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Produktdetails
  • Verlag: Knaus
  • Seitenzahl: 414
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 528g
  • ISBN-13: 9783813501346
  • ISBN-10: 3813501345
  • Artikelnr.: 25025155
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2008

Der welkgrüne Soldat unter Ein-Satz-Beobachtung
Was macht einer, der durch die Welt reist, aber seine Kamera vergessen hat? Peter K. Wehrli präsentiert seinen „Katalog von Allem”
Was nimmt man auf einer Fotografie zuerst wahr? Das heimliche Zentrum des Bilds, das Ungewöhnliche, Besondere daran, das Roland Barthes einmal das „punctum” genannt hat, wohl kaum. Der erste Blick führt meist nicht viel weiter als bis zu den Umrissen des Sujets. Erst von dort aus macht man sich auf zu den Details. Aber wie sieht so ein Blickverlauf, wie die Entwicklung der Tiefenschärfe sprachlich aus? Anfangs vielleicht so: Das Haus, dessen Fenster alle geschlossen waren . . .
Peter K. Wehrli, so geht die Legende, bestieg vor vierzig Jahren den Orient-Express und bemerkte dann, dass er seine Kamera vergessen hatte. Er beschloss, seine Erinnerungen auf der damals einwöchigen Reise anders zu fixieren: mit schriftlichen Aufzeichnungen, die der Struktur fotografischer Schnappschüsse entsprechen sollten. Wehrli fertigte Ein-Satz-Beobachtungen an, nach Nummern katalogisiert, mit Kleinschrift beginnend: „der Soldat”, begann er etwa, „der welkgrün und eigentlich wie ein guter Soldat aussehend, sein Gewehr mit uns weiterfahren lässt, als er in Göschenen aussteigen muss”. Wichtig sind das fehlende Prädikat und das Präsens, in dem Wehrli hier vom zuerst Sichtbaren über Einzelheiten, Mutmaßungen und Ironie bis hin zu einer Interpretation gelangt.
Trotz aller Bemühungen um ein Schema liest sich jede der ausgedehnten Beobachtungen etwas anders. Dieses Unterlaufen des Schematischen hat es Wehrli wohl erlaubt, sein Projekt, das 1968 begann, bis heute durchzuhalten. Immer wieder erschienen Ausschnitte aus seinem „Katalog von Allem” als Buch, zum ersten Mal 1974 in Bolivien. Eine Auswahl von Interessenten, die ein Abonnement zeichneten, erhielt für dreißig Franken über dreißig Jahre hinweg Lieferungen des Katalogs, der seine Leser von der Schweiz aus in alle, am liebsten in die portugiesischsprachige Welt führte.
Im Jahre 1999 versuchte sich Wehrli dann an einer ersten Zusammenfassung. Sie bestand damals aus 1111 Nummern, jetzt, knapp zehn Jahre später, sind noch einmal mehr als fünfhundert hinzugekommen. Wieder nach dem grundlegenden Muster, aber in einer neuen, deutlicher geographisch-topographisch ausgerichteten Ordnung: 17 Kataloge hat Wehrli nun zusammengestellt: den rumänischen, den mosambikanischen usw. Neu ist auch, dass verschiedene alte Nummern unter a) und b) kommentiert werden, wobei die Distanzen zwischen Beobachtung und Kommentar oft Jahrzehnte ausmachen.
Am besten wirken die einzelnen Stücke dieser wunderlichen Unternehmung, wenn sie Konzentration und Exzentrik des Sujets verbinden. Das kann die Blondine im Londoner Vorortszug sein, die sich in aller Ruhe überlange weiße Nägel ansteckt, oder der eigenartige „Wohlgeruch” von Kuhfladen auf einer Wiese der Azoreninsel São Jorge, „der eher an ‚fresh’-Zahnpasta und an den ‚Chewing Gum’ der Jugendjahre erinnert, was wir uns erst erklären können, als wir sehen, dass die ganze Weide, auf der die Kühe grasen, ein Feld von frischer Pfefferminze ist”. Im besten Fall hat man bei den einzelnen Notaten das Gefühl, einen unbekannten Teil der Welt kennengelernt zu haben.
In der Gärtnerei
Peter K. Wehrli, 1939 geboren, ist ein von 1968 beeinflusster Zeitgenosse. Manche seiner Beobachtungen sind kulturkritisch eingefärbt. Oft bleiben sie, wie die Nummer 732 („Gärtnerei”), dicht am Objekt: „die Werkstatt eines Blumenmachers, als die sich die vermeintliche Gärtnerei verpuppt, deren Blütenpracht beweisen zu wollen scheint, dass es Schöneres gebe als das Schöne, das die Natur uns gibt”. Gelegentlich zeigen sie einen Hang zur Belehrung. Überraschend frisch wirken sie da, wo es Wehrli gelingt, für ein allzu vertrautes politisches Tagesproblem eine neue Formulierung zu finden.
Erstaunlich bleibt, wie flexibel sich Wehrli innerhalb seiner an sich starren Grammatik des Schreibens bewegt. Man könnte ja meinen, dass der immergleiche Aufbau der Sätze eine Monotonie des Sehens und Denkens erzeugt, aber man muss nur ab und zu Pausen machen beim Lesen, um die Erkenntnisse aus den einzelnen Nummern nicht zu verschleifen, die das Zeug zu schillernden Aphorismen haben. So liest man unter Nummer 1625: „‚wo du bleibst, bist du dich selber’, diese unterwegs zugefallene Einsicht, die den Nachsatz will: ‚auf der Fahrt dorthin bist du unterwegs zu dir‘”.
Nicht ganz übersehen sollte man freilich den Umstand, dass Wehrlis vagabundierendes Unterwegssein sich nicht zuletzt seiner dreißig Jahre währenden Tätigkeit als Kulturjournalist beim schweizerischen Fernsehen verdankt. Sie garantierte die materielle Sicherheit, auf der das literarische Langzeitprojekt beruht.
Immerhin hat die wenig romantische Tätigkeit des Journalisten auch zu einem interessanten „Katalog” aus Cannes geführt. Wehrli blieb auf eigene Art ungewöhnlich. Bis vor einigen Jahren trat er als Moderator einer Kultursendung auf und wirkte mit seiner Mischung aus Apathie und Knorrigkeit immer, als wolle er seine mangelnde Eignung für das oberflächliche Medium, in dessen Diensten er stand, geradezu zelebrieren. Sein eckiger, dabei gelassener Gang, die schwere Sprache, alles machte ihn zum staunenswerten Findling aus der Frühzeit der Medienwelt. HANS-PETER KUNISCH
PETER K.WEHRLI: Katalog von Allem. Vom Anfang bis zum Neubeginn. 1697 Nummern aus vierzig Jahren. Ammann Verlag, Zürich 2008. 534 S., 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2000

