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Eine Geschichte von alttestamentarischer Wucht - John Burnsides großer Text über seinen Hass auf den Vater
Am Ende wünscht John Burnside seinem Vater nur noch den Tod. Er hat für den Mann, der über Jahre die Familie terrorisiert, der lügt und säuft, einzig Hass übrig. Doch er verbirgt seine Gefühle und schweigt. Bis die Begegnung mit einem Fremden ihn zwingt, sich seinen Erinnerungen zu stellen und diese Geschichte von alttestamentarischer Wucht zu erzählen.
Der Vater war ein Nichts. Als Säugling auf einer Türschwelle abgelegt. Zeitlebens erfindet er sich in unzähligen Lügen eine
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Produktbeschreibung
Eine Geschichte von alttestamentarischer Wucht - John Burnsides großer Text über seinen Hass auf den Vater

Am Ende wünscht John Burnside seinem Vater nur noch den Tod. Er hat für den Mann, der über Jahre die Familie terrorisiert, der lügt und säuft, einzig Hass übrig. Doch er verbirgt seine Gefühle und schweigt. Bis die Begegnung mit einem Fremden ihn zwingt, sich seinen Erinnerungen zu stellen und diese Geschichte von alttestamentarischer Wucht zu erzählen.

Der Vater war ein Nichts. Als Säugling auf einer Türschwelle abgelegt. Zeitlebens erfindet er sich in unzähligen Lügen eine Herkunft, will Anerkennung und Bedeutung. Er ist brutal, ein Großmaul, ein schwerer Trinker, ein Tyrann. Seine Verachtung zerstört alles, die Mutter, die Familie, John. Dieser hat als junger Mann massivste Suchtprobleme, landet in der Psychiatrie und erkennt in den eigenen Exzessen den Vater. Erst die Entdeckung der Welt der Literatur eröffnet ihm eine Perspektive. Nur einem Autor vom Kaliber John Burnsides kann es gelingen, eine solche, auch noch autobiographische Geschichte in Literatur zu überführen. So ist dieses Buch ein radikal wahrer Blick in die menschlichen Abgründe und zugleich eine Feier der Sprache.
Autorenporträt
Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011

Etwas Neues, das immer schon da war

Der Schotte John Burnside ist einer der größten Schriftsteller, und das Erinnerungsbuch "Lügen über meinen Vater" sein vielleicht stärkstes Werk.

Von Thomas Glavinic

Wie sich schreibend einem Autor wie John Burnside nähern? Wie sich über einen Schriftsteller äußern, dessen Werk einem so eindrucksvoll, so gewaltig erscheint, dass man lieber nichts sagen würde, lieber bloß jedem Menschen, dem man auf der Straße begegnet, seine Bücher in die Hand drücken und ihn zwingen würde, nach Hause zu laufen und das Haus nicht zu verlassen, ehe er nicht die letzte Zeile gelesen hat? Vielleicht muss man mit einem Hinweis beginnen. Die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy wird vom Knaus Verlag mit dem lapidaren Satz zitiert: "John Burnside ist ein bemerkenswerter Autor." Das ist möglicherweise das, was man britisches Understatement nennt, denn ihr 1955 geborener Landsmann ist einer der ungeheuerlichsten Schriftsteller der Welt.

In Deutschland wurde John Burnside mit "Die Spur des Teufels" sowie vor allem mit "Glister" bekannt, Romanen über Angst und Einsamkeit, über die Suche nach Gott in der Welt, doch vor allem in uns selbst, Büchern von hypnotischer Wucht und einer stilistischen Brillanz, die bei wenigen zeitgenössischen Autoren zu finden ist. Mit "Glister" gelang ihm sogar das Kunststück, in gewisser Weise zwei Handlungen zur gleichen Zeit stattfinden zu lassen, indem er uns auf einer Ebene des Textes den Mann, der Jungen aus dem verrotteten Dorf, in dem der Erzähler Leonard lebt, auf bestialische Weise tötet, als ein der übelsten Dunkelheit entstiegenes Monster lesen lässt, auf der anderen als Engel, der sie als Erlöser aus der Hölle ans Licht führt.

