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'Während jener Pogrome waren etwa 400 Juden ermordet oder in den Tod getrieben worden, 30 000 wurden in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert und schwer misshandelt. Zehntausende verließen daraufhin ihre Heimat, schockiert von dem, was viele Zeitgenossen als den größten Zivili-sationsbruch der Geschichte empfanden. Was sie mitnahmen, war der Schmerz des Abschieds, aber auch die Erinnerung an grauenhafte Szenen: die Überfälle betrunkener Nazi-Horden, die öffentlichen Demütigungen, das Niederbrennen der Synagogen, die unmenschlichen Zustände in den überfüllten Gefängniszellen und…mehr

Produktbeschreibung
'Während jener Pogrome waren etwa 400 Juden ermordet oder in den Tod getrieben worden, 30 000 wurden in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert und schwer misshandelt. Zehntausende verließen daraufhin ihre Heimat, schockiert von dem, was viele Zeitgenossen als den größten Zivili-sationsbruch der Geschichte empfanden. Was sie mitnahmen, war der Schmerz des Abschieds, aber auch die Erinnerung an grauenhafte Szenen: die Überfälle betrunkener Nazi-Horden, die öffentlichen Demütigungen, das Niederbrennen der Synagogen, die unmenschlichen Zustände in den überfüllten Gefängniszellen und KZ-Baracken. Die Reaktionen der Nachbarn und Passanten auf diese Barbarei reichten von Anteilnahme und Hilfeleistung bis zu Hohn, Spott und Übergriffen. Der Initiator des Harvard-Projektes, der Soziologe Edward Hartshorne, stellte die bewegenden Zeugnisse zu einem Buch zusammen, das er wegen des Kriegs-eintritts der USA jedoch nicht mehr veröffentlichen konnte. Er wechselte in den Geheimdienst, die Berichte fielen dem Vergessen anheim. Durch einen Zufall wurde jetzt das Originalmanuskript gefunden. Sorgfältig ediert und kommentiert durch die Herausgeber, mit einem Vorwort von Saul Friedländer versehen, wird es hier erstmals zugänglich gemacht.
Autorenporträt
Uta Gerhardt, geboren 1938 in Thüringen, Soziologin, lehrte unter anderem an den Universitäten Berlin, Konstanz, London und Heidelberg (bis 2003) sowie an der New York University und der Harvard University.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2009

