Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 74,90 €
  • Gebundenes Buch

Eine grundlegende Untersuchung zur Entstehung der Wissenssoziologie Karl Mannheims.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf sich die moderne Gesellschaft eine Form der Selbstbeschreibung, die bis heute aktuell ist: die Wissenssoziologie. Sie ist ein Produkt der Debatten um die Krise des Historismus, in der die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts an Überzeugungskraft verlor und perspektivisches Wissen zum Signum der Zeit wurde.Reinhard Laubes Untersuchung demonstriert am Werk des ungarisch-deutschen Soziologen Karl Mannheim (1893-1947) exemplarisch, wie ein Klassiker der Soziologie zum…mehr

Produktbeschreibung
Eine grundlegende Untersuchung zur Entstehung der Wissenssoziologie Karl Mannheims.


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf sich die moderne Gesellschaft eine Form der Selbstbeschreibung, die bis heute aktuell ist: die Wissenssoziologie. Sie ist ein Produkt der Debatten um die Krise des Historismus, in der die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts an Überzeugungskraft verlor und perspektivisches Wissen zum Signum der Zeit wurde.Reinhard Laubes Untersuchung demonstriert am Werk des ungarisch-deutschen Soziologen Karl Mannheim (1893-1947) exemplarisch, wie ein Klassiker der Soziologie zum Produzenten einer klassischen Problembeschreibung - nämlich der Wissenssoziologie - wird, indem er konsequent das, was bisher als unproblematisch galt, von neuem zum Problem werden lässt. Diese Beobachtungsstrategie wird erst mit dem Leitbegriff Historismus und dann als Wissenssoziologie gefasst. Laube zeigt den intellektuellen Rahmen dieser Verschiebung, indem er den österreichisch-ungarischen Erfahrungsraum Mannheims und seine Beteiligung an den Gesprächen, Debatten und Schulungen
des legendären Budapester Sonntagskreises um Georg Lukács und Béla Balázs bis 1919 ebenso ausleuchtet wie seine folgende Beteiligung am Intellektuellendiskurs der Weimarer Republik.Ein Anhang mit erstmals übersetzten Texten Mannheims eröffnet darüber hinaus den Zugang zum ungarischen Hintergrund des Begründers der Wissenssoziologie.
Autorenporträt
Dr. Reinhard Laube ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld. Promotion 2002 an der Universität Göttingen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2004

