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Eine aus unendlich vielen Rädern und Gewichten bestehende Maschine steht für die zahllosen Verbindungsstücke, die die Geschichte einer Familie zusammenhalten: Der Maestro ist als junger Anarchist Ende des 19. Jahrhunderts aus dem tiefen Süden Italiens in die Toskana gekommen, hat sich in eine schöne Witwe verliebt und hinterlässt mehrere Kinder, als er bei einer Demonstration erschossen wird. Eines davon, Cafiero, wird Annina heiraten, die resolute Tochter des Schweinezüchters Odysseus Bertorelli, und so vermischen sich die Schicksale von Idealisten und Pragmatikern, von Träumern und…mehr

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Produktbeschreibung
Eine aus unendlich vielen Rädern und Gewichten bestehende Maschine steht für die zahllosen Verbindungsstücke, die die Geschichte einer Familie zusammenhalten: Der Maestro ist als junger Anarchist Ende des 19. Jahrhunderts aus dem tiefen Süden Italiens in die Toskana gekommen, hat sich in eine schöne Witwe verliebt und hinterlässt mehrere Kinder, als er bei einer Demonstration erschossen wird. Eines davon, Cafiero, wird Annina heiraten, die resolute Tochter des Schweinezüchters Odysseus Bertorelli, und so vermischen sich die Schicksale von Idealisten und Pragmatikern, von Träumern und Geschäftemachern, Gewinnern und Verlierern. Ein berührendes Epos von kleinen Leuten, die in große Ereignisse verwickelt werden.
Autorenporträt
Riccarelli, Ugo
Ugo Riccarelli wurde 1954 in Cirié bei Turin geboren und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2013 in Rom. Auf Deutsch erschienen der Bruno Schulz-Roman Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß (1999), die Erzählungen Fausto Coppis Engel (Zsolnay 2004) und Der vollkommene Schmerz (Roman, Zsolnay 2006), für den Riccarelli 2004 den Premio Strega erhielt. 2009 erschien Der Zauberer (Roman) und im Frühjahr 2013 Die Residenz des Doktor Rattazzi(Roman).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2006