Ende einer Zugfahrt
Peter K. Wehrli macht unterbelichtete Schnappschüsse

Diesem Buch liegt eine durchaus eigenwillige Idee zugrunde: Auf einer Eisenbahnreise, die den Autor 1968 von Zürich nach Beirut brachte, stellte er schon bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof von Zürich fest, daß er seine Kamera zu Hause vergessen hatte. "So beschloß er", heißt es in der Editorischen Notiz, "die Erinnerungsbilder dieser Reise statt mit der Kamera nun mit den Mitteln der Sprache anzufertigen." Von da an nimmt das Unheil seinen Lauf. Wehrli wird über 31 Jahre und vierhundert Seiten lang das Gedankenknipsen betreiben.

Er dokumentiert die Reise mit knappen Einstellungen, wobei ihm nicht selten in überraschender Perspektive kleine, feine Bilder von Beiläufigem gelingen. Es ist die scharfe Fokussierung mit pointierter Bildaussage, die den kurzen Nummern gelegentlich eine besondere atmosphärische Plastizität verleiht. Diese Schnappschüsse fangen Reisealltag ein, halten schnelle Momente des zufälligen Zusammentreffens von Menschen unterschiedlichster Herkunft im engen Raum eines Eisenbahnabteils fest. Kleine Geschichten blitzen bisweilen in einem Satz auf. So reiht sich Bild an Bild, Ereignisse an Erinnerungen, Anekdotisches an Erhabenes.

Da stellen sich kurze Lehrstücke über verschmitzte Schlitzohrigkeit, über Ehre und Großzügigkeit listig neben die Kleinlichkeiten des bürokratischen Gehabes von Staatsbeamten. Im Vorbeifahren werden Blicke auf Dörfer geworfen, die, ohne die blitzschnelle Betätigung des "Sprachauslösers", im Nu wieder entschwunden wären. Dort aber, wo der simple Prozeß des Einstellens und Knipsens durch sprachliche Untermalungen aufgewertet werden soll, kommt es leicht zu Verwacklungen, die bisweilen nicht ohne unfreiwillige Komik sind.

Hinter Beirut und der Nummer 149, da ist man schon auf Seite 46, wird es ermüdend, geht aber noch fast dreihundert Seiten und 31 Jahre lang weiter. Es folgen das Filmfestival von Cannes, wiederholt Brasilien, immer wieder Zürich als Lebensmittelpunkt des Autors mit allen ehemaligen Einrichtungen wie das Restaurant "Eckstein", das alte, "echte" Café "Odeon" und ihr ganzes Inventar mehr oder weniger origineller Figuren - alles in allem eine matte Reminiszenz an eine entschwundene Epoche.