Der Befreiungsschlag
Reinhard Laube über Karl Mannheim und den Historismus
Es gibt Begriffe, gegen die ein Wackelpudding ein Muster an Standfestigkeit ist. Der des „Historismus” gehört zu dieser Gruppe. Seit Generationen versucht man, sich seiner „Entstehung” (Friedrich Meinecke), seiner „Probleme” (Ernst Troeltsch), seiner „Krisis” (Karl Heussi), seiner „Überwindung” (Georg Simmel) oder zumindest seiner „Wurzeln” (Georg Iggers) zu versichern. Doch es ist kein Land in Sicht. Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse ziehen immer wieder tapfere Recken aus, um den Kampf erneut aufzunehmen. Manchmal bringen sie ein neues Zitat mit nach Hause, gelegentlich erhellt sich ein Zusammenhang, weil endlich ein Brief gefunden wurde. Ob dereinst jemand wenigstens die Inschrift über dem Eingangstor zum „Historismus” entziffern wird, gilt als unausgemacht.
Mitten in den zwanziger Jahren zieht der bis dahin nur wenigen bekannte Karl Mannheim souverän Bilanz und fordert damit die Spezialisten heraus: „Der Historismus ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten.” Was zunächst lediglich wie die Bestimmung der eigenen Position klingt, ist tatsächlich die reflektierte Perspektive, mit der Mannheim das „Historismus”-Problem insgesamt in den Blick nimmt und damit einen Ausweg aus den in sich kreisenden Diskussionen aufweist.
Zunächst geht es um die Wiedergewinnung eines möglichst umfassendes Blickes auf das, was ist. Dazu bedarf es in einem ersten Schritt der „Reproblematisierung” objektiv gewonnener Erkenntnisse. Eine solche radikale Skepsis bezieht sodann die „Standortgebundenheit” des Interpreten mit ein.
Das Ergebnis der Operation erwies sich als eine ungeheure Zumutung: dass die Strukturen der Wirklichkeit paradoxal sein könnten, dass „Geist” und „Leben” nichts als letzte metaphysische Residuen seien, die bloße Selbsttäuschungen darstellen, konnte man nicht akzeptieren. Die Provokation bestand nicht zuletzt darin, Konsensangebote der Geistes- und Naturwissenschaften abzubügeln: beide wollten etwas abgeben, was sie zuvor nicht bewiesen hatten. Somit aber war erreicht, worum es Mannheim in seinen Untersuchungen gegangen war, nämlich die produktive Mehrdeutigkeit der Lebenswelt als Maßstab für die Beurteilung des Theorieangebotes heranzuziehen. Und genau das war es, was der „Historismus” und seine heimlichen und offenherzigen Liebhaber samt Verächtern scheuten: das Uneindeutige.
Mannheims 1924 durch die Lektüre von Troeltschs großem „Historismus”-Buch gewonnener Befreiungsschlag blieb weitgehend unbeachtet. Er selbst schien sich mit seinen eigenen Studien zum „Konservatismus” und zu „Ideologie und Utopie” von seiner eigenen Fragestellung entfernt zu haben. Trotz der seit einigen Jahren anlaufenden Mannheim-Renaissance erreichten weder die subtile „Historismus”-Kritik noch die sich daraus entwickelnde Schlussfolgerung die nötige Aufmerksamkeit.
Der Ideengeschichtler Reinhard Laube kennt die Geschichten und Mythen, die sich um den „Historismus” ranken, bestens. Das beweisen nicht nur die umfangreichen Kapitel seiner in jeder Hinsicht gewichtigen Studie, in denen er die zentralen Diskursstationen von Friedrich Nietzsche bis Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler unter die Lupe nimmt. Wirklich befreiend und weiterführend ist Laubes Zugriff in diesem Abschnitt dadurch, dass er die Debatten konsequent als Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Gegenwart der Autoren begreift: der „Historismus” sei von jeher zugleich Krisenphänomen und Auslöser von Krisen gewesen.
Die unweigerliche Folge dieser These aber bedeutet, ihn von einer geistesgeschichtlichen Formation zu einer Chiffre für Wirklichkeit und ihre Beschreibung zu transformieren. Laube zieht daraus in seiner luziden argumentierenden Dissertation zwei Konsequenzen. Zum einen nimmt er die von Mannheim gelegte Spur auf, und wendet sie auf ihren Urheber selbst an. Und er gewinnt dadurch eine analytische Tiefenschärfe auf die Debatte, die aus dem bloß intellektuellen Figurengeschiebe des „Historismus” eine neue „Perspektive” nach dem innersten Zusammenhalt von Theorie und Praxis wirft.
Rückgriff auf den Beginn
Mit der nun vorliegenden Gesamtdarstellung Mannheims wird sich die Lektüre dieses oftmals unterschätzten Gelehrten ändern. Laube greift für sein Unternehmen auf die Anfänge Mannheims in Budapest zurück, entlockt manches den Archiven und entlarvt einen Großteil der Rezeptionsgeschichte als Schwindel. Dabei erweisen sich seine Kenntnisse des Ungarischen als besonders hilfreich: bereits die im Anhang abgedruckten und kommentierten, bisher nicht bekannten oder nicht übersetzten Texte erhellen nicht nur Mannheims intellektuelle Biographie, sondern betonen eindrücklich seine herausragende Stellung.
Der Rückgriff auf den Beginn dient nicht der Suggestion eines stringenten Entwicklungsganges, vielmehr macht er deutlich, wie sehr Mannheim allmählich und mehr findend als suchend die Stücke seines Ansatzes zusammenträgt. In der Interpretation von „Ideologie und Utopie” etwa lässt sich mit Laube genau nachvollziehen, wie die Unterscheidungen von „liberal-demokratisch”, „historisch konservativ”, dem „bürokratischen Konservatismus”, dem „Sozialismus/Kommunismus” und schließlich dem „Faschismus” nochmals ausdifferenziert werden, um zu zeigen, dass jede Metaposition gegenüber diesen sehr wirklichen Konstellationen eine Flucht in die Irrealität darstellt.
Reinhard Laubes an Details und Informationen überschäumende Arbeit ist aber noch in einer anderen Hinsicht bedeutsam. Sie rekonstruiert nicht nur die Fluchtlinien des „Historismus” und gibt der Diskussion das Werk Mannheims wieder zurück, sondern sie ist ein treffliches Plädoyer für die engagierte Ideengeschichte. Laubes Buch hätte Mannheim gefallen.
THOMAS MEYER
REINHARD LAUBE: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Abb., Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2004. 676 S., 92 Euro.
KARL MANNHEIM: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 288 Seiten, 11,50 Euro.
KARL MANNHEIM: Strukturen des Denkens. Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. , 400 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2004

Seelenfünklein der Einheit
Reinhard Laube entflammt Karl Mannheims Wissenssoziologie