Vorspiel des Infernos
Augenzeugen berichten über die furchtbaren Geschehnisse der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938
Die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hielten sie für den Gipfel der Nazi-Barbarei, dabei sollte es nur ein „mattes Vorspiel” dessen sein, was den Juden in Deutschland und dem besetzten Europa widerfahren sollte, wie der Historiker Saul Friedländer im Vorwort schreibt. Uta Gerhardt und Thomas Karlauf haben Berichte von Augenzeugen herausgebracht, die ihre Erfahrungen bereits im Frühjahr 1940 zu Papier brachten.
21 Frauen und Männer aus Österreich und Deutschland schildern – jeder in seiner eigenen Sprache – was sie während des organisierten Pogroms erlebten: „Am Nachmittag hatte man eine Anzahl alter Leute mit Revolvern in einen kleinen Flusslauf getrieben, wo sie – immer bedroht von Revolvern – zum Gaudium des Mobs stundenlang in dem eiskalten fließenden Wasser stehen mussten”, schrieb der Kinderarzt Siegfried Wolff aus Eisenach, der 1939 nach Holland ausreiste und 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Zwei Kinder aus einem Heim seien totgeschlagen, die Thora-Rollen zertrampelt worden. Der Wiener Rechtsanwalt Siegfried Merecki, dem man zuvor die Ärmel seines Wintermantels zur Hälfte abgeschnitten hatte, notierte über einen SA-Mann: „Er trug mir auf, seine Stiefel zu putzen. Sie waren sehr rein, ich entnahm, dass ich nicht der Erste war, dem diese Ehre zuteil wurde. Ich rieb aus Leibeskräften.”
Auch wenn man schon vieles gehört und gelesen hat: Es ist eine schier unglaubliche Sammlung dessen, was den Nationalsozialisten alles in den Sinn kam, um Juden zu demütigen, zu berauben, zu verletzen, zu verhaften und totzuschlagen. Die Augenzeugen beschreiben in vielschichtiger Weise nicht nur die Akribie der Zerstörungsarbeit, sondern auch das Verhalten der Nachbarn und Freunde, die Zeit in der Haft, in den Konzentrationslagern und die Fluchtvorbereitungen. Ab und zu erhellt sich der dunkle Wahn, und zwar dann, wenn es gelang, dem Nazi-Mob ein Schnippchen zu schlagen: ein Gefangener, der einen Geistesgestörten mimte, um aus der Haft entlassen zu werden; ein Ehepaar, das sich am Bettlaken aus dem rückwärtigen Fenster hangelte, während vorne die Haustür aufgebrochen wurde. „So endete mein Leben in Deutschland, und ich bedaure nicht, dass ich Deutschland verlassen habe”, so schließt der Schuhhändler Harry Kaufman aus Essen seinen Bericht, und ähnlich wie er äußerten sich fast alle am Ende ihrer Texte. Die meisten Autoren waren kurz nach dem Pogrom ausgewandert.
Mehr als ein halbes Jahrhundert lagen die Berichte in einem verstaubten Pappkarton in einer Bibliothek der Harvard-Universität. Aufgestöbert hat ihn die Soziologin Uta Gerhardt, die über den Sozialwissenschaftler Edward Hartshorne forschte. Dieser hatte zu wissenschaftlichen Zwecken ein Preisausschreiben zum Thema „Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933” ausgerufen. Von den rund 250 Manuskripten aus aller Welt hatte er 1941 eine Handvoll ausgewählt, um sie unter dem Titel „Nazi Madness” zu veröffentlichen. Doch dazu kam es nicht. Kurz vor Kriegseintritt der USA begann er für die Regierung zu arbeiten. Der entschiedene Nazi-Gegner kam zur kämpfenden Truppe, erstellte Lageberichte und leitete später Entnazifizierungen an deutschen Hochschulen. 1946 wurde Hartshorne auf der Autobahn bei Nürnberg mit einen Kopfschuss durch das Autofenster ermordet.
Uta Gerhard beleuchtet Hartshornes Schaffen näher, Thomas Karlauf liefert Fakten und Hintergründe rund um die Novemberpogrome. Beide haben die Berichte der Augenzeugen ediert und biographische Anmerkungen zu den Verfassern gemacht, da einige damals aus Angst unter Pseudonym und mit anonymisierten Namens- und Ortsangaben arbeiteten. Das Buch dokumentiert die Novemberpogrome so detailreich, anschaulich und konzentriert wie kaum ein anderes. ANKE SCHWARZER
UTA GERHARDT / THOMAS KARLAUF (Hrsg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938. Propyläen, Berlin 2009. 368 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2009

Bedrückende Atmosphäre
Augenzeugenberichte aus aller Welt über die Novemberpogrome in Deutschland 1938

Welche neuen Erkenntnisse kann ein weiteres Buch 70 Jahre nach den Novemberpogromen liefern? Zuallererst unterscheidet sich die vorliegende Veröffentlichung durch ihre außergewöhnliche Entstehungsgeschichte. Thomas Karlauf hat die Genese sachgerecht rekonstruiert: Im August 1939 - neun Monate nach den Pogromen - berichtete die New York Times unter der Überschrift "Prize for Nazi Stories", Wissenschaftler der Universität Harvard seien auf der Suche nach Augenzeugenberichten über das Leben in Deutschland vor und nach 1933. Zu diesem Zweck hätten sie einen Wettbewerb ausgeschrieben und fünf Preise über insgesamt 1000 Dollar für die besten unveröffentlichten Lebensbeschreibungen ausgelobt. Die in deutscher oder englischer Sprache abgefassten Manuskripte sollten als Materialsammlung dienen für eine Untersuchung "der gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk". Die Texte würden, um die Verfasser vor Repressalien zu schützen, streng vertraulich behandelt, sie müssten aber wahrheitsgetreu sein. Sie sollten etwa 80 Schreibmaschinenseiten umfassen und "möglichst einfach, unmittelbar, vollständig und anschaulich" gehalten sein. Zitate aus Briefen, Notizbüchern und sonstigen persönlichen Schriftstücken könnten den Schilderungen die erwünschte Glaubwürdigkeit geben.

