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Die Agenda 2010 gilt als Überraschungscoup. Doch der Band zeigt, dass sich die Programmdebatten der SPD seit den 1990er-Jahren in vielen kleinen Schritten dem marktliberalen Zeitgeist annäherten. Wie kam es zur Agenda 2010? Der Verfasser untersucht die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten der SPD seit 1982 und die sukzessive Vorbereitung der Agenda über fast drei Jahrzehnte: Globalisierung und internationale Standortdebatte, Wiedervereinigung und Privatisierungen, demographischer Wandel und Fiskalisierung der Sozialstaatsdiskussion, ein Dritter Weg der europäischen Sozialdemokratie. Die…mehr

Produktbeschreibung
Die Agenda 2010 gilt als Überraschungscoup. Doch der Band zeigt, dass sich die Programmdebatten der SPD seit den 1990er-Jahren in vielen kleinen Schritten dem marktliberalen Zeitgeist annäherten. Wie kam es zur Agenda 2010? Der Verfasser untersucht die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten der SPD seit 1982 und die sukzessive Vorbereitung der Agenda über fast drei Jahrzehnte: Globalisierung und internationale Standortdebatte, Wiedervereinigung und Privatisierungen, demographischer Wandel und Fiskalisierung der Sozialstaatsdiskussion, ein Dritter Weg der europäischen Sozialdemokratie. Die eisern marktliberale Grundstimmung bei Ökonomen, Journalisten und in der Politik fand schließlich auch in den wirtschaftspolitischen Programmaussagen der SPD ihren Niederschlag.
Autorenporträt
Sebastian Nawrat, geb. 1981, studierte Geschichte, Sozialwissenschaften und Germanistik an der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster, promovierte dort zum dr. phil. und arbeitet als Studienrat am Albertus-Magnus-Gymnasium in Beckum.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2013

Rhein in Flammen?
Sozial- und wirtschaftspolitische Programmdebatten der SPD seit 1982

An der Agenda 2010 scheiden sich bis heute die Geister. Für die einen markiert sie einen historisch notwendigen Kraftakt, um das deutsche Wirtschaftsmodell wieder international wettbewerbsfähig zu machen. Für die anderen ist sie zum Synonym für einen brachialen Abbau sozialer Sicherheit und zur Ursache verbreiteter gesellschaftlicher Abstiegsängste geworden. Einigkeit besteht jedoch zumeist darin, dass ein kleiner Kreis sozialdemokratischer Regierungspolitiker um den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinen Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier das Maßnahmenbündel ohne programmatische Vorbereitung einer widerstrebenden Partei gleichsam putschartig aufgezwungen habe.

Sebastian Nawrat verficht in seiner Studie die Gegenthese. Er hat die Programme der SPD und die Protokolle ihrer Führungsgremien seit 1982 ebenso ausgewertet wie Unterlagen aus den Büros sozialdemokratischer Spitzenpolitiker von Erhard Eppler über Hans-Jochen Vogel bis Rudolf Scharping. Außerdem hat er Gespräche mit 16 Zeitzeugen geführt, darunter prominente Kritiker der Agenda 2010 wie Rudolf Dreßler, Andrea Nahles oder Ottmar Schreiner. Das engere Umfeld Kanzler Schröders ist dagegen unterrepräsentiert, was nicht ohne Auswirkungen auf Nawrats Analyse bleibt.

Seit den frühen 1990er Jahren, so lautet sein Befund, habe die deutsche Sozialdemokratie häppchenweise, aber beharrlich die Grundannahmen der herrschenden Lehre in der Wirtschafts- und Sozialpolitik geschluckt. Diese sei nach 1982/83, spätestens aber seit der Wiedervereinigung "von einer bis in die Poren gehenden marktliberalen Grundlinie" geprägt gewesen. Von der Haushaltskonsolidierung und der Forderung nach Steuersenkungen über die Verkleinerung des öffentlichen Dienstes, speziell durch Privatisierung von Staatsunternehmen wie Bahn und Post, bis hin zur Deregulierung der Arbeitsmärkte und dem Rückbau des Sozialstaates - überall sei die SPD auf die Richtung eingeschwenkt, welche die christlich-liberale Regierungskoalition vorgegeben habe. Dass Helmut Kohl (CDU) keineswegs ein glühender Verfechter wirtschaftsliberaler Prinzipien war, bleibt unberücksichtigt.

Weder die Regierungsübernahme durch die SPD 1998 noch die Verkündung der Agenda 2010 fünf Jahre später sieht der Autor als Zäsuren bei der schleichenden Übernahme einer Programmatik, die immer stärker Unternehmerinteressen berücksichtigt und auf individuelle Eigenverantwortung gesetzt habe. Gegenläufige Entwicklungen - etwa die Aussetzung des demographischen Faktors in der Rentenversicherung oder die Wiedereinführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Wahlsieg 1998 - spielen demgegenüber kaum eine Rolle. Für Nawrat bilden die Jahre von 1990 bis 2004 eine Einheit. Als Einschnitt in der Parteigeschichte sind sie in seinen Augen mit dem programmatischen Kurswechsel Ende der 1950er Jahre vergleichbar und werden daher als "heimliches Godesberg" charakterisiert.