Nun erscheint sein im englischen Original 2006 veröffentlichtes Erinnerungsbuch "Lügen über meinen Vater" auf Deutsch. Der erste Absatz lautet: "Dieses Buch liest man am besten als ein Werk der Fiktion. Wäre mein Vater hier, um mit mir darüber zu reden, gäbe er mir bestimmt recht, wenn ich sagte, es sei ebenso wahr zu behaupten, dass ich nie einen Vater, wie dass er nie einen Sohn hatte." Damit ist vieles von diesem erdrückenden, erschütternden Buch über eine Kindheit und Jugend, die nie aufhört, ins spätere Leben fortzuwirken, gesagt.

Vordergründig geht es um das Aufwachsen des Erzählers, um seine Familie, um seinen Vater, den Alkoholiker und Gewaltmenschen, und um seine Mutter, die diesem nicht gewachsen ist und den Jungen während der nächtlichen Zornesausbrüche ihres Mannes drängt, aus dem Fenster zu springen und in der Nacht zu verschwinden, bis der Anfall vorüber ist. Es geht auch um seine Schwester Margaret und seinen Bruder Andrew, der bei der Geburt stirbt: "Ich bekam ihn nie zu sehen, doch hatte ich nun einen weiteren Geist, um den ich mich kümmern musste." Gesichtslose Onkel, Tanten, Bekannte, Saufkumpane des Vaters, Mitschüler, Lehrer und Freunde ziehen am Leser vorüber, doch auf jeder Seite wird vor allem von jenem Duell berichtet, das dieser Sohn mit seinem Vater ausfechten muss, das er annimmt, auf das er aber gern verzichtet hätte.

John Burnside erzählt von seiner Jugend in Schottland und England, von seinem Aufwachsen in strukturschwachen Ortschaften, in denen sich der Gelegenheitsjobs ausübende Vater je nach Laune und Trunkenheitsgrad immer wieder neue Geschichten über seine Herkunft ausdenkt, in denen er aber auch neue Grausamkeiten ersinnt, mit denen er den Sohn auf manchmal subtile, manchmal offenherzig brutale Weise quält, ob er nun ausspricht, was er fühlt, dass nämlich John derjenige hätte gewesen sein sollen, der bei der Geburt starb, oder ob er ihm schlicht den Teddy verbrennt: Das Gefühl des Ausgeliefertseins erschüttert den Leser auf jeder Seite. Dabei wird Burnside niemals sentimental, niemals larmoyant, er erzählt in luzider, kristallener Sprache von seinem eigenen Untergang ins Dunkle hinein, von seinem Weg in den Alkoholismus, in die Drogen, ins Verschwinden und Vergessen. Er erzählt von einem Leben, in dem der Vater immer präsent sein wird, in dem der Schatten jenes Mannes, den er hasst und liebt, immer über ihm sein wird: "Ich kann nicht über ihn reden, ohne über mich selbst zu reden, so wie ich nie in den Spiegel sehen kann, ohne sein Gesicht zu sehen."

Angst, Dämonen, funkelnde Schwärze, in uns und in der Welt: das ist es, was Burnside in seinen Büchern beschwört, in jedem einzelnen und in diesem besonders. Er erzählt eine ungemütliche Geschichte von einem Leben als Einzelwesen, das seine Umwelt staunend betrachtet, ohne sie je verstehen zu können. Vom Leben jedes Menschen als jemand, der in einer Reihenfolge steht, als jemand, der Sohn oder Tochter von jemandem ist, der wiederum Sohn oder Tochter von jemandem ist, und von der fast tragischen Tatsache, dass wir daran nichts ändern können. Wir alle sind zum Lieben geboren, wir sind dafür geboren, unsere Eltern zu lieben, auch wenn wir sie hassen und wenn sie unseren Hass hundert und tausend Mal verdient haben, ja auch wenn sie uns nicht lieben. Nicht jeder Mensch liebt seine Kinder. Nicht alle von uns werden von ihren Eltern geliebt. Dies sich einzugestehen, damit zu leben ist für manchen eine Aufgabe, mit der zeitlebens nur schwer fertig zu werden ist.