Zum Einsendeschluss am 1. April 1940 gingen über 250 Manuskripte aus aller Welt ein: 155 Texte aus den Vereinigten Staaten, darunter allein 96 aus New York, 31 aus Großbritannien, 20 aus Palästina und 6 aus Schanghai - dem einzigen Territorium, für das jüdische Flüchtlinge keine Einreisevisa benötigten. Die meisten Absender waren Juden, die den deutschen Machtbereich nach den Pogromen verlassen hatten, unter ihnen viele freiberufliche Akademiker, insbesondere Rechtsanwälte und Ärzte, sowie Hochschullehrer, vor allem aus Berlin und Wien. Abschied von Deutschland sowie "Aufarbeitung und Rekapitulation des Erlebten" dominierten bei den Beweggründen der überwiegend männlichen Verfasser. Alle Berichte stimmten in der Auffassung überein, dass die sich im November 1938 austobenden antijüdischen Gewaltakte der Nationalsozialisten mit ihren Orgien der Zerstörung und Erniedrigung den größten Zivilisationsbruch der abendländischen Geschichte darstellten und es für einen deutschen Juden schlicht undenkbar sei, je wieder in diesem Land zu leben. "Nie mehr zurück in dieses Land", notierte die Berliner Ärztin Hertha Nathorff am 16. November 1938, "wenn wir es erst einmal lebend verlassen haben." Diese Tagebucheintragung lieferte den Titel zum vorliegenden Buch. Frau Nathorff, geborene Einstein, emigrierte 1939 in die Vereinigten Staaten und verstarb dort 1993.

Initiatoren des Wettbewerbs waren der Psychologe Gordon Allport, der Historiker Sydney Fay und der Soziologe Edward Hartshorne. Ihnen zur Seite standen weitere Wissenschaftler, die die Glaubwürdigkeit der eingesandten Beiträge prüften und deren Aussagewert beurteilten. Ihr Hauptaugenmerk galt den bedrückenden Erfahrungen jener männlichen und zumeist wohlhabenden Juden, die im November 1938 willkürlich verhaftet und unter menschenverachtenden Umständen in den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen so lange festgehalten worden waren, bis sie sich mit der "Arisierung" ihrer Betriebe und Vermögensanlagen zwangsweise einverstanden erklärten. Mit deren Schilderungen sollte die Verlogenheit der nationalsozialistischen Propaganda nachgewiesen werden, die die judenfeindlichen Ausschreitungen als "Ausbruch des Volkszornes" nach dem Attentat eines polnischen Juden auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November in Paris rechtfertigte.

Personelle und berufliche Veränderungen unter den Initiatoren des Wettbewerbs verhinderten jedoch den Abschluss des Projekts im Zweiten Weltkrieg. Ein halbes Jahrhundert lang blieben die Unterlagen unbeachtet. Die Soziologin Uta Gerhardt entdeckte die überlieferten Originalmanuskripte schließlich Mitte der neunziger Jahre bei ihren Recherchen in Berkeley. Ihr verdankt das Buch ein hilfreiches Nachwort mit editorischen Hinweisen. Beiden Herausgebern gebührt das Verdienst, eindrucksvolle Zeugnisse sachverständig ediert und einfühlsam kommentiert zu haben. Durch ihre Dichte, Vielfalt und Authentizität gewinnen die Berichte einen vergleichsweise hohen Quellenwert. Abgerundet wird die lesenswerte Sammlung durch ein Geleitwort von Saul Friedländer. Sein Fazit lautet: "In diesem Buch findet der Leser über die bloßen Fakten hinaus eine außergewöhnliche Fülle von Details über jüdische Einstellungen, Empfindungen und Reaktionen während dieser schicksalhaften Monate. Er wird auf vielfältige Weise der bedrückenden Atmosphäre begegnen, die sich auf die Welt des mitteleuropäischen Judentums in der vorletzten Phase seiner Existenz legte - wenige Augenblicke vor seinem endgültigen Untergang."

HANS-JÜRGEN DÖSCHER

Uta Gerhardt/Thomas Karlauf (Herausgeber): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938. Propyläen Verlag, Berlin 2009. 363 S., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Über die Novemberpogrome hat Anke Schwarzer vieles gehört und gelesen. Was die von Uta Gerhardt und Thomas Karlauf herausgegebenen 21 Augenzeugenberichte ihr darüber vermitteln, erscheint ihr jedoch neu, anders, unglaublich zu sein. Über den "Einfallsreichtum" und die Akribie des nazistischen Terrors, über das Verhalten der Nachbarn und Freunde, aber auch über gelungene Versuche, dem Nazi-Mob zu entwischen, liest Schwarzer. Zusammen mit den Anmerkungen der Herausgeber zur Geschichte dieser Dokumentensammlung, zu den Verfassern und ihrer Flucht aus Deutschland ergibt der Band für Schwarzer eine so konzentrierte wie anschauliche Dokumentation.

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