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Angst, so Worringer ist das Movens der Kunst, zumindest der ersten, der abstrakten. Damit ist er zum Stichwortgeber für die Abstraktion in der modernen Malerei geworden. Worringers Kunstgeschichte ist eine spekulative Kunstgeschichte. Von der Psychologie und der Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts genährt fragt sie nach "Ausdrucksbewegungen" und den psychischen Erregungen, die diesen zugrunde liegen. Er verschärft den antiklassischen Affekt, der sich schon bei Riegl regt, er bekämpft das klassizistische Vorurteil der Kunstgeschichte und ihren "europazentrischen Blick". Seine Texte sind…mehr

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Produktbeschreibung
Angst, so Worringer ist das Movens der Kunst, zumindest der ersten, der abstrakten. Damit ist er zum Stichwortgeber für die Abstraktion in der modernen Malerei geworden. Worringers Kunstgeschichte ist eine spekulative Kunstgeschichte. Von der Psychologie und der Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts genährt fragt sie nach "Ausdrucksbewegungen" und den psychischen Erregungen, die diesen zugrunde liegen. Er verschärft den antiklassischen Affekt, der sich schon bei Riegl regt, er bekämpft das klassizistische Vorurteil der Kunstgeschichte und ihren "europazentrischen Blick". Seine Texte sind Essays, die Lehrmeinungen und sich selbst in Zweifel ziehen. Seine Denkbewegungen folgen mit Vorliebe den "nomadischen Linien" (Deleuze), die ihm als Zeichen der Angst gelten, von der Gotik bis zur Moderne. Den Denker und Kunstschriftsteller Worringer neu zu lesen, ist das Anliegen dieser Edition. Sie ist ein Projekt der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig; ein Symposium ist ihr vorausgegangen, dessen Beiträge unter dem Titel Wilhelm Worringers Kunstgeschichte erschienen sind. Die nun vorliegenden Bände versammeln nicht nur bereits publizierte Schriften. Sämtliche Vorlesungsmanuskripte aus dem Nachlass, bislang unveröffentlicht, wurden für diese Edition transkribiert, in Auszügen gedruckt und vollständig als CD-ROM beigefügt.
Autorenporträt
Hannes Böhringer, geboren 1948 in Hilden bei Düsseldorf, ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Bildenden Künste Braunschweig. Gastprofessuren in Paris, Budapest und Madison (WI).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Der Schauer des Primitiven
Weltkunst zwischen Abstraktion und Einfühlung: Die Schriften Wilhelm Worringers als Pflichtlektüre / Von Henning Ritter

Daß eine Dissertation über einen Zeitraum von hundert Jahren in mehreren Sprachen fast ununterbrochen als Buch verfügbar ist, kommt sehr selten vor. Dies ist der Fall der Schrift "Abstraktion und Einfühlung: Ein Beitrag zur Stilpsychologie" von Wilhelm Worringer, der sie 1907 an der Universität Bern vorgelegt hatte. Der Dissertationsdruck gelangte in die Hände des Schriftstellers Paul Ernst, der, ohne zu bemerken, daß diese Arbeit nicht auf dem Buchmarkt zu haben war, eine Besprechung in der Zeitschrift "Kunst und Künstler" veröffentlichte, woraufhin sich der Piper Verlag im darauffolgenden Jahr zur Veröffentlichung entschloß. Übersetzungen in mehrere Sprachen folgten, und nur selten war das Buch nicht lieferbar.

Das Verzeichnis der Namen von Schriftstellern und Künstlern, auf die das schmale Buch Einfluß ausgeübt haben soll, ist lang. Worringers Buch entstand im Augenblick des plötzlichen Aufblühens der expressionistischen Bewegung, zwei Jahre nach Gründung der Dresdner "Brücke", und die Spuren seiner Gedanken lassen sich nicht nur bei Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner, sondern auch noch in Carl Einsteins Buch "Negerplastik" nachweisen. Der Einfluß reichte sogar weit über Deutschland hinaus nach England und in den letzten Jahrzehnten bis in die Vereinigten Staaten, wo er sich mit Tendenzen im "New Criticism" traf.