Das Wunder von Colle Alto
Hundert Jahre Italien: Ugo Riccarellis großer Roman „Der vollkommene Schmerz”
So viel geboren und gestorben, geliebt und gelitten, empfunden und erduldet wie in diesem Roman wurde in der Literatur schon lange nicht mehr. Seit Gabriel Garcia Marquez‘ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit”, dem Epos einer Familie in einem kleinen kolumbianischen Dorf, wurde auch nicht mehr so eindringlich und herzzerreißend erzählt. Wie Marquez schildert auch der italienische Schriftsteller und Journalist Ugo Riccarelli, Jahrgang 1954, hundert Jahre im Leben gleich zweier Familien unter den Einwirkungen der sozialen und politischen Geschichte ihres Landes mit seinen kleinen und großen Umbrüchen, seinen Kämpfen und Kriegen, Katastrophen und Gewalttaten. Schauplatz ist ein ländlicher Flecken im Süden der Toskana von der Zeit der nationalen Einigung bis in die zweite Nachkriegsära des vorigen Jahrhunderts.
Doch da haben die Parallelen beider Romane, die künftig gleichrangig nebeneinander stehen können, schon ein Ende. Denn während Marquez seine Erzählung mit magischem Zauber auflädt, verlässt sich Riccarelli allein auf die zauberhaften Möglichkeiten des Erzählens selbst. Das hat – seit Walter Benjamin wird das Ende des Erzählers verkündet – schon lange kein Romanautor mehr so virtuos gewagt und mit solcher Intensität der Einfühlung, dazu in einem so hinreißenden Stil realisiert, dass dem Leser ganz so ist, als lausche er Liedern, die ihn von fern an etwas erinnern, was auch in seiner eigenen Seele schwingt.
Eine erstaunliche Probe seiner mimetischen Begabung lieferte Riccarelli vor Jahren mit dem kleinen Roman „Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß” (1999) über den 1942 ermordeten jüdisch-polnischen Schriftsteller und Grafiker Bruno Schulz. Im Nachwort des Buches – der Autor hatte es „allen verletzten Menschen zugeeignet” – war die etwas vermessen wirkende Aussage zu lesen: „ . . . während ich die Geschichte niederschrieb, habe ich sie selbst gelebt. Und daher gehört sie mir.”
Der Blitz im Rückenmark
Im neuen Roman ist diese poetische Selbstanweisung zum großen Epos ausgewachsen, dessen Stoff und Form nichts anderes ist als das Erzählen selbst, angetrieben vom Schmerz darüber, dass das Leben der Menschen eine fortwährend unterbrochene und am Ende abgebrochene Erzählung ist. Sie findet dennoch ihre Fortsetzung und beginnt immer wieder neu, vorausgesetzt, sie wird erinnert und weitergetragen. Das ist der Sinn des Titels „Der vollkommene Schmerz”, („Il dolore perfetto”): Den Protagonisten fährt dieser Schmerz als eine absolute Grenzerfahrung stets dann wie ein Blitz ins Rückenmark, wenn ein Leben entweder endet oder auf dem Spiele steht. Und dass dies hier häufig, allzu häufig und zumeist durch äußere Gewalteinwirkung geschieht, dafür sorgen die „große” Geschichte und der allgemeine „Fortschritt”: Mit der Kraft von Lokomotiven und „wie ein Sturm” brechen sie über die kleine Ortschaft und ihre Bewohner herein und fegen darüber hinweg, um im Laufe der Generationen auch das zu beschädigen und zu zermalmen, was die Menschen sich einander zu erzählen haben und was sie sich alles noch zu erzählen wüssten, wenn ihnen dazu nur genügend oder mehr Zeit bliebe. In Riccarellis Roman ist es beinahe, als schlössen sich die Menschen nur deshalb zusammen, weil sie sich so viel zu erzählen haben. Dafür sind sie um so trauriger – und mit ihnen der Leser –, wenn sie voneinander scheiden müssen.
Für ihre kleinen Geschichten und Legenden besaßen die Leute von Colle Alto ein, so heißt es im Roman, „angestammtes Talent, die Dinge des Lebens so zu erzählen, wie es ihnen gefiel – und nicht dem Leben”. Denn das Leben besteht aus lauter Abschieden und Trennungen, allein seine Erzählung kennt kein Ende und will keine Unterbrechung dulden.
Dergestalt und in einem wie mündlichen Stil von schlichter Schönheit, ohne alle Manierismen, auch ohne den rhetorischen Glanz lateinischer Satzperioden, erzählt Ugo Riccarelli seine Geschichte. Sie beginnt auf der Seite der einen Familie mit einer Liebe ohne Ehe, dafür mit Kindern, auf der Seite des größeren Klans mit einer Ehe ohne Liebe, aber mit Kindern, bis es in der nächsten Generation zu einer nur hier, nicht aber dort gerne gesehenen Verbindung zwischen den beiden grundverschiedenen Familien kommt, durch die künftig sogar todbringende Gräben verlaufen werden. Der Tod aber ist schon von Anfang an ein steter Begleiter der Romanhelden, er lauert auf den Schienen der neuen Eisenbahn, genauer noch, er rast darüber und zermalmt, was ihm unter die Räder kommt.
