlich nur Gestrandete? Man ist nicht Bürger in Stensby, es gibt dort kein Wir-Gefühl, auch wenn es die Pädagogen unablässig predigen. Trotzdem, wenn man wie Lotta und die anderen seine einzige Kindheit in Stensby und nirgendwo sonst erlebt, kommt man selbst hier nicht ganz ums Glück herum. Vielleicht ist der Titel doch nicht so ironisch gemeint, wie es zunächst den Anschein hat.
Das Hauptstück des Romans erzählt von den letzten Schuljahren Mitte der achtziger Jahre. Die Umgangsformen in Schule und Familie sind roher geworden, jeder kämpft, so scheint es, gegen jeden, und nur noch unter Lebensgefahr gelingt es dem Lehrpersonal, die schwedische Leitkultur zu vermitteln. Zwei Männer stehen auf dem Parkhausdach und wünschen Olof Palme den Tod. Er verkörpert für sie das Staatsprinzip der unbedingten Egalität. Im Kindergarten seines Sohnes, erzählt der eine, dürften auch Jungen Santa Lucia sein, nur damit sich niemand benachteiligt fühle. „Das ist schon wirklich krank”, meint der eine. Lotta will Filmkritikerin werden, aber die Berufsberaterin redet es ihr aus. Zu intellektuell, zu anspruchsvoll, meint sie. Noch immer jagt eine Themenwoche die nächste.
Man kommt nicht umhin, Lena Anderssons Roman als kleinen Abgesang auf die skandinavische Wohlfahrtspolitik zu verstehen. Mit Haut und Haaren hatte sich die Sozialdemokratie dem Projekt der Integration verschrieben. Als sie entdeckte, dass ihr dabei die Bevölkerung abhanden gekommen war, ruderte sie mit Macht zurück. Doch da hatte die Bevölkerung schon andere Parteien entdeckt, die sich gar nicht erst verbiegen mussten, um der Furcht vor Überfremdung ein Zuhause zu bieten. Die Idylle von Stensby wird es in der neuen, ungemütlicheren Welt der nordischen Länder bald nicht mehr geben.
CHRISTOPH
BARTMANN
LENA ANDERSSON: Die Idylle von Stensby. Roman. Aus dem Schwedischen von Karl Ludwig Wetzig. Eichborn Verlag. Frankfurt am Main 2002. 176 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Von Astrid Lindgren hat die schwedische Schriftstellerin Lena Andersson "einiges gelernt", meint Christoph Bartmann, doch nimmt ihr Roman einen anderen Verlauf und Ausgang als Lindgrens "Kinder von Bullerbü". Handlungsort ist hier Stensby, eine "Stockholmer Trabantenstadt", berichtet der Rezensent, in der es viel weniger idyllisch zugeht als in Lindgrens Dorfgeschichten. Über drei Jahrzehnte hat die Autorin, so Bartmann, eine Reihe von Kindern in ihrer Entwicklung beobachtet. Das Ergebnis findet der Rezensent ernüchternd: Was in Schweden lange Programm war, eine gelungene Integrationspolitik, scheint gründlich gescheitert zu sein. Andersson erzähle über viele Projekte einer "egalitären Gesellschaft", doch das, was der Staat geplant hatte, wolle die Bevölkerung wohl nicht mittragen. Jedenfalls nicht im "zerrütteten" Stensby, stellt Bartmann fest.

© Perlentaucher Medien GmbH