Dass trotz des tiefgreifenden Wandels der Eindruck bestehen blieb, die SPD halte am überkommenen Wirtschafts- und Sozialmodell fest, begründet der Autor mit den sozialdemokratischen Wahlkämpfen. Vor den Urnengängen habe sich die Partei stets als "Hüterin des Sozialstaats" profiliert, obwohl dieses Image immer weniger durch die Beschlusslage der Parteitage gedeckt war. Die Diskrepanz zwischen Werbebotschaften und Programmaussagen erkläre auch, warum eine offensichtlich auf Wahlkampfbeobachtung fokussierte Politikwissenschaft die Agenda 2010 "als abrupten Politikwechsel" wahrgenommen habe. Nawrat hingegen streicht die lange Vorgeschichte der Agenda 2010 heraus. Er interessiert sich vornehmlich für das, was er als Anpassung der SPD an den "hegemonialen Diskurs" des Marktliberalismus versteht, der in den deutschen Medien, von den sozialdemokratischen Schwesterparteien in anderen Ländern und nicht zuletzt von Union und FDP vorgegeben worden sei (die Grünen spielen in der Analyse für die Zeit seit Ende der 1980er Jahre kaum eine Rolle).

In dieser Deutung sind für den Kurswechsel nicht so sehr spezifische sachliche Herausforderungen verantwortlich. Vielmehr ist der Autor, durch die neuere Kulturgeschichte inspiriert, vor allem veränderten Realitätswahrnehmungen auf der Spur. Die konkreten Rahmenbedingungen, auf die Sozialdemokraten in der Regierung reagieren mussten, werden kaum erörtert oder als "vermeintliche Sachzwänge" enttarnt. Die nach der Wiedervereinigung enorm angewachsene Staatsverschuldung? Ein Vorwand, um keynesianische Politikrezepte zu den Akten zu legen. Der im Zuge der intensivierten globalen Verflechtung wachsende Wettbewerbsdruck auf die deutsche Exportwirtschaft? Eine Ausflucht, um in einen Wettlauf um Steuersenkungen einzutreten. Die bedrohliche demographische Perspektive einer rapide alternden Gesellschaft? Eine Finte, um den Abbau von Sozialleistungen zu rechtfertigen.

Auch die Konsequenzen, die sich aus der Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung ergaben, werden kaum diskutiert. Dass die rot-grüne Regierung gegen die Maastrichter Stabilitätskriterien verstieß, indem sie das Haushaltsdefizit 2002 über die erlaubte Grenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen ließ, charakterisiert der Autor nicht als verheerenden Fehler mit schlimmen Folgen für die deutsche Europapolitik. Er sieht darin im Gegenteil eine verpasste Gelegenheit, "zu einer expansiven Haushaltspolitik oder zu einem Konjunkturprogramm zu greifen".

Was Nawrat als Zurückweichen der SPD vor dem marktliberalen Zeitgeist kritisiert, kann man mit guten Gründen auch anders interpretieren: als Abschied von ideologischen Wunschwelten und als Rückkehr auf den Pfad einer pragmatischen, verantwortungsbewussten Politikgestaltung, wie sie auch der Programmreform der späten 1950er Jahre zugrunde lagen. Zu einer derartigen Deutung würde die Formel vom "heimlichen Godesberg" besser passen.

DOMINIK GEPPERT

Sebastian Nawrat: Agenda 2010 - ein Überraschungscoup? Kontinuität und Wandel in den sozial- und wirtschaftspolitischen Programmdebatten der SPD seit 1982. Dietz Verlag, Bonn 2012. 320 S., 32,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Dominik Geppert möchte der Argumentation des Autors in Sachen Agenda 2010 lieber nicht folgen. Im Gegenteil, Sebastian Nawrats auf Parteiprogrammen und Zeitzeugengesprächen basierende Darstellung des Wegs zur Agenda 2010 scheint Geppert allzu sehr fokussiert auf veränderte Realitätswahrnehmung. Geppert hätte stattdessen lieber eine detaillierte Analyse der konkreten Rahmenbedingungen (Staatsverschuldung, Wettbewerbsdruck auf den Export etc.) gelesen, auf die die SPD damals zu reagieren hatte. So gesehen wird die Agenda für den Rezensenten dann nicht zum marktliberalen Zugeständnis, sondern zum zeitgemäßen Abschied von ideologischen Wunschwelten zugunsten einer pragmatischen SPD-Politik im Sinn der Programmreform der späten 1950er.

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