Die Lokomotive ist das Signum der neuen, auf ungehemmtes lineares Fortschreiten getrimmten Zeit, unter ihren Rädern beschleunigt sich die allgemeine Geschichte und beschleunigen sich sämtliche Erzählungen. Das war im Prinzip auch die Haltung der Moderne in der Literatur. War es freilich schon nicht leicht, mit den Lokomotiven Schritt zu halten, so wurde es ihr im Wettrennen mit Flugzeugen, Raketen und neuen elektronischen Medien nur noch schwieriger. Wo die Literatur nicht mehr mithalten kann, setzt sie auf Entschleunigung, allerdings im Wissen darum, dass sie ihrerseits hinter sich selbst und ihre modernen Voraussetzungen nicht zurückgehen kann. Die in Riccarellis Roman konsequent durchgehaltene Zeitform ist daher das Präteritum, wofür die italienische Sprache auch noch die besondere Verbform der „entlegenen Vergangenheit” (passato remoto) kennt, mit welcher der auktoriale Erzähler keinen Zweifel daran lässt, dass alles, was er erzählt, außerhalb der Erinnerung und außerhalb seiner Erzählung uneinholbar ist.
Um die Maschinerie des Erzählens gleichwohl in Gange zu halten und in schier endlosen Spiralbewegungen weiter anzutreiben, lässt er einen seiner Helden eine Maschine erfinden, die solche Bewegungen nach Art eines Perpetuum mobile hervorbringt. Diese Maschine wird ihm zum Symbol der eigenen Erzählung, zum Gegenmodell wider alle linearen und zyklischen Geschichtsauffassungen und Erzählformen. Grausam ist aber auch diese Maschine, weshalb Riccarelli sich zumindest den Vorwurf der Gnadenlosigkeit gefallen lassen muss.
Das eigentliche Wunder dieses Romans besteht diesseits seiner Theorie jedoch darin, dass und wie es dem Autor gelungen ist, sein Konstrukt und seine Figuren, die zumal auch noch Namen von starker Symbolbedeutung tragen, mit wirklichem und berührendem Leben auszustatten. Riccarelli jagt sie nicht blutleer und seelenlos durch eine Geschichte, deren Verlauf nur allzu bekannt ist – soziale und politische Kämpfe, gewaltsame Unterdrückung, koloniale Abenteuer, Weltkriege und Bürgerkriege, Faschismus und grausame Besatzung – und die nicht zum ersten Mal in die Form epischer Gemälde gegossen wurde: Man denke nur an Bernardo Bertoluccis Filmepos „1900” oder an „La storia”, den großen Roman von Elsa Morante.
Eingesponnen in gepaarte Reime
Das offene, in jedem Satz und beinahe jedem Wort zu Tage tretende Geheimnis dieser Erzählung, ihr bestechender Zauber ist eine unerhörte Sprache, die aus weiter Ferne zu kommen scheint und dennoch so nahe liegt und vertraut klingt. Sie ist Musik, in Italien, dem Land des Melodramas, kann man sie hier und da noch hören. Ein Wortkatalog der wichtigsten italienischen Signalwörter dieses Romans würde lauten ( man sollte ihn bei der Lektüre der deutschen Übersetzung, für die Karin Krieger ihr Bestes gegeben hat, zumindest im Ohr behalten): Dolore, dolcezza, serenità, felicità, tristezza, tranquillità, pietà, solitudine, allegria, gentilezza, lentezza, speranza, leggerezza. . .
Nicht zufällig sind die Schlüsselfiguren dieses Romans Frauen, von denen es wie von der Heldin Annina heißt: „Oft hörte sie den Frauen zu, die gemeinsam mit ihr Angelschnüre oder Tauwerk richteten, während sie erzählten, was sich dem Vernehmen nach gerade in der Stadt und anderswo zutrug. . .”. Oder von einer greisen Hebamme, die ein letztes Mal eine schwere Geburt meistert: „Sie hüllte sie (die Gebärende) in jene Geschichten, überredete sie, sich auf dem weichen Lager von Verben auszustrecken, das sie ihr bereitet hatte, und spulte mit einer Engelsgeduld Substantive, Konjunktionen, lange Satzgefüge und gepaarte Reime ab und auf, mit denen sie die Härte der Knoten löste, in denen der kleine Tolpatsch sich verfangen hatte, und während sie ihn noch mit Liebkosungen und Worten massierte, überzeugte sie ihn, aus seinem Versteck herauszugleiten, und redete weiter, bis der kleine Schwächling, nun endgültig geboren, wie besessen zu schreien begann.”
Auch Ugo Riccarelli muss einmal gut zugehört haben, und ein Land und eine Literatur, in der noch eine Sprache wie in diesem Roman gesprochen und geschrieben wird, kann nicht ganz verloren sein. VOLKER BREIDECKER
UGO RICCARELLI: Der vollkommene Schmerz. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Zsolnay Verlag, Wien 2006. 415 Seiten, 23,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2006