Das Wort "Wissenssoziologie" hat inzwischen so verschiedene, oft abgeschwächte und verwischte Bedeutungen angenommen, daß entweder zu viel oder zu wenig sagt, wer berichtet, Karl Mannheim sei mit seinem Buch "Ideologie und Utopie" von 1929 der Begründer der Wissenssoziologie. Karl Mannheim unterschied innerhalb seines einheitlichen Konzepts erstens eine im engeren Sinne soziologisch-empirische Vorgehensweise, zweitens eine historisch-empirische Analyse und stellte drittens seiner Wissenssoziologie eine philosophische Aufgabe. Als empirische Soziologie sollte sie die im politischen Leben wirksamen kollektiv-unbewußten Motive aufhellen und dadurch kontrollierbar machen; als eine neue Form der Wissenschaftsgeschichte sollte sie die Veränderungen der Wissensformen auf ihre gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen hin interpretieren; als philosophische Theorie war sie entworfen zur Korrektur von Erkenntnistheorien, die ein isoliertes Subjekt der Wirklichkeit gegenüberstellen und die Frage des Brückenschlags erörtern. Mannheim brachte sein Projekt auf die einfache Formel, es untersuche "wie Menschen wirklich denken". Er verarbeitete Anregungen von Francis Bacon und Kant, von Karl Marx und Durkheim, von Max Weber und Max Scheler. Er erreichte erstaunliche Konkretheit und Klarheit.

Mannheim, 1893 in Budapest geboren, war von 1930 bis 1933 Professor der Soziologie in Frankfurt; er lehrte dann in London an der School of Economics. Er starb 1947 in London, und sein Werk hat im Nachkriegsdeutschland keine so breite Aufnahme gefunden wie die Schriften von Bloch und Marcuse, von Horkheimer und Adorno, auch von Norbert Elias. Es gab einige Nachdrucke seines Hauptwerks, dennoch bleibt hier etwas nachzuholen, und dazu gibt die Göttinger Dissertation von Reinhard Laube willkommenen Anlaß. Freilich empfiehlt es sich nicht, mit diesem Mammutwerk von fast 700 Seiten den Anfang des Studiums von Karl Mannheim zu machen. Dagegen spricht nicht nur sein Umfang, sondern auch sein üppig in Terminologie ausschweifender Stil und seine Art der Gedankenführung. Man lege die beiden Bücher nebeneinander und lese die jeweils ersten Sätze.

Bei Karl Mannheim lauten sie: "Dieses Buch befaßt sich mit dem Problem, wie Menschen wirklich denken. Es will untersuchen, nicht wie Denken in den Lehrbüchern der Logik erscheint, sondern wie es wirklich im öffentlichen Leben und in der Politik als ein Instrument kollektiven Handelns funktioniert." Das ist klar und glänzend formuliert. Gehen wir nun zu Mannheims jüngstem Interpreten. Bei ihm lautet der Anfang: "Die vorliegende Arbeit rekonstruiert Karl Mannheims wissenssoziologischen Perspektivismus als eine Antwort auf die ,Krise des Historismus' und erschließt diesen Zusammenhang in zwei Teilen. Die ,Krise des Historismus' ist dafür als genitivus obiectivus und subiectivus zu lesen."

Nun wird jedermann zugeben: Im Jahr 2004 kann niemand mehr so schreiben wie 1924. Die Fachsprachen haben sich in den letzten achtzig Jahren ausgedehnt, und eine Dissertation schreibt man zunächst für seinen Professor, von dem angenommen werden kann, daß er so viel Lateinisch versteht. Das Beispiel sollte nur zeigen, warum ich lieber Mannheim lese als Laube. Aber wer sich zuerst bei Mannheim einliest und dann die Arbeit von Laube studiert, wird reich entschädigt. Sie verfolgt den Denkweg Mannheims von seinen ungarischen Anfängen über die Debatten der Weimarer Zeit, besonders in Heidelberg, bis zu Historismusdiskussionen der Gegenwart. Sie verteilt freigiebig, vielleicht ein wenig zu häufig die Namen theoretischer Strömungen, doch hat Laube mit "Perspektivismus" ein charakterisierendes Substantiv gewählt, das Vorurteile fernhält, denn Mannheim hat sich mit Vehemenz gegen den Vorwurf des Relativismus gewehrt.

Die Stärke der umfangreichen Arbeit: Sie publiziert bislang unbekanntes Material, Briefe und Notizen des jungen Karl Mannheim, die hier erstmals aus dem Ungarischen übersetzt vorliegen. Der junge Mannheim setzte sich früh mit Georg Lukács in Verbindung