Marktplatzangebote
13 Angebote ab € 0,40 €
  • Broschiertes Buch

Wie bunt, wie grau, wie erotisch, wie gefährlich? Waren wirklich Honecker und Krenz, Braunkohle- und Zweitaktgerüche, Krippe, FDJ und Jugendweihe die bestimmenden Größen? Der Ungarn-Urlaub? Oder die Suche nach der richtigen Jeans? Wie sah es hinter den heute bekannten Klischees aus?

Produktbeschreibung
Wie bunt, wie grau, wie erotisch, wie gefährlich? Waren wirklich Honecker und Krenz, Braunkohle- und Zweitaktgerüche, Krippe, FDJ und Jugendweihe die bestimmenden Größen? Der Ungarn-Urlaub? Oder die Suche nach der richtigen Jeans? Wie sah es hinter den heute bekannten Klischees aus?
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2003

Zonenkinderlein
Neueste deutsche Literatur
in der Berliner Volksbühne
Warum erlahmt die Neugier auf die vorhersehbaren Kindheitsgeschichten nicht? Was treibt erwachsene Menschen an einem Samstagabend, an dem Berlin doch für gewöhnliche wie für ausgefallene Leidenschaften vieles bietet, ausgerechnet in den Roten Salon der Volksbühne, um dort vier junge Talente über Ergehen und Empfinden in der DDR erzählen zu hören? Die Anthologie, in der ihre Texte veröffentlicht worden sind, trägt den abgegriffenen Titel „Der wilde Osten”, kostet zehn Euro und soll uns mit 26 Erzählungen die Befindlichkeit der Zonenkinder-Generation nahe bringen (Neueste deutsche Literatur. Herausgegeben von Roland Koch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002).
Es war so früh schon so voll im Roten Salon, und es waren so unterschiedliche Menschen gekommen, dass die erste Vermutung, hier würden sich ausschließliche Freunde und Verwandte der Lesenden treffen, ausschied. Da gab es – Klischees lassen sich zuverlässig nur dann vermeiden, wenn man das Haus nicht verlässt – Menschen wie du und ich, und die versonnen im Schneidersitz lauschende, den Kopf schräg haltende Blondine, den verhaltensauffälligen Studenten und auch die Typen mit der Bierflasche in der Hand und dem herablassenden Zug um die Mundwinkel. Guten Willen gab es und Lachen bei nur vermuteten Pointen.
„Anna-Resa küsste nicht” heißt die Erzählung Franziska Gerstenbergs, vorgetragen in souveräner Monotonie, als sei hier Unsagbares Wort geworden und weiteres Buhlen um die Aufmerksamkeit der Hörer daher nicht vonnöten. Die Autorin wurde 1979 in Dresden geboren und teilt auf acht Druckseiten eben das mit, was der Titel schon verrät. Die Schulfreundin Anna-Resa, deren Prinz die Erzählerin gern spielte, hat sie nicht, dann aber doch einen gewissen Norbert geküsst. Und nach der Wende ist auch das keine große Sache mehr. Warum aber wird es erzählt?
Im Falle von Tom Schulz, geboren 1970 im sächsischen Großröhrsdorf, stellte sich wenigstens diese Frage nicht. Dass er besonders ist, dass er einiges an Verachtung für die Welt mitbringt, verriet der erste Satz: „Seit meiner Kindheit übe ich mich im Atmen, gleichmäßig in den verschiedensten Lagen; frühmorgens, im Rückwärtslaufen zum Beispiel, wenn ich erwache und wieder eine dieser Schulen besuche aus Sprossenwänden, Milchkübeln und den in die Luft gerammten Fahnenstangen.” Auch muss Schulz früh schon mit dem Werk Heiner Müllers bekannt geworden sein, dem er die Neigung zum weltgeschichtsverachtenden Spruch abgehört hat und dessen stilistische Eigenarten er ab und an zu imitieren sucht. „Ich bin gehirnlich höchst brennbar und versetzungsgefährdet, ein Erzfeind der werktätigen Massen!”
Die Standardfloskeln der Literaturkritik, mit denen man das Phänomen vom Halse hätte – pubertär, Schulaufsatz, Schreibübung, belanglos – helfen in Sachen „wilder Osten” nicht recht weiter. Ein Bedürfnis wird hier befriedigt, und die schlimmste aller Vermutungen hat viel Wahrscheinlichkeit für sich: Dass so viele derlei Texte hören und lesen wollen, weil sie schon längst geplant haben, ihre eigene Kindehitsgeschichte aufzuschreiben.
JENS
BISKY
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2002

Skat mit Jens und Ronny
Stallgeruch der Zonenkinder: Ostdeutsche Jungautoren erzählen

Der Wunschtraum war ein Pony oder wenigstens ein großer Hund, doch meistens gab es für Kinder nur einen Wellensittich. Wenn das seltsame Haustier plötzlich durchs versehentlich offengelassene Wohnzimmerfenster erst in den Garten und dann auf und davon flog, wenn es aus ungeklärten Gründen von der Stange fiel oder im Staubsauger endete, dann wurde nach kurzer Trauer ein Vogel mit gleichfarbigem Gefieder nachgekauft und bekam den Namen des alten.

Der Tag, an dem der Wellensittich starb oder wegflog, ist eine Kindheitserinnerung, die in Ost und West viele teilen. Auch am Anfang von Volker Altwassers Erzählung "Prag" steht der Tod eines Wellensittichs. Unter den ängstlichen Blicken von Mutter und Sohn holt der betrunkene Vater das lebende Tier eines Tages aus dem Käfig, duscht es ab und fönt und fönt, bis Putzi schließlich in die Badewanne plumpst und sich nicht mehr bewegt. Nach dem Mord wird kein neuer Sittich angeschafft. Die Eltern lassen sich scheiden. Der Sohn leidet, muß in der Kinderpsychiatrie ruhiggestellt werden, der Vater bleibt Säufer, verwahrlost zusehends in seiner Plattenbauwohnung und kompensiert seine Schuldgefühle gegenüber dem Sohn auch Jahre später noch durch Geldgeschenke.

Altwassers Schilderung des zwischenmenschlichen Desasters trägt Züge jenes ausgeprägten ostdeutschen Neorealismus, den beispielsweise Andreas Dresens Film "Halbe Treppe" so meisterhaft vorführt. Tristes Ambiente, viel Beton, Mopedausflüge, Zigeunerschnitzel mit Letscho, Skat, Kneipen, Jens und Ronny: der ganze juvenile Greifswalder Boddenblues. Einmal gewinnt eine Figur, deren Psychologie ansonsten kaum entwickelt wird, für die Flüchtigkeit eines Satzes lang an Kontur: Der kleine Junge, der Stunden damit verbringt, aus Zeitungen Figuren feinsäuberlich mit einer Nagelschere auszuschneiden und sie dann in einem Schuhkarton zu sammeln, denkt: "Scheidung ist, wenn man schon lange vom schwarzen Strich abgekommen war und mit einem Mal merkte, daß man die ganze Zeit in die Figur schneidet."

Altwassers Erzählung gehört zu den nennenswerten Beiträgen der Anthologie "Der wilde Osten". Sie versammelt sechsundzwanzig Texte von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die zwischen 1965 und 1979 in der DDR geboren sind und dort aufwuchsen. Die Geschichten handeln von Rico, Rocco, Ronny, Krischi, Martel oder Anna-Resa. Es geht viel um Kinderzimmergemütlichkeit, geschiedene Eltern, den Hort, manchmal um Tierquälerei, blaue Pionieruniformen, Kosmonauten, Pubertät und um Dinge, die man nur im Intershop bekam. Bei Matthias Senkel läuft im Sommer 1986 "das ARD" ohne Unterbrechung.

Viele Erinnerungen sind kollektiv, doch das Initiationserlebnis, die erste prägende Erfahrung von Liebe, Trauer, Verlust, Eifersucht, findet bei jedem woanders statt. Auf die Weise gibt das Buch tatsächlich einen Querschnitt durch ostdeutsche Sozialisation der siebziger und achtziger Jahre. Bekanntere Talente wie Terezia Mora oder Julia Schoch verlagern die Schauplätze ihrer Erzählungen von der Ostwirklichkeit weg und in Träume oder ins Phantastische hinein. Bei ihnen findet man die stärksten poetischen Bearbeitungen einer Systemkindheit; sie gehen über das rein Biographische, Private hinaus.

Doch leider ist längst nicht jeder Text gelungen. Marko Martin hat sich an einer Methode versucht, die zuerst der Schriftsteller und Maler Joe Brainard, danach Georges Perec und Harry Matthews verwendeten. Sie beruht darauf, jeden neuen Gedanken durch die Phrase "Ich erinnere mich" einzuleiten, die so zur strukturierenden Formel wird. Wo aber seine Vorgänger zu Spurensicherern des Unbeachteten, zu Archivaren des Nebensächlichen wurden, bleibt das Verfahren bei Martin bloß eine Manier zum Erzählen ebenso selbstverliebter wie pathetischer Platitüden: "Ich erinnere mich, wie ich durch Paris ging, schneidende Kolumnen-Sätze entwerfend, um den Kokon über Mecklenburger Künstlerhäusern endgültig zu zerstören, um diese verfluchte Ostgestimmtheit loszuwerden, den verhangenen Blick wegzukriegen, um zu lernen, ohne Melancholie die Seine-Quais entlangzulaufen, mich in das Gewühl der großen Boulevards zu stürzen." Ein leichter Stallgeruch Berliner Lesebühnen, repräsentiert durch Falko Hennig ("Alles nur geklaut") oder Jochen Schmidt ("Produktive Arbeit"), darf natürlich nicht fehlen. Auch dies macht den Band durchaus lesenswert für alle, die bisher noch nicht mit aktueller Gegenwartsliteratur aus Ostdeutschland in Kontakt gekommen sind.

STEFANIE PETER

"Der wilde Osten". Neueste deutsche Literatur. Herausgegeben von Roland Koch. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002. 255 S., br., 10,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einen "Querschnitt durch ostdeutsche Sozialisation" der siebziger und achtziger Jahre bietet nach Ansicht von Rezensentin Stefanie Peter die von Roland Koch herausgegebene Anthologie "Der wilde Osten", die sechsundzwanzig Texte von Schriftstellern und Schriftstellerinnen versammelt, die zwischen 1965 und 1979 in der DDR geboren sind und dort aufwuchsen. Vor allem Volker Altwassers Erzählung "Prag" hat es der Rezensentin angetan. Seine Schilderung des zwischenmenschlichen Desasters trage Züge jenes "ausgeprägten ostdeutschen Neorealismus", den beispielsweise Andreas Dresens Film "Halbe Treppe" so meisterhaft vorführe. Die meisten Geschichten des Bandes handeln laut Peter von Rico, Rocco, Ronny, Krischi, Martel oder Anna-Resa, von Kinderzimmergemütlichkeit, geschiedenen Eltern, dem Hort, von blauen Pionieruniformen, Kosmonauten, Pubertät und von Dingen, die man nur im Intershop bekam. Zu ihrem Bedauern sind nicht alle Texte des Bandes so gelungen wie der von Altwasser. Dennoch hält sie den Band für alle, die bisher noch nicht mit aktueller Gegenwartsliteratur aus Ostdeutschland in Kontakt gekommen sind, für "durchaus lesenswert."

© Perlentaucher Medien GmbH