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Produktdetails
  • Verlag: Francke
  • Seitenzahl: 352
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 524g
  • ISBN-13: 9783772027536
  • ISBN-10: 3772027539
  • Artikelnr.: 24007211
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2001

Ganzheit aus dem Einmachglas
Hartmut Heuermann findet die Wissenschaft ungenießbar

"Die Wissenschaft läuft, sabbert staatsgeschützt, pensionsberechtigt, mit Witwen- und Waisenversorgung ausflußartig dahin, wagt gar keine Entscheidung, keine Wertung, ist so begnügsam, methodisch verweichlicht, empirisch angezäumt, fürchtet das Allgemeine, flieht die Gefahr." So schäumt im Januar 1933 der Schriftsteller und Arzt Gottfried Benn, muß aber zugleich die kritische Rückfrage seines Briefpartners F.W. Oelzes parieren, wie "man einerseits die Wissenschaft und ihre Resultate skeptisch ansehn, ja verächtlich betrachten und doch sie dann für wahr setzen und zu eigenen Ideen verwerten" könne. Damit befindet sich Benn mitten im Grundwiderspruch jeder Wissenschaftskritik: Einerseits muß sie einen Punkt außerhalb der Wissenschaft finden, von dem aus sie kritisiert, andererseits kann nur Wissenschaft selbst über die Wahrheit dieser Kritik befinden. Indem sie die Autorität der Wissenschaft angreift, legt die Kritik zugleich die Axt an ihre eigene Glaubwürdigkeit.

Aus diesem Dilemma hilft nur die Einführung von Alternativkonzepten zur Wahrheit heraus. Wo Dr. Benn auf Literatur setzt, versucht es Hartmut Heuermanns Monographie zur Wissenschaftskritik mit Moral. Das Sündenregister, das Heuermann der Wissenschaft vorhält, ist lang. Sie hat trotz unbestreitbarer Erfolge die Welt entzaubert, eine unbeherrschbare Hochtechnologie geschaffen, die den Fortbestand der Gattung gefährdet; sie wird von einer engstirnigen Expertokratie betrieben, die wenig honorig Dissidenten verketzert, Forschungsergebnisse fälscht und Hochstaplern Tür und Tor öffnet.

Das ist keineswegs falsch, macht aber trotzdem Heuermanns Buch nicht richtiger, weil es gegen eine weitere Grundregel verstößt, die Benn für das Genre der Wissenschaftskritik aufgestellt hat: "Der Matador muß nah am Stier kämpfen." Daß Heuermann dies unterläßt, zeigt bereits der Blick ins Literaturverzeichnis. Während man einschlägige Bücher zum Thema - wie Pierre Bourdieus "Homo academicus" oder Niklas Luhmanns "Wissenschaft der Gesellschaft" vermißt, reitet Heuermann den längst abgehalfterten Gaul namens "Dialektik der Aufklärung" ein weiteres Mal zu Tode, wobei die einstige geschichtsphilosophische Heilsgewißheit profunder Ratlosigkeit Platz gemacht hat. Wo man Ausführungen zum linguistic turn erwartet, wird noch einmal Wilhelm Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaft paraphrasiert; die Suche nach systemimmanenter Wissenschaftskritik führt Heuermann nicht zur Dekonstruktion, sondern zu den Propheten des New Age.

Damit nicht genug: Empört verweist Heuermann auf die Unwilligkeit der abendländischen Wissenschaft, "kulturell anders geprägten Wissenssystemen überhaupt irgendeine logische Folgerichtigkeit zuzubilligen", was dreißig Jahre nach Claude Lévi-Strauss' strukturaler Mythenanalyse einigermaßen überraschend klingt. Ähnliches gilt für das gutgemeinte Plädoyer zugunsten feministischer Wissenschaftskritik: Die Klage über die bisher ausgebliebene "Homogenisierung weiblicher Wissenschaften" ist zehn Jahre nach Judith Butlers vieldiskutiertem Buch "Gender Trouble" schlicht anachronistisch. Statt dessen referiert Heuermann die jüngst durch den Deutschen Apothekerverlag der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Schwierigkeiten einer Erika Hickel mit den Instituten für biophysikalische Chemie, die als Prätorianergarde maskuliner Todeswünsche "all das wirklich Lebendige zerstören".