Auch die monumentale Stilpsychologie des "imaginären Museums" von André Malraux hat eine Verwandtschaft mit Worringers Bemühen, psychologische Grundformen des Stils für ein Verständnis der Weltkunst fruchtbar zu machen und neue Möglichkeiten des Vergleichs über die Grenzen der Stile hinweg zu erschließen. Worringers Buch "Griechentum und Gotik" ergab sich später fast zwingend aus dem Ansatz seiner Dissertation, und die Gegenüberstellung des griechischen und des gotischen Lächelns wurde zu einer der spektakulärsten Gegenüberstellungen im imaginären Museum von André Malraux.

Die erstaunliche Wirkung von Worringers Dissertation wäre weniger erstaunlich, wenn sich der junge Kunsthistoriker direkt zum Sprachrohr des Expressionismus und der sich damals erst atmosphärisch ankündigenden Abstraktion gemacht hätte. Tatsächlich aber zeigt seine frühe Arbeit keine Spuren solcher gewollter Zeitgenossenschaft. Sie schließt vielmehr an die psychologische Ästhetik von Theodor Lipps auf der einen Seite und die Bestrebungen der Wiener Schule, besonders Alois Riegls, auf der anderen Seite an, die der ornamentalen Kunst und ihren Gesetzmäßigkeiten eine Schlüsselstellung in der Gesamtheit des Kunstschaffens anwies. Worringers Arbeit ist ohne Riegls Begriff des "Kunstwollens" nicht zu denken, der hier seine Kraft der Umwertung des von der Renaissance herkommenden Kunstschaffens unter Beweis stellt. Hinzu kamen freilich gegenläufige Einflüsse vom späten Klassizismus Adolf von Hildebrandts und von Hans von Marées.

Für Worringer waren Abstraktion und Einfühlung die psychologischen Grundlagen einer nachahmenden und einer formgesetzlichen Kunst. Diese war die ursprüngliche Kunstübung, die nachahmende dagegen, die einfühlend erlebt wird, ein Spätprodukt und im Zusammenhang der Weltkunst bloß eine Episode: "Die Geschichte des Nachahmungstriebes ist eine andere als die Geschichte der Kunst", schrieb Worringer und leitete damit eine gewaltige Verschiebung im Kunstkosmos ein.

Trotzdem könnte es als ein Mißverständnis erscheinen, daß dieser junge Kunsthistoriker auf seine Generation und die zeitgenössische Kunst einen so großen Einfluß ausübte. Schon das Begriffspaar von Abstraktion und Einfühlung konnte zu Mißverständnissen verleiten. Worringers Zeitgenossen subsumierten unter das Schlagwort "Abstraktion" umstandslos den Expressionismus, der sich wegen seiner Voraussetzungslosigkeit direkt mit primitiver Kunst verwandt wähnte. Während wir heute eher geneigt wären, den Expressionismus unter der Kategorie "Einfühlung" zu fassen, scheint es damals evident gewesen zu sein, daß er in der Entgegensetzung von nachahmender und von formgesetzlicher Kunst an die Seite der primitiven Abstraktion rückte. Wegen dieser vielen möglichen Mißverständnisse ist es nicht weiter verwunderlich, daß Worringers erste grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Expressionismus zu Anfang der zwanziger Jahre auf dessen Beisetzung hinauslief.

In Worringers genialem Büchlein hatten sich die Gewichte der Weltkunst zum Primitiven als einer ursprünglichen, immer neu aktualisierbaren Gesetzlichkeit verschoben, die mit dem Schlagwort der "Abstraktion" bezeichnet wurde. Die wahre Kunst war nun nicht mehr auf der Seite der Renaissancekunst und ihrer Folgen bis zum Impressionismus zu suchen. Vielmehr galt als schöpferisch nur noch die Bemächtigung und Beherrschung des Anorganischen. Kunst wurde als elementarer Akt der Selbstbehauptung in einer feindlichen Umwelt begriffen, gleichgültig ob es sich um die der Primitiven oder um die der modernen Technik handelte.

Solche Beziehungen zum Lebensgefühl der Zeit waren es und nicht so sehr die Nachweise der Entwicklung der Kunst, die für die Wirkung des schmalen Buches sorgten. Wenn dieses jetzt nicht mehr als Einzelschrift, sondern zusammen mit den wichtigsten späteren gedruckten und ungedruckten Texten Worringers - "Formprobleme der Gotik" (1911), "Die Anfänge der Tafelmalerei" (1924), "Ägyptische Kunst" (1927), "Griechentum und Gotik" (1928), "Fragen und Gegenfragen" (1956) - wieder aufgelegt wird, könnte dies als Zeichen gewertet werden, daß "Abstraktion und Einfühlung" nun endlich zu den wissenschaftsgeschichtlichen Akten gelegt wird. Es ist unwahrscheinlich, daß von der kleinen, ungemein anregenden Schrift noch einmal neue Impulse für ein Weltkunstpathos oder ein neues Verständnis der zeitgenössischen Kunst ausgehen könnte.

Denn strategisch gesehen ist die Gegenwartskunst in Worringers Schema, auch wenn sie sich in großem Umfang auf die Abstraktion stützt, längst auf die Seite der Einfühlung gerückt. Denn sie ist weniger Ausdruck des Unbehanges in der Welt als des Behagens, ähnlich wie es im neunzehnten Jahrhundert im Naturalismus der Fall war. Die Schauer des Primitiven sind aus der Kunst unserer Zeit verschwunden, und auch um das Weltkunstpathos, das Worringer und Malraux so emphatisch artikulierten, ist es still geworden.

Einer der eindrucksvollsten Texte dieser reichen und im Schlußteil sehr schön kommentierten Sammlung ist der Aufsatz "Künstlerische Zeitfragen" von 1921 über die Krise des Expressionismus. Hier hat Worringer nach dem Ersten Weltkrieg, den er übrigens nicht erwähnt, den Bankrott nicht nur des Expressionismus, sondern der zeitgenössischen Kunst im allgemeinen mit erstaunlicher Rücksichtslosigkeit analysiert. In ausdrucksvollen Formulierungen spricht er von "unserem Zeitirrtum", von dem "Hohlraum des Vergeblichkeitsbewußtseins", der sich hinter der wilden Gestikulation aufgetan habe, von einer "großen Torschlußpanik der an sich selbst verzweifelnden Kunst".

All das klingt selber noch expressionistisch und kommt aus der Kunsterwartung der Vorkriegszeit. Diese Erwartung hatte sich auf eine kommende "elementare Kunst" gerichtet, die sich mit der Gotik, mit primitiver und asiatischer Kunst verwandt wußte. Dieser intellektuell beschworene Vergleich, so Worringer, habe die Folge gehabt, daß die zeitgenössische Kunst, die mit diesen Stilen wetteifern wollte, sich als eine traurige Philosophie des Als-ob erwies. Die zeitgenössische Kunst krankte an ihrer soziologischen Funktionslosigkeit, sie war unversehens zu einem bloßen Ornament geworden: "Museumsluft weht um alle unsere künstlerischen Erzeugnisse." Der Expressionismus sei an seinen Dauererregungen gescheitert, an seinen expansiven Gesten, die in das intime Rahmenbild nicht paßten und zu bloßen Oberflächenreizen wurden. Es war Spengler-Stimmung, die Worringer zur Zukunftsvision einer zerebralen Kultur verleitete, deren "unheimliche Überwachheit" sich in einer neuen "Denksinnlichkeit" ausdrücken sollte.

Nicht zufällig hat Gehlen die Diagnose der Erstarrung des Expressionismus in "Zeit-Bilder" aufgegriffen und, optimistischer als Worringer, dem Entwurf einer intellektualisierten Kunst zugute kommen lassen. Es sind gerade Worringers nachträgliche Kommentare zur Gegenwartskunst, die die Lektüre seiner "Schriften" fesselnd machen: konservative Einsprüche gegen die zeitgenössische Kunst, die aus dem fast sehnsüchtigen Bedürfnis kommen, mit ihr mitzugehen. So fehlen der hämische Ton Sedlmayrs oder die Kälte Gehlens. Immerhin war auch ihnen noch der große Maßstab, an dem die moderne Kunst gemessen wurde, gemeinsam.

Wenn man Worringer wiederliest, muß man feststellen, daß die großen Maßstäbe der Weltkunst heute, da man vorgibt, global zu denken, verschwunden sind. Ohne es zu merken, ist die moderne Kunst trotz ihres ungeheueren sozialen Erfolges zu einem regionalen Phänomen geworden, das nur noch sehr oberflächliche Beziehungen zur Weltkunst und zu ihrer eigenen Geschichte hat. Worringers Frage, ob in den prähistorischen Höhlen abstrakt oder naturalistisch gemalt wurde, ist bedeutungsleer geworden. Für seine Stellung zur Gegenwartskunst waren die Höhlenmalereien nicht gleichgültig. Ihr Naturalismus stellte nicht nur seine These vom Primat der Abstraktion, sondern auch die Legitimität der abstrakten Kunst in Frage. Auch diese Verklammerung von kunsthistorischen und künstlerischen Gedanken ist mittlerweile obsolet geworden. Paradoxerweise hat der Primitivismus der modernen Kunst ihr schließlich den Zugang zur Ursprünglichkeit und zu den Quellen der Regeneration versperrt.

Benno Reifenberg hat Ende der fünfziger Jahre Worringers Begriffspaar in die Formel "Raffael und Negerplastik" übersetzt. Diese griffige Gegenüberstellung, die keine Gegenwartskunst mehr nennt, entsprang einer veränderten Lage der Kunst. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Einfühlung in die natürliche Formenwelt noch tiefer entwertet zu sein. Die Atombombe war nun das Symbol für eine "bedrohliche Welt aus dem Zustand des Erschrecktseins", wie Reifenberg schrieb. Damals gab Worringers mehr als fünfzig Jahre altes Buch noch einmal das existentielle Stichwort für die Zeit. Es war das letzte Mal.

Wilhelm Worringer: "Schriften". Herausgegeben von Hannes Böhringer, Helga Gebing und Beate Söntgen. Wilhelm Fink Verlag, München 2004. 2 Bände mit CD-ROM. 1500 S., 121 Abb., geb., 160,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein so seltener wie erstaunlicher Fall ist es, stellt Rezensent Henning Ritter fest, dass eine Dissertation auch 100 Jahre nach ihrem Erscheinen verfügbar ist, und auch noch in mehreren Sprachen. Es ist der Fall von Wilhelm Worringers kunsttheoretischer Doktorarbeit mit dem fast schon geflügelten Titel "Abstraktion und Einfühlung". Die von Worringer vorgenommene Unterscheidung zwischen "nachahmender und formgesetzlicher Kunst" hatte weit reichende Wirkungen. Hier wird nun eine Sammlung kürzerer Texte Worringers vorgelegt, von denen der Rezensent den zu den "Künstlerischen Zeitfragen" von 1921 besonders eindrucksvoll findet. Der Autor erklärt darin den "Bankrott" der "zeitgenössischen Kunst im allgemeinen" - eine Ansicht, der sich Ritter in einem umfassenden Schlenker bis zur Gegenwart der "modernen Kunst" anzuschließen geneigt scheint. Die Zeiten der "großen Maßstäbe der Weltkunst", so Ritter nicht ohne Bedauern, sind vorbei. Umso begeisterter ist er von dieser "reichen und im Schlussteil sehr schön kommentierten Sammlung".

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