In diesem Buch findet sich kaum eine Seite, die nicht klar belegt, wie sehr Burnside dieses Leben durchschaut hat, wie sehr er es mit seinem Blick durchdringt, ihm viele Geheimnisse abgerungen, sich Erkenntnisse erarbeitet hat, die den meisten Menschen wohl ewig verschlossen bleiben. Es ist ein Buch, das beispielhaft sein könnte für die Behauptung, dass es in der Kunst darum geht, Persönlichkeit in Ästhetik zu verwandeln. Die Persönlichkeit des Autors muss in seinem Text aufgehen, mit oder ohne autobiographischen Hintergrund, dann und nur dann entsteht jene Einheit von Erzähler und Erzähltem, die große Literatur erst möglich macht. Das weiß Burnside, so wie er weiß, dass Literaturwissenschaft für die Literatur da ist und nicht umgekehrt, dass die Autoren nicht bei den Literaturwissenschaftlern lernen müssen, wie Schreiben funktioniert, sondern dass die Literaturwissenschaftler bei den Schriftstellern lernen könnten, was alles Literatur sein kann; so wie er weiß, dass akademische Literatur eine Literatur ohne Geheimnisse ist und ohne Substanz, und deshalb schreibt er Bücher, die sich nicht wirklich zerpflücken lassen. Darin liegt die Magie seiner Literatur, ähnlich wie bei Denis Johnson, und tatsächlich ist das, was Burnside wie Johnson schriftstellerisch unternehmen, "etwas Neues, das, was immer schon da war" (Roberto Bolaño): eine Literatur des Unheimlichen vielleicht, eine Literatur, die mit unserem Unbewussten korrespondiert, die aus dem Bereich hinter dem Spiegel stammt, die vom Autor nicht beherrscht noch verstanden wird, in die Welt geworfen für den, der frei nach Bolaño bereit ist, sie als das Neue zu begreifen, das immer schon da war.

"Lügen über meinen Vater" ist ein Buch voller Sätze, die das eigene Leben plötzlich erhellen und den Leser verstehen lassen, was er seit Jahren und Jahrzehnten gefühlt und gedacht hat, ohne es je an die Oberfläche gebracht zu haben, eines jener Bücher, in dem man Sätze unterstreicht, mehr und mehr Sätze, bis man es sein lässt, weil es ja wenig Sinn macht, ganze Kapitel zu unterstreichen. Es ist ein Buch, in das man sich hineinbegibt, auf beinahe körperliche Weise, zugleich ist jedes Kapitel, jeder Satz etwas, das man fast wie Stoffliches zu sich nimmt. Es wurde von jemandem geschrieben, der die Mischung aus Erhabenheit und Lächerlichkeit kennt, die jedem Suchenden eigen ist, und der durch die Hölle von Drogen, Schmerz, Todessehnsucht und verzweifelter Einsamkeit gegangen ist, ohne daran zu zerbrechen, der sich - woran nur, fragt man sich beim Lesen und hat die Antwort in der Hand - an irgendetwas festgehalten hat, um dauerhaft zurückzukehren.

John Burnside: "Lügen über meinen Vater". Roman.

Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2011. 382 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2011