Veraltet ist auch das anthropologische Diskursprogramm, dem Heuermanns Buch folgt. Der als krisenhaft bewerteten Ausdifferenzierung der Wissensdiskurse wird ein diffus-ganzheitliches Humanitätskonzept entgegengestellt. Seitenlang klagt Heuermann über die "Enthumanisierung der Wissenschaft", die "den Menschen" in seiner "existentiellen Not und naturgegebenen Drangsal" nicht mehr wahrnehme. Zwar kommt er in seinem Ökologie-Kapitel nicht umhin, selbst den Bruch mit dem "anthropozentrischen Standpunkt" zu fordern, doch hat das keine konzeptuellen Konsequenzen. Paradigmatisch dafür steht Heuermanns Lektüre Michel Foucaults. Er verweist zwar auf dessen Diskursanalysen, soweit sie ideologiekritisch erbaulich sind, ignoriert aber Foucaults Humanismuskritik vollständig. Das eigentliche Problem, wie nämlich ein "gemeinsamer Fokus auf ein bestimmbares Menschen- und Weltbild" aussehen könnte, das offen für Differenzen bleibt, gerät nie in den Blick. Ganz im Gegenteil: Hinter der Fassade einer New-Age-Idyllik, die "heteronom gelagerte Theorien" in ein "Konzert kosmischer Harmonie" verwandeln soll, verbirgt sich eine ungeduldige Variante der Kulturkritik.

Das ist unschwer an der Krankheitsmetaphorik zu erkennen. Die "Zufälligkeiten des Pluralismus" wuchern "wie Krebsgeschwüre", die Kultur ist "mit dem Virus des wissenschaftlich defizitären Rationalismus infiziert". Dementsprechend ersetzt gegen Ende des Buches Apokalyptik die moralische Reflexion. Die Katastrophen können gar nicht schlimm genug sein, um die Machenschaften finsterer Großkonzerne anzuklagen. Flugs gerät Auschwitz in eine Reihe mit Seveso und Tschernobyl, bevor sich Heuermann abschließend der neuesten Infamie der Wissenschaftszivilisation zuwendet: dem "Sonderproblem Computer". Im donquichottesken Versuch, die Künstliche-Intelligenz-Forschung darüber aufzuklären, daß Algorithmen keine Menschen sind, macht sich Heuermann blind für die tatsächlichen Probleme der Computertechnologie wie beispielsweise den neuen medientechnischen Analphabetismus. Hatte Heuermann zuvor die (richtige) These von der gesellschaftlichen Nicht-Neutralität der Technologie vertreten, versucht er jetzt den Computer auf seinen rein instrumentellen Charakter zu reduzieren.

Wissenschaftskritiker, schreibt Luhmann einmal, werden "durch die einmalige Unwahrscheinlichkeit der Struktur moderner Gesellschaft mit ausdifferenzierter Wissenschaft" auf den Plan gerufen, sie vollziehen "jedoch keine Operationen, mit denen die Lage in bezug auf dieses Problem verbessert werden könnte. Proteste gegen Wissenschaft ändern nichts daran, daß nur Wissenschaft Wissenschaft treiben kann."

MARCUS HAHN.

Hartmut Heuermann: "Wissenschaftskritik". Konzepte, Positionen, Probleme. Francke Verlag, Tübingen, Basel 2000. 352 S., br., 78,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Michael Hampe bringt gut zwei Drittel seiner Besprechung damit zu, auszubreiten, wie seine Version von Wissenschafts- und Kulturkritik aussieht, bevor er sich kurz Heuermanns Buch zuwendet, das dann, wie zu erwarten, schlecht wegkommt. Hier komme in einem "atemberaubenden Eklektizismus" alles zusammen, was sich an einschlägigen Äußerungen von Autoren mit Rang und Namen finden ließ. Eigenständigkeit vermisst der Rezensent dagegen und fordert einen "systematischen Gegenentwurf" zur wissenschaftlich geprägten Zivilisation.

© Perlentaucher Medien GmbH