Der weitere Verlauf ist von lähmender Eintönigkeit. Die strenge Beschränkung auf die Grundidee wird zwar zusehends aufgeweicht, das Experiment gibt letzten Endes nicht mehr her als irgendein beliebiges Tagebuch. Diesem Tagebuch aber fehlt, um es zu einer literarischen Gattung zu machen, ganz Entscheidendes: etwas, das über das Private mit seinen idiosynkratischen Ablegern hinaus von Interesse sein könnte. Statt dessen versinkt der Text durch eine vermeintliche Erweiterung der Einstellungen, die sich dem Film verdanken sollen - Schwenk, Groß- und Nahaufnahme, Narration und Inszenierung -, immer mehr im moralisierenden Exotismus des weitgereisten Intellektuellen von altachtundsechziger Prägung. Das gibt sich weltläufig und bleibt in Ton und Haltung doch immer daheim in Zürich bei der ehemals gehabten Grundidee, die sich als unzureichend herausstellt: "Der Katalog von Allem als Postversandroman" trägt als literarische Gattung nicht. Die Nummer 1111, bis zu der er fortgeführt wurde, entpuppt sich zu guter Letzt als Schnapszahl einer echten Schnapsidee.

Dialektfärbungen können die Würze eines Textes ausmachen; hier werden sie zum ridikülen Manierismus, Welten entfernt von der sprachlichen Kraft eines Robert Walser - von Keller und Gotthelf natürlich ganz zu schweigen. Die stilistischen Gespreiztheiten nehmen überhand. Man stolpert aber auch über besonders herausragende Nummern wie etwa Nummer 835, die Bricole-Technik: "Die Bricole-Technik, von der mir Helmut Eisendle im Restaurant ,Zum grünen Anker' des herrlichen Wirtes Herrn Glück, nach meiner Lesung in Wien, erklärt, daß sie Konstellationen auf dem Billardtisch durch den Abprallwinkel von den Banden zu sprengen vermöge, und mein anfängliches Verwirrtsein darob, daß es ihm gelingt, mir klarzumachen, daß der Katalog von Allem möglicherweise ein Beitrag sein könnte zum Erarbeiten einer literarischen Bricole-Technik und daß da der im Titel eingestellte Fokus beim Beobachteten - statt durch den gewichtenden sprachlichen Effekt - erst durch das festgelegt wird, was an den Banden passiert (835a) und mein Einverständnis mit Helmuts Übertragung der Bricole-Technik auf meine Katalogarbeit, das ich dann geben müßte, falls es mir gelänge, die Wirklichkeit allein dadurch zu verändern, daß ich sie beobachte."

Das liest sich nun beim besten Willen eher wie eine schlechte Übersetzung als wie der Originaltext eines "Sprachkünstlers", was im Klappentext behauptet wird. Daß es sich dabei auch noch um ein Buch handeln soll, das einen fremdsprachigen Leser wieder zum Deutschen zurückbringen könnte, wie von einem anglophonen Rezensenten auf dem Umschlag euphorisch verkündet, läßt sich dann in der Tat nur noch mit mangelnden deutschen Sprachkenntnissen erklären.

GENNARO GHIRARDELLI

Peter K. Wehrli: "Katalog von Allem". 1111 Nummern aus 31 Jahren. Albrecht Knaus Verlag, München 1999. 415 S., geb., 44,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Journalist vergisst seinen Fotoapparat; statt Bilder zu knipsen beschreibt er, was er sonst fotografiert hätte und numeriert seine Notizen wie Fotos; daraus sind Wehrlis "1111 Nummern aus 31 Jahren" entstanden, die Hermann Wallmann staunend zu einem der "wunderlichsten Bücher der letzten Jahre" erklärt. Mit Rückgriff auf Dittberner und Handke reflektiert Wallmann, was dem Autor vielleicht durch den Sinnn gegangen ist, als er aus seinen Notizen solche numerierten Miniaturen machte. Die geschärfte Aufmerksamkeit, die sonst dem Auge der Kamera überantwortet ist, hat zu vielerlei Beschriebenem geführt, das sich aneinanderreiht, auswächst, in einen Dialog miteinander tritt - Regentropfen auf Baumblätter prasselnd, ein Kneipengast, Handke als Interviewpartner - und den Rezensenten angenehm unterhalten.

© Perlentaucher Medien GmbH