Das Gewebe der unsichtbaren Welt
In seinem Erinnerungsbuch „Lügen über meinen Vater“ und in seinen Gedichten deckt der schottische Schriftsteller John Burnside hinter jeder Gewissheit die Lüge auf
Es beginnt stets im Dunkeln. Mit einem Geräusch, als sei etwas aufs Bett gefallen. Ein Scharren wird hörbar, ein Huschen. Und plötzlich ist der Erzähler hellwach, sieht blaugraue Schatten und die Umrisse von Vögeln über die Wände ziehen. Der Schrecken dauert nie lange. Nach kaum einer Minute schüttelt der aus dem Schlaf Geholte den Kopf, verscheucht das Phantom – und weiß gleichwohl, die Erscheinung lässt sich nicht fortreden, zu tief wurzelt sie im Verstand, im Gedächtnis und in den Nervenbahnen. Doch die Morgenstunden kennen nicht nur das Entsetzen. Sie kennen auch feinere Erlebnisse, geschmeidig, durchsichtig fast. Dann verdichtet sich die Wahrnehmung zu kleinen Epiphanien, die sich später einmal in Verse verwandeln: „Wie ich wachst du manchmal / früh im Dunkeln auf / und glaubst du bist durch eine innere Landschaft / meilenweit gefahren, // spürst um dich herum die Bäume / noch tropfnass, die aufgescheuchten Wasservögel, / die sattgefressenen Rinder / im Kegel deiner Scheinwerfer taumeln.“
Wenn der schottische Schriftsteller John Burnside zu schreiben beginnt, erinnert er ein wenig an jene Doppelwesen aus dem Mythos, halb Mensch, halb Tier, halb gut, halb böse, die zwischen den Welten wandeln und alle Möglichkeiten in sich tragen. Seine Studien der Nacht faltet er mal in atmosphärisch gewundenen Prosasätzen aus. Dann wieder in Gedichten, die von einer Leere sprechen, die darauf wartet, gefüllt zu werden, von einem „Augenblick der Trennung, um sich / voneinander zu unterscheiden“. Hier wie dort entwirft er Orte, die zugleich gewöhnlich sind und doch der Zeit und der vertrauten Bedeutung enthoben. Und er entwirft Geschichten, die vom Verschwinden erzählen und von den Nachtseiten des Bewusstseins.
Das Sichtbare, so könnte man seine Ideen zusammenfassen, ist nur eine Handbreit vom Unsichtbaren entfernt, ja ist eigentlich mit ihm verschwistert. Oder anders gesagt: Was wir wissen, entspricht nie ganz der Summe dessen, was wir vorfinden. Alle unsere Begriffe, Vorstellungen und Perspektiven sind nur Setzungen, wie schon das Selbst nichts Gegebenes ist, sondern nur „jenes Bündel Erinnerung und Furcht, / das will, erinnert, versteht, leugnet“. Und es gibt immer eine Lücke, in der so etwas wie eine Abwesenheit spürbar, in der ein Gefühl von Transzendenz erahnbar wird. So webt John Burnside an jener Idee von „Welt“ weiter, die der australische Dichter Les Murray einmal in den luziden Vers geschnürt hat: „Eine Tatsache ist ein kleiner kompakter Glaube.“
Es ist schön zu sehen, wie Burnside für diese Verschränkung der Sphären immer neue literarische Formen findet. Nicht zu Unrecht erhält er deshalb an diesem Wochenende den Petrarca-Preis. Erst zwei seiner sieben Prosabücher sind bislang in deutscher Übersetzung erschienen, die Romane „Die Spur des Teufels“ und „Glister“. Sie verbinden auf je eigene Weise die Beschreibung der kargen schottischen Landschaft mit apokalyptischen Szenarien. Die Menschen in diesen Büchern sind misstrauisch und nur mit der Pflege ihrer Rollen und Masken beschäftigt. Die Suche nach Sinn haben sie noch nicht aufgegeben, doch Hass und Schuld weichen nach und nach jede Grenzziehung auf. In einem dunklen Kammerton erzählt Burnside davon, wie noch in den scheinbar harmlosen Alltagskulissen der Dörfer und kleinen Städte der Tod stets anwesend ist.
Für sein jüngst übersetztes Buch, dessen Original bereits vor den beiden Romanen erschienen ist, hat Burnside sich die eigene Geschichte zum Stoff genommen. Als gäbe es eine geheime Verbindung zwischen Fiktion und Leben, setzt „Lügen über meinen Vater“ dort ein, wo die Romane anschließen werden: bei der Beschwörung der Gestorbenen: „Mir wurde in meiner Kindheit nicht beigebracht, dass die Toten an Halloween wiederkehren, doch wurde die Möglichkeit auch nie ganz ausgeschlossen . . . da draußen geisterte die Seele in einer ihrer vielen Gestalten umher, als Gespenst oder Wiedergänger, als Lufthauch, Licht- oder Feuergespinst, vielleicht auch nur als unerklärliche Erinnerung.“ So macht Burnside gleich zu Beginn deutlich, welche Richtung er diesmal einschlagen will. Es geht zurück in die Vergangenheit, zurück zur eigenen Geburt, vor allem aber: zurück zur Geschichte seines Vaters.
Dieser Vater ist alles andere als der Idealvater, den der Erzähler sich als Kind erträumt. Kein Mann mit Bart und Pfeife, der hinter seiner Zeitung sitzt, nur dem Schweigen und der Unsichtbarkeit verpflichtet. Vielmehr eine „Naturgewalt“, wie es einmal heißt, einer, der säuft und die Frau und die Kinder miserabel behandelt, um das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit zu betäuben, das Gefühl „ein Niemand von nirgendwo“ zu sein, „ein uneheliches Kind und obendrein kein Katholik“. Während die Mutter sich aufreibt für die Familie, Restposten aus den Läden heimschleppt und immerzu strickt und stopft, damit die Kinder sich anständig kleiden können, vertrinkt der Vater das Gehalt in den Pubs der ständig wechselnden Wohnorte. Seine Stimme kann hart und dunkel werden – ein Vorbote von Schmerz und Entsetzen, wenn er den Kindern wieder einmal das Recht abspricht, überhaupt einen Platz in der Welt einzunehmen.
