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Strafverfolgung und Sittlichkeit im Zeichen der Aufklärung. Ein neues Licht auf das vernachlässigte Thema werfen jüngste Archivfunde in Weimar. Zu diesen zählt vor allem die komplett erhaltene Akte zum Prozess gegen die Kindsmörderin Johanna Höhn. Anhand der edierten Quellen werden rechtliche und soziale Positionen in Bezug gesetzt zur weimarische Staatsmodernisierung während der Regierungszeit Herzog Carl Augusts. Mit einem Nachwort von René Jacques Baerlocher.

Produktbeschreibung
Strafverfolgung und Sittlichkeit im Zeichen der Aufklärung. Ein neues Licht auf das vernachlässigte Thema werfen jüngste Archivfunde in Weimar. Zu diesen zählt vor allem die komplett erhaltene Akte zum Prozess gegen die Kindsmörderin Johanna Höhn. Anhand der edierten Quellen werden rechtliche und soziale Positionen in Bezug gesetzt zur weimarische Staatsmodernisierung während der Regierungszeit Herzog Carl Augusts. Mit einem Nachwort von René Jacques Baerlocher.
Autorenporträt
Dr. Volker Wahl, geboren 1943; Studium der Germanistik und Anglistik in Potsdam, der Archivwissenschaften in Berlin; seit 1969 wissenschaftl. Archivar in Weimar; 1976-86 Universitätsarchivar in Jena, 1986-91 Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar; seit 1991 Direktor des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2006

Goethe - ein Unmensch?
Klassiker auf der Waagschale: Quellen zum Kindsmord in Weimar

"Goethe unterzeichnet das Todesurteil einer Kindsmörderin und empfiehlt die Exekution." In Goethes Sündenregister nimmt sich ein solcher Satz besonders schlagkräftig aus, unwiderlegbar in seiner schneidenden Kürze. Diese hat Methode, soll sie doch vernichten, rasch und ohne Einspruch. Hans Mayer, von dem der kurze Satz stammt, griff (ohne sie zu nennen) auf eine Diskussion der Jahre um 1930 zurück. Sie war auf die Kurzformel "Auch ich" zugelaufen. "Auch ich" - so stand es, ausgegeben als exakte schriftliche Äußerung Goethes, in einer Anmerkung von Friedrich Wilhelm Luchts Abhandlung über das Strafrecht in Sachsen-Weimar unter Carl August, die sich auf die Voten der Geheimen Räte zum Problem der Bestrafung von Kindsmörderinnen bezog.

In der Folge prangerte Karl Maria Finkelnburg im Berliner Tageblatt Goethes Unmenschlichkeit an: "Die Hand, die die wundervolle Kerkerszene im Faust, eine der erschütterndsten Szenen der Weltliteratur, geschrieben hat, setzte - die Originalakten sind noch vorhanden - als Zustimmung zu den beiden auf Todesstrafe lautenden Voten nur die Worte hinzu: ,Auch ich.' Nichts weiter. Formelhaft." Goethe, so heißt es dann feinsinnig, war also "Anhänger von Hinrichtungen". Mit Verzweiflung geradezu registrierte Thomas Mann das ominöse "Auch ich", es kam ihm "in seiner Art ebenso erschütternd" vor "wie der ganze Faust". Daß es zumindest die Kurzformel "Auch ich" gar nicht gab - die Originalakten enthalten sie nicht -, änderte wenig an der Karriere des Vorwurfs. Offenbar bestand in diesen Jahren ein dringendes Bedürfnis, Goethe moralisch zu liquidieren - Mathilde Ludendorffs Märchen von der Mitschuld Goethes an der Ermordung Schillers schlug in die gleiche Kerbe. Es gab eine Form des "Mißwollens" (Goethes Prägung), die im Falle Goethes alles für möglich hielt, auch Mord und Totschlag.

Nun ist die Sache wieder da. Sigrid Damm machte mit "Christiane und Goethe" den Anfang. Sie nahm Akteneinsicht im Thüringischen Staatsarchiv und behandelte den Fall der Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn. Diese war im November 1783 öffentlich enthauptet worden, nachdem das Geheime Consilium, also auch Goethe, zum Problem der Todesstrafe befragt worden war. Jetzt rückte der Satz "daß auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten" in die Mitte der Empörung. Damm wußte ihm sogar eine Wendung zu geben, die das alte "Auch ich" noch übertraf. Goethe war nicht nur ein Mit-, sondern der Hauptschuldige an der Hinrichtung, bildete sein Votum doch in dem vermeintlich gespaltenen Gremium das "Zünglein an der Waage". Bleibt freilich die Frage, was denn, um alles in der Welt, Goethe dazu bewogen hat, sich sogar den Wünschen seines Herzogs entgegenzustellen? Dafür hat Damm eine enttäuschend kleinliche Antwort parat: Zerstreuung, Schlendrian, Lässigkeit. Schlampigkeit in einer solchen Sache, und das bei Goethe, dessen Gewissenhaftigkeit bekannt war?

Nahezu gleichzeitig haben nun einerseits der Freiburger Germanist Rüdiger Scholz und anderseits Volker Wahl, Direktor des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, im Verein mit dem Juristen und Goetheforscher René Jacques Baerlocher kommentierte Editionen der Archivalien zum umstrittenen Komplex vorgelegt. Obwohl sie zum Teil die gleichen Dokumente bieten, könnten sie doch unterschiedlicher nicht sein.

Zwar ruft Scholz zur "Versachlichung" auf, doch läßt seine Einleitung keine Gelegenheit aus, Goethe seine Mißbilligung entgegenzuschleudern. Goethe urteile "unmenschlich", er sei "verantwortlich für den Tod von Johanna Höhn"; seine Rechtfertiger verschweigen, unterschlagen, verbiegen, verletzen ihr Berufsethos, sind ethisch mehr als bedenklich und so fort - kein Wunder, leiden sie doch am "Versagen des von der deutschen Klassik geprägten deutschen Bürgertums im Faschismus", ein Versagen, das ihnen Goethe selbst in seiner Spaltung zwischen Dichter ("human denkend") und Richter ("inhuman handelnd") vorgemacht hat. Am lapidaren Satz Hans Mayers ist zwar alles falsch, wie Scholz eingesteht, "aber der Sachverhalt ist dennoch im Ergebnis richtig". Da waltet eine mutige Logik.

Im Mittelpunkt stehen die Akten zum Fall der Johanna Höhn, insbesondere die Stellungnahmen zum Problem der Bestrafung von Kindsmörderinnen, die der Herzog aus diesem Anlaß seinem dreiköpfigen Geheimen Consilium, darunter Goethe, abverlangte. Als sich abzeichnete, daß die zuständigen Justizbehörden, wegen der Vorsätzlichkeit der Tat, auf Todesstrafe erkennen würden, legte der Herzog zunächst dem Justizkollegium, der "Regierung", dann, nachdem der Jenaer Schöppenstuhl das Todesurteil gefällt hatte, auch seinen Beratern im Consilium seine "Idee" vor, wie man die Todesstrafe vermeiden und durch eine womöglich noch abschreckendere Strafe ersetzen könne. Er verlagerte die Frage vom Einzelfall ins Prinzipielle und schloß sich dabei dem zeitgenössischen Diskussionsstand an. Auf diese Situation hatte Goethe mit seinen Amtskollegen zu reagieren.

Furcht vor Schande galt als das entscheidende Motiv der Kindsmörderinnen. Konnte man die Furcht vor dem Tod, die ja nicht selten hinter der Furcht vor der Schande zurücktrat, durch die Furcht vor einem Exzeß an Schande überbieten und so ein Höchstmaß von Abschreckung bewahren? Das Reskript des Herzogs, das mit scharfsinnigen psychologischen Überlegungen aufwartet, glaubte dies dadurch zu erreichen, "daß die Verbrecherin, durch Abschneidung des Haupt-Haars, für immer, als eine Mißethäterin, zur Schande ausgezeichnet, sodann an den Pranger gestellet und öffentlich gegeißelt, auch, wenn dieses geschehen, auf Lebens Zeit in das Zuchthauß gebracht und darinne zu beständiger ... harter Arbeit angehalten, wie nicht weniger die Stellung an den Pranger und deren öffentliche Geißelung, solange sie lebet ... jährlich ein oder ein paarmahle, besonders an dem Jahres-Tag, an welchem sie den Kinder-Mord verübet, wiederhohlet werde".

Eine peinigende Alternative. Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende? Fritsch und Schnauß, die älteren Ratsmitglieder, votierten in ausführlichen Schriftsätzen für die Todesstrafe, da sie sich bewährt habe (Fritsch) und den Zweck der Abschreckung am besten erfülle (Schnauß). Und Goethe? Er sah sich zunächst außerstande, ein Votum abzugeben, und reichte statt dessen einen - nicht überlieferten - Aufsatz ein. Dann schloß er sich, in einer tatsächlich kurzen Notiz, den "beyden vorliegenden gründlichen Votis" an. Der Herzog, dem es ja freistand, eine Begnadigung auszusprechen, behielt im Grundsatz die Todesstrafe bei und veranlaßte die Vollstreckung im anstehenden Fall Höhn.

Scholz füllt die Erklärungslücke, die der verlorene Aufsatz Goethes hinterläßt. Indem Goethe sich dem Gutachten von Fritsch anschloß, habe er dieses wie auch die "aktuelle Situation" "verfälscht" (was immer dabei "verfälschen" bedeuten mag). Da Fritsch, so legt sich Scholz dessen Votum zurecht, doch eigentlich schon gegen die Todesstrafe gewesen sei, wäre im Verein mit dem Herzog und Goethe eine Mehrheit für deren Abschaffung zustande gekommen. So aber habe Goethe den Ausschlag gegeben ("Zünglein an der Waage") und den Herzog "allein gelassen". Das J'accuse gibt hier das Tempo vor und geht über wackelnde Prämissen schwungvoll hinweg. Unmenschlich stellte sich Goethe gegen den Willen seines menschlichen Dienstherrn - warum er das tat, dafür hat Scholz kein Wort der Erklärung.

Auch Wahl und Baerlocher haben den verlorenen Aufsatz nicht entdeckt und kennen deshalb Goethes Motive nicht. Um so größer die Bemühung, durch Einbettung des Vorgangs in immer weitere Kontexte Verständnis zu ermöglichen. Die Edition der Dokumente, mit sorgfältigen Kommentaren, einer ausführlichen Einführung von Wahl und einem ebensolchen Nachwort von Baerlocher, überbietet Scholz um ein Mehrfaches. Um den Kernbestand, die Akte Höhn und die Diskussion über die Todesstrafe, lagern sich andere Fälle von Kindsmord, ein Weimarer Beitrag zur bekannten Mannheimer Preisfrage über die Verhinderung des Kindsmordes, Dokumente zur Abschaffung der Kirchenbuße, Gesetzestexte und Rezeptionszeugnisse. Viel vertrackte juristische Prosa also. Aus dem "Fall" Goethe wird solchermaßen die lange und umständliche Geschichte der Behandlung von Sittlichkeitsdelikten ("fleischlichen Verbrechen") in Sachsen-Weimar-Eisenach, zu deren Folgen auch der Kindsmord gehört.

Man wird gründlich belehrt über die administrativen Instanzen des Herzogtums. Das Geheime Consilium war für den Prozeß und das Urteil keineswegs zuständig; deshalb gab es da keine Entscheidung über Todesurteile oder gar deren Unterzeichnung. Zu seiner eigenen Überraschung und ganz außer der Ordnung wurde das Consilium um Voten zum grundsätzlichen Problem der Todesstrafe für Kindsmord befragt, nicht zum Fall Höhn; der war Anlaß, aber nicht Gegenstand der Befragung (Baerlocher). Nichts ist es auch (aber wer außer Damm hat daran schon geglaubt?) mit dem vermeintlichen Schlendrian der Geschäfte. Die Beteiligung Voigts am Mannheimer Preisausschreiben, hier erstmals ausführlich dokumentiert, zeigt, daß man sich in Weimar seit Jahren mit der Sache beschäftigte; Goethe selbst plante dazu eine eigene Bearbeitung. Deutlich wird auch die Stoßrichtung der Weimarer Reformpolitik: Die Beseitigung der Ursachen des Kindesmords war ihr wichtiger als die Frage der Schuldfähigkeit der Angeklagten. Die Bilanz der Weimarer Reformen fällt nicht spektakulär aus. Nur in der Frage der Kirchenbuße gab es schon 1786 entschiedene Erfolge.

Zu erledigen ist eine mühselige und peinigende Lektüre. Für schnelle und eindeutige Urteile ist sie nun allerdings Gift. Zum Jubilieren jedenfalls gibt es nichts, weder für die Kritiker noch für die Freunde Goethes.

HANS-JÜRGEN SCHINGS

"Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn". Kindesmorde und Kindesmörderinnen im Weimar Carl Augusts und Goethes. Die Akten zu den Fällen Johann Catharina Höhn, Maria Sophia Rost und Margarethe Dorothea Altwein. Herausgegeben und eingeleitet von Rüdiger Scholz. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004. 176 S., br., 19,80 [Euro].

Volker Wahl (Hrsg.): "Das Kind in meinem Leib". Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl August. Eine Quellenedition 1777-1786. Mit einem Nachwort von René Jacques Baerlocher. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 2004. XII und 516 S., geb., 39,95 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Viel vertrackte juristische Prosa" findet Rezensent Hans-Jürgen Schings in diesem von Volker Wahl herausgegebenen Band mit Quellen über Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Weimar. Der Band ist für ihn vor allem deshalb interessant, weil er sich auch mit der Frage nach der Mitverantwortung Goethes für das Todesurteil im Fall Johanna Höhn befasst. Er lobt sowohl die ausführliche Einleitung und den sorgfältigen Kommentar von Volker Wahl als auch Rene Jacques Baerlochers Nachwort, und bescheingt beiden Autoren, den Fall "Goethe" durch Einbettung in weitere Kontexte verständlich zu machen. Um den Kernbestand, die Akte Höhn und die Diskussion über die Todesstrafe, bietet der Band Quellen zu anderen Fällen von Kindsmord, einen Weimarer Beitrag zur Mannheimer Preisfrage über die Verhinderung des Kindsmordes, Dokumente zur Abschaffung der Kirchenbuße, Gesetzestexte und Rezeptionszeugnisse. "Zu erledigen ist eine mühselige und peinigende Lektüre", schließt der Rezensent und verweist darauf, dass sich "schnelle und eindeutige Urteile" hier verbieten.

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