Äneas, das Schwein
Ugo Riccarelli erzählt von Glücksrittern der Geschichte

Wenn es stimmt, wie Kant behauptet, daß Anschauungen ohne Begriffe blind sind: Was wird dann aus denen, die außerstande sind, sich einen Begriff zu machen? Vor allem, wenn dieser Begriff die Geschichte betrifft? Der einzelne erfährt sie zwar am eigenen Leib, fällt aber als kontingenter Bodensatz aus ihren Darstellungen heraus. Was bleibt ihm? Ihr Niederschlag in seinen Lebensgeschichten. Sind sie dann aber nicht die ihm gemäßen Begriffe, die seine historische Größe angeben?

Ugo Riccarelli hat ihre besonderen Sichtverhältnisse an dem abgelegenen toskanischen Ort Colle nachgestellt, als er im neunzehnten Jahrhundert die ideologischen Schaumkronen des Fortschritts wie Nationalismus, Militarisierung, Industrialisierung, Positivismus, Sozialismus über die Stadtmauern seiner Tradition hereinbrechen ließ. Gegen diesen Weltgeist waren sie wehrlos. Wie würden die kleinen Leute auf den Angriff der Moderne reagieren? Erwartungsgemäß: Sie leiden. Die Moderne vertreibt sie aus den Gedanken, Worten und Werken, in denen sie bisher zu Hause waren. Das Thema ist nicht neu. Die Leuchtkraft dieser historisierenden Familiensaga liegt vielmehr in der provozierenden Zuspitzung: im "vollkommenen Schmerz", so der Titel, der die Betroffenen wie eine Geschichtskrankheit durch den Text begleitet.

Die Paradoxie hat Methode. Mit Carlo Emilio Gadda, einem der großen Sprachlehrer der italienischen Literatur, behauptet Riccarelli: Leiden schafft Erkenntnis. Er hätte auch Proust nennen können. Es teilt auf schmerzliche Weise mit, wie es anders, besser, "vollkommen" wäre. Denn was zeigt sich in der Geschichte? Nichts, was nicht schon in der menschlichen Natur läge. Davon erzählen die rund dreißig Lebenswege, über mehr als hundert Jahre fortgeführt, entlang von 415 Seiten kunstvoll verwobener Erzählfäden. Lustvoll schüttet Riccarelli auf dieser weiten Fläche die Wundertüten seiner unerschöpflichen Fabulierkunst aus. Wie ein Rhapsode zieht er über dieses Land, um erleben zu lassen, daß in den Gezeiten des Lebens selbst eine eigene, entsagungsvolle Ordnung waltet, die sich, höchst zeitgemäß, den Zumutungen des Denkens entzieht.

Riccarelli führt es, ein wenig prinzipiell, an zwei Familien in Colle vor. Auf der einen Seite die Witwe Bartoli. So, wie ihr Haus sich auf die alten Stadtmauern stützt, ist die Liebe der unerschütterliche Grund und Boden ihres Lebens. Sie findet im Maestro, dem Schulmeister, der aus dem Süden gekommen war, ihr Pendant. Auf der anderen, geradezu der Gegenseite Odysseus, Schweinehändler, ganz auf die Nutzung des Lebens aus. Dementsprechend fällt seine Wahl auf Rosa, naiv und drall; ihre Hüften versprechen gute Geburten. Der Vorteil ist sein Ratgeber. Er macht ihn fortschrittlich. Alles könnte wie immer seinen Gang nehmen in der Windstille der Provinz, hätten die Zeiten sich nicht zu ändern begonnen. Der Bau der Eisenbahn ist ihr verhängnisvolles Wahrzeichen. Sie bringt der Landschaft und den Leuten tiefe Schnittwunden bei. Mit ihr bleibt nichts mehr, wie es einmal war.