Doch die Erforschung der Geschichte des Vaters ist kein Selbstzweck. Sie ist Teil einer größeren Selbsterkundung. Schon in der ersten Hälfte des Buches skizziert der Erzähler, wie ihn die Gewalt und die Launenhaftigkeit des Vaters dazu bringen, die „heißen Freuden des Alleinseins“ zu entdecken. In den schottischen Wäldern schafft er sich eine phantastische Gegenwelt, ebenso in den Wörtern, die er in Büchern findet. Als sei es Notwehr, denkt er sich eigene Geschichten aus, um den Geschichten des Vaters zu begegnen, setzt dessen Halbwahrheiten „die reine Wirklichkeit der Fiktion“ gegenüber. Besser ließe sich die Geburt eines Schriftstellers kaum erfinden. Diese Selbstbeschreibung spitzt Burnside im zweiten Teil des Buches noch zu. In schimmernden Bildern erzählt er davon, wie sich der eigene Lebensweg der „via negativa“ des trinkenden Vaters angleicht, bis er sich zwischen LSD-Trips und tagelangen Alkoholträumen fast verliert.
Bei seiner umfassenden Recherche begnügt sich John Burnside nicht mit bloßem Erzählen. Immer wieder greift er zu Fotos und Geschichten aus der Familie, überblendet Erlebnisse aus der Kindheit mit heutigen Vorstellungen, denkt über das Erinnern nach. Der Übersetzer Bernhard Robben hat Burnsides Satzschleifen in ein mal dunkel raunendes, dann wieder zwischen „Hitze und Licht“ flirrendes Deutsch verwandelt. Bisweilen entkommt Burnside dem Moralisieren nicht ganz. Auch haben seine Worte eine nicht immer angenehme Tendenz, sich zu Weisheiten zu verdichten. Es mag dies die Kehrseite eines Schreibens sein, das eine klare Deutung der Welt entfaltet, „die Schwärze in allem“ sieht und jede Hülle, die man sich schafft, jede Vorstellung von Identität nicht einfach als Auslegung, sondern als „Lüge“ begreift.
Umso beeindruckender ist es, dass Burnside bei aller Skepsis nicht aufhört, das Licht zu feiern: das Licht, das sich an Weihnachten im Schnee spiegelt, das Licht der Kirchenkerzen oder der kleinen Höfe, die in den Furchen der Dunkelheit liegen. „Das Gewebe der unsichtbaren Welt aufzuzeigen“ – wenn ein Vater etwas für seinen Sohn tun könne, heißt es am Ende des Erinnerungsbuches, sei es dies. Treffender ließe sich auch die Poetik nicht beschreiben, die Burnside in seinen Gedichten entwirft. Immer wieder ist dort vom Verschwinden und von der Abwesenheit die Rede. Seine Verse sprechen von der Suche nach einem Leben jenseits des Lebens und zeigen uns, dass alles in Bewegung ist, „nicht ganz da, / doch auch nicht ganz abhanden“.
Wenn die Prosa das Schweigen und die Leere immer nur in ihren dunkelsten Ausformungen kennt, so wissen die Gedichte auch von Momenten der Erfüllung, die plötzlich aufscheinen können und ein Gefühl der Ganzheit herstellen. Es ist die schottische Küstenlandschaft mit ihren kräftigen Winden, mit ihren Meeresvögeln und dem Geruch unbekannten Wassers, die am Grund vieler Gedichte erahnbar wird. Dort, in einem kleinen Fischerdorf, wohnt Burnside seit einigen Jahren mit seiner Familie. Und dort findet er jene Bilder, die einen „Schimmer von Anderssein“ aussenden wollen. Manchmal, zu unserem Leseglück selten, erzählt er von diesen Momenten nur, anstatt sie in der Form seiner Texte auch spürbar zu machen. Meist aber schickt er die Verse in hypnotischen Langzeilen über die Seiten oder bricht sie so, dass die Bewegung der Wahrnehmung und die Bewegung des Denkens sich durchdringen.
Seine „Geschichte von Licht / und Schwerkraft“ hat Burnside in bislang elf Gedichtbänden ausgebreitet. Iain Galbraith hat in seiner klugen Auswahl fast alle berücksichtigt und die Texte chronologisch angeordnet. Leider lässt die Übersetzung dieses Feingefühl vermissen. Nicht selten ist Galbraith ungenau in der Satzstellung, macht zum Beispiel aus „the glide of skin and bone across a floor“ das ungut mehrdeutige „Gleiten über den Boden von Haut und Knochen“. Oder er gibt den Versen einen unnötig gestelzten Ton, etwa wenn er kleine „creatures“ in preziöses „Getier“ oder „stars“ in „Gestirn“ verwandelt. Wie gut, dass die Ausgabe zweisprachig ist und man jederzeit einen Blick auf den englischen Text werfen kann. So lässt sich etwas erhaschen von John Burnsides Kunst, mit Klängen oder rhythmischen Verschiebungen zu spielen. Und für Momente wird der Geist hellwach, ein Scharren ist hörbar – und Schatten huschen über die Wände.
NICO BLEUTGE
JOHN BURNSIDE: Lügen über meinen Vater. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2011. 382 Seiten, 19,99 Euro.
JOHN BURNSIDE: Versuch über das Licht. Gedichte. Aus dem Englischen von Iain Galbraith. Hanser Verlag, München 2011. 144 Seiten, 14,90 Euro.
„Draußen geisterte die Seele
umher, als Lufthauch,
Licht- oder Feuergespinst“
Das Büchergebirge wächst, die Zimmerpflanze auch: John Burnside in seinem Haus in Pittenweem, Schottland. Foto: Rob McDougall/TSPL/Camera Press
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

John Burnside wird von der Kritik gemeinhin als "brillanter Apokalyptiker" gewürdigt, und Rezensent Christoph Schröder weiß nach der Lektüre von "Lügen über meinen Vater" einmal mehr warum. Denn dieser Roman, im Original vor "Die Spur des Teufels" und "Glister" erschienen, hat den Rezensenten in eine Welt aus "Halluzination, Delirium und Selbstauslöschung" geführt, die ihm psychisch noch "brutaler" erscheint als die seiner Nachfolger. Während der erste Teil des Romans die Übermacht des Vaters schildert, der seine armselige Existenz durch Lügen, Saufen und Prügeln kompensiert, liest Schröder den zweiten Teil als Fallstudie des "kaputten" Ich-Erzählers, der den Qualen der Kindheit durch Alkohol und Drogen zu entfliehen versucht. Einzig die Literatur verspricht Erlösung. Nicht nur der "nüchterne" und "illusionslose" Erzählstil dieses "beeindruckenden" Romans, sondern vor allem das Wissen darum, dass es sich bei dem Ich-Erzähler um niemanden anderen als Burnside selbst handelt, hat den Kritiker an die Grenze des Erträglichen geführt.

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"John Burnside ist einer der sprachmächtigsten Sinnsucher der britischen Literatur." Elmar Krekeler, Die Welt