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Produktdetails
  • Verlag: WBG Philipp von Zabern
  • Seitenzahl: 257
  • Abmessung: 43mm x 230mm x 301mm
  • Gewicht: 2726g
  • ISBN-13: 9783805326933
  • ISBN-10: 3805326939
  • Artikelnr.: 09025785
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2001

Auch ein Erzengel haut den Stein nicht gern allein
Der Michelangelo des Trecento und seine Helfer: Gert Kreytenbergs vorbildlicher Katalog zu Andrea di Cione, genannt Orcagna, öffnet der Kunstwissenschaft die reflexionsschweren Lider

Francesco Trucchi nannte ihn 1846 - bei der Herausgabe einiger in der Zuschreibung freilich nicht gesicherter Sonnette - den Michelangelo des Trecento. Mit größerer Sachkenntnis und aus geringerem zeitlichen Abstand heraus sprach Lorenzo Ghiberti um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts von ihm als einem herausragenden, in allen Kunstgattungen einzigartig erfahrenen Meister. Die Zeitgenossen haben ihn auf das höchste geschätzt, was die Zahl repräsentativer Aufträge beweist.

Wer war dieser Andrea di Cione, der in den Dokumenten als "Arcagnolus" (Erzengel) und in Abwandlung dieses Wortes Orcagna genannt wurde? Seine Persönlichkeit und seine Bedeutung hatten in der Forschung bisher sehr verschwommene Umrisse. Die Gründe liegen vorwiegend in der Tatsache, daß ein großer Teil der dokumentierten Hauptwerke wie etwa die Ausmalung der Hauptchorkapelle in Santa Maria Novella in Florenz gar nicht oder nur höchst fragmentarisch erhalten geblieben ist, während andererseits eine ganze Reihe ihm zugeschriebener Arbeiten aufgrund der Quellenlage in ihrer Urheberschaft nicht zu sichern sind.

Gert Kreytenberg legt die erste umfassende Monographie des Künstlers vor. Das Ergebnis darf als eine Sensation für die Erforschung des Florentiner Trecento gelten. Erstmals wird hier ein kritischer Katalog aller für Orcagna gesicherten und ihm jemals zugeschriebenen Werke vorgelegt - ein "Corpus Orcagnescum". Schon das wäre für sich genommen ein hohes Verdienst. Kreytenbergs Ziel aber ist weitaus höher gesteckt: nämlich aus der Fülle des Materials heraus dem Maler, Bildhauer und Architekten feste Konturen zu geben und seine Bedeutung für die Florentiner Kunst seiner Zeit klar zu akzentuieren.

Kreytenberg beschreitet einen naheliegenden, merkwürdigerweise aber bisher nicht begangenen Weg. Ausgangspunkt ist die 1357 datierte und signierte Pala Strozzi, die repräsentative Altartafel der Cappella Strozzi am linken Querhausarm von Santa Maria Novella. Ausgehend von der leider weithin vernachlässigten Überzeugung, daß sich bestimmte Gestaltungsprobleme jenseits der jeweils unterschiedlichen kategorialen Bedingungen in allen Kunstgattungen ausprägen müssen, erkennt Kreytenberg in einer brillanten Analyse des Altarwerkes Orcagnas Urbegabung für dreidimensionales Gestalten von Figur und Raum. Er öffnet dem Leser die Augen für Phänomene, die in der bisherigen Literatur übersehen wurden und möglicherweise auf der Grundlage vorgefaßter Meinungen - ein Zurücktreten der Malerei aus der Wiedergabe der realen Erscheinung infolge der großen Pest von 1348 - nicht erkannt werden konnten. Die an der Pala Strozzi gewonnenen Einsichten unterstützt Kreytenberg durch die jedes Detail berücksichtigende Analyse der Fragmente des durch Ghiberti als Werk Orcagnas gesicherten großen Freskos mit Triumph des Todes, Jüngstem Gericht und Hölle, das 1344-45 auf die rechte Seitenschiffwand von Santa Croce gemalt wurde, und die sich heute im Museo di Santa Croce befinden.

Im Besitz der hier gewonnenen Erkenntnisse wendet sich der Verfasser dem Studium des 1359 datierten und signierten Tabernakels in Orsanmichele zu. Und hier füllt er eine nun allerdings unverständliche Lücke, denn dieses Hauptwerk der Florentiner Skulptur zwischen der Fertigstellung der Reliefs am Campanile des Domes und der Wiederaufnahme der bildhauerischen Arbeiten für die Domportale hat noch niemals eine eingehende stilistische Würdigung erfahren, sieht man von einer 1994 in New York erschienenen Veröffentlichung des Autors ab. Konnten aber damals nur das Relief der Rückseite und der Schmuck der Sockelzone gewürdigt werden, so sind in der vorliegenden Publikation erstmals alle 117 Skulpturen des Tabernakels abgebildet und analysiert. Orcagna, wahrscheinlich um 1320 geboren, zwischen 1343 und 1346 in die Zunft der Maler und erst 1352 in die der Steinmetzen und Bildhauer eingetragen, kann das gewaltige Programm weder in sieben Jahren eigenhändig ausgeführt haben, noch läßt sich der spontane Aufbau einer straff organisierten Werkstatt denken. Wie haben wir uns also den Arbeitsverlauf vorzustellen?

Kreytenberg untersucht mit allen Mitteln einer höchst differenzierten Stilkritik sämtliche Skulpturen des Tabernakels - eine Arbeit, die um so höher einzuschätzen ist, als die Kunstwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zunehmend in Gefahr gerät, das genaue Sehen zugunsten der Reflexion zu vernachlässigen, ja die Ergebnisse der Reflexion nachträglich auf die Kunstwerke zu übertragen. Es gelingt dem Verfasser, sieben Gruppen von Bildwerken gegeneinander abzusetzen und eine Reihe in Florenz mit anderen Werken verschiedenen Bildhauern zuzuschreiben, unter ihnen Francesco Sellaio, Simone Talenti und Giovanni Fetti. Mag die eine oder andere Attribution strittig sein, so erscheinen die vorgeschlagenen Werkgruppen insgesamt doch als homogen. Orcagna hat also offensichtlich bereits bewährte Bildhauer engagiert, die unter seiner Leitung den umfangreichen Zyklus ausführten.

Als wichtigstes Anliegen aber wird Orcagnas eigenhändiger Anteil mit Hilfe der an den gesicherten Malereien gewonnenen Kriterien völlig überzeugend herausgearbeitet. Im Zentrum steht der obere Teil des großen Reliefs auf der Rückwand, das die Himmelfahrt Marias und die Gürtelspende an den Heiligen Thomas miteinander verbindet. Ein vergleichender Blick auf die Figur des Thomas und den Petrus der Pala Strozzi macht die Autorschaft eines und desselben Meisters augenblicklich deutlich. Sind dem Betrachter auf diese Weise für die gravierenden Unterschiede zwischen dem Marientod im unteren Teil der Rückwand und der beherrschenden Szene darüber erst einmal die Augen geöffnet worden, so fragt man sich, wieso das alles nicht längst erkannt worden ist.

Der Rang der Forschungen Kreytenbergs besteht aber nicht alleine in den Ergebnissen der Stilbestimmung, sondern ebenso in der Einbeziehung von Ikonographie, Werkstattzusammenhängen und Auftraggeber-Situation. Um wenigstens einen Aspekt hervorzuheben: Der Autor widerlegt die heute fast zum Allgemeingut gewordene These, daß die Pest von 1348 einschneidende Konsequenzen für die Kunst gehabt hätte.

Von den Neuzuschreibungen, die Kreytenberg vornimmt, fesselt besonders das Fragment des Abendmahls unter der Kreuzigung im Refektorium von Santo Spirito. 1361-62 entstanden, geben uns die Reste noch eine lebhafte Vorstellung von den dreidimensional modellierten Figuren und dem perspektivisch virtuos verkürzten Raum, in beidem über Taddeo Gaddis Abendmahl im Refektorium von Santa Croce weit hinausgehend. In der Verbindung von realer und gemalter Tischgesellschaft darf es als wichtigste Vorstufe der großen Abendmahlsdarstellungen der Renaissance gelten.

Ausführlich setzt sich Kreytenberg in Fortführung eigener Vorarbeiten mit der Tätigkeit Orcagnas als Architekt, besonders seiner Rolle in der komplizierten Planungsgeschichte des Florentiner Domes, auseinander. Als wichtigstes Ergebnis sei hier Orcagnas Eingriff in die Gestaltung der Kuppel genannt. Die Einführung des Tambours, im Tabernakel von Orsanmichele vorbereitet, dürfte Orcagnas Idee gewesen sein. Insgesamt tritt Andrea di Cione, genannt Orcagna, in Bestätigung des Lobpreises von Lorenzo Ghiberti, aus der Dämmerung in helles Licht. Vieles in der Florentiner Kunst des vierzehnten Jahrhunderts wird neu gesehen und durchdacht werden müssen. Gert Kreytenberg gebührt mit dieser Publikation erneut ein erster Platz in der internationalen Trecento-Forschung.

Der Verlag hat der Herstellung des Buches alle nur erdenkliche Sorgfalt zukommen lassen. Die achtundvierzig Farbtafeln spiegeln den derzeit höchsten Stand farbiger Reproduktion, die Schwarzweißabbildungen bieten jede nur wünschenswerte Information. Im Anhang sind sämtliche Dokumente, Quellenschriften und die Orcagna zugeschriebenen Sonnette abgedruckt.

MANFRED WUNDRAM

Gert Kreytenberg: "Orcagna (Andrea di Cione)". Ein universeller Künstler der Gotik in Florenz. Verlag Philipp von Zabern, Mainz, München 2000. 258 S., 432 S/W- u. 48 Farb-Abb. auf Tafeln, geb., 198,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Ergebnis dieser ersten umfassenden Monografie des "Michelangelo des Trecento" ist nach Ansicht von Rezensent Manfred Wundram auch eine Sensation für die Erforschung des florentiner Trecento. Erstmals werde hier ein kritischer Katalog aller für Andrea di Cione, genannt Orcagna, gesicherten und ihm jemals zugeschriebenen Werke vorgelegt. Außerdem würden aus "der Fülle des Materials" heraus dem Maler, Bildhauer und Architekten "feste Konturen" gegeben und auch seine Bedeutung für die Florentiner Kunst seiner Zeit "klar konturiert". Kenntnisreich und tief beeindruckt folgt der Rezensent den Argumenten und Forschungsergebnissen Kreytenbergs, deren Rang seiner Ansicht nach nicht allein in den Ergebnissen der Stilbestimmung besteht, sondern ebenso in der "Einbeziehung von Ikonografie, Werkstattzusammenhängen und Auftraggeber-Situation". Auch der Verlag wird für die Herstellung dieses Buches hochgelobt. Die 48 Farbtafeln spiegelten den "derzeit höchsten Stand farbiger Reproduktionen". Die Schwarzweißabbildungen bieten seiner Ansicht nach "jede nur wünschenswerte Information".

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