Zeichenhaft war der Mann der Witwe Bartoli unter ihre Räder gekommen. Zeichenhaft folgt auch der Maestro der Straße des Elends vom Süden Italiens in den fortschrittlichen Norden. Der Stachel des historischen Bewußtseins hat ihn bereits verletzt. Gegen den zivilisatorischen Fortschritt kämpft er im Namen der fortschrittlichen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Nichts könnte seine Gespaltenheit besser anzeigen als seine vier Kinder. Sie sind Zeugnis der Liebe; ihre Namen aber politisches Bekenntnis. Sie heißen Ideale, Michail (nach Bakunin), Libertà und Cafiero (ein italienischer Anarchist). Die Geschichte belohnt seinen Einsatz für ihre großen Begriffe mit einem tragischen Mißverständnis: Inmitten des Mailänder Aufstands ruft er nach "Libertà". Er meint seine Tochter; ein Milizionär versteht "Revolution" und erschießt ihn. Die Witwe Bartoli hat ihren Halt im Leben verloren. Sie liefert sich dadurch ihrerseits der Geschichte aus: Man findet sie, ein Abbild von deren grausamer Blindheit, von den Rädern der Eisenbahn zerrissen. Ihr Tod stellt zugleich das Horoskop für ihre Kinder. Ist Leben nur ein schmerzliches Mißverständnis zwischen Geburt und Tod? Die Not der Figuren ist der erzwungene Anstoß, um Zuflucht bei Traumbildern, Phantasien, Utopien oder Erinnerungen zu suchen. Das gilt mithin auch für die andere Seite, für Odysseus. Der ging mit dem Fortschritt und nutzt die Zeit; wird, wie seine Brüder, Unternehmer. Zeichenhaft verlassen sie Colle und errichten unten, in der Nähe der Eisenbahn, ein Herren- und Geschäftshaus. Während Odysseus sich in den Schweinehandel vertieft, entfernt sich ihm Rosa, seine Frau, im selben Maße; blüht zu einer Schönheit auf; sitzt tagelang auf dem Balkon des neuen Hauses und schaut in den blauen Himmel, die Augenfarbe ihres Sohnes, als wollte sie in einem ästhetischen Traum des neunzehnten Jahrhunderts aufgehen. Umgekehrt treibt sie ihren Mann dem epischen Schicksal zu, das er im Namen trägt: Ihre Entzweiung macht ihn wahnsinnig, er richtet unter den Schweinen ein Blutbad an und erhängt sich an einem ihrer Därme. Kirke hat Odysseus besiegt.

Wohin es Glücksritter der Geschichte bringen können, erweist zuletzt Äneas, der in "tierischer Leidenschaft" gezeugte Sohn von Odysseus. Er wird auf seine Weise zum Schwein. Als Kollaborateur der deutschen Besatzer erschießt er Cousin, Cousine und deren Freunde in dem Stall, in dem sein Vater seiner heillosen Existenz ein Ende gesetzt hatte. Das Leben, so das einstimmige Votum der Geschichten, kann weder gegen noch mit der Geschichte gelingen. Es ist, als ob es seinerseits dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gehorchen müßte. Der vollkommene Schmerz zeigt den Wärmeverlust des Menschen an, den er zwischen Nutzung und Bewahrung der Zeit erleidet. Er läßt ihm nur eine Wahl: zu lieben, was keinen Bestand hat, und an dem zu sterben, wie es ist.

Im ganzen wird etwas viel Tod aufgeboten, um zu sagen, daß Geschichte keinen Sinn für den einzelnen hat. Doch Riccarelli hat diese Zuspitzung gesucht, um seinem Ausgang aus ihren Verstrickungen Aufmerksamkeit zu sichern. Denn nicht verloren gehen die Träume, Illusionen, Utopien von einem erfüllten Leben; sie leben fort in den Geschichten. Sie wissen, was unterhalb der großen Begriffe wichtig ist. Riccarelli faßt es in einem bezwingenden Vexierbild zusammen. Ein Nachkomme des Maestro versucht, das Räderwerk der Geschichte als ein Perpetuum mobile zu rekonstruieren, das allen eine Funktion zuweist. Es muß mißlingen.

Gelingen aber kann es - als Roman. Er verschafft den Figuren erst eigentlich die feste Bleibe, die sie brauchen, um "das Leben so erzählen" zu können, "wie es ihnen gefällt - und nicht dem Leben": in seinen Höhen und Tiefen, unvorhersehbaren Windungen und Rückschlägen, der Bindung ans Vergangene. Dieser rückwärtigen, begriffswidrigen Wahrheit Anschauung zu verleihen: Damit rechtfertigt Riccarelli die geschichtliche Notwendigkeit des Romans in der Moderne.

WINFRIED WEHLE

Ugo Riccarelli: "Der vollkommene Schmerz". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 415 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ugo Riccarellis Roman "Der vollkommene Schmerz" ist zeitlich nicht leicht einzuordnen, schreibt Maike Albath. Stilistisch scheint es ihr, als sitze die Geschichte, die sich wie auf einem "alten Wandteppich" entfaltet, in einer "ästhetischen Lücke" zwischen den Zeiten. Die Sprache deute mit ihrem gelungen ins Deutsche übertragenen "archaisierend-lyrischen" Tonfall allerdings den Bezug zur Vergangenheit an; die Geschichte spielt kurz nach der italienischen Einigung 1859. Manchmal erscheint Albath der konsequent auktoriale Erzähler künstlich und die Erzählweise "mechanisch", sie lobt aber auch einige starken Szenen und die "gemächlich dahinfließende" Prosa, die durch die ineinander verwobenen Geschichten zweier Familien führt. Die autobiografisch angehauchte Erzählung dokumentiere außerdem noch zwei unterschiedliche Reaktionen auf politische Unterdrückung: Rebellion und Unterordnung. Und auch wenn die Rezensentin sich bei Riccarellis Roman manchmal nach dem "kalten Wind der Moderne" sehnte, muss sie doch zugeben, dass es sich hier um eine spannende Geschichte handelt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Seit Gabriel Garcia Marquez' Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" wurde nicht mehr so eindringlich und herzzerreißend erzählt.(...) Riccarelli verläßt sich allein auf die zauberhaften Möglichkeiten des Erzählens selbst. Das hat schon lange kein Romanautor mehr so virtuos gewagt und mit solcher Intensität der Einfühlung, dazu in einem so hinreißenden Stil realisiert, dass dem Leser ganz so ist, als lausche er Liedern, die ihn fern an etwas erinnern, was auch in seiner eigenen Seele schwingt."
Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung, 31.08.06

"Ein grandioses italienisches Geschichtspanorama (...) Mit romantischer Gelassenheit spricht Riccarelli von den wichtigen Dingen dieses Lebens: der Liebe und dem Tod."
Steffen Richter, Die Welt, 16.09.06

"Lustvoll schüttet Riccarelli auf dieser weiten Fläche die Wundertüten seiner unerschöpflichen Faburlierkunt aus."
Winfried Wehle, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.06

"Es ist unglaublich, was für eine Leselust dieses Buch entfesseln kann. (...) Was soll man mehr bewundern - die Sprachkraft des Autors Ugo Riccarelli, die von entwaffnender Leichtigkeit scheint, oder die Poesie der Übersetzerin Karin Krieger, die einen Ton gleichsam zwischen den Zeiten trifft?
Henning Klüver, Literaturen, 11/06

"Ugo Riccarelli zaubert in seinem Roman 'Der vollkommene Schmerz' mit wunderbar leichter Hand das Panorama von hundert Jahren italienischer Geschichte am Beispiel zweier gegensätzlicher Familien. (...) (Ein) großartige(r) Roman."
Thomas Fitzel, Stuttgarter Zeitung, 10.11.06

"Es gibt derzeit kaum einen Autor, der ein größerer Fabulierkünstler ist, der eine schönere Bildsprache erschaffen kann, als Riccarelli." Academicworld, 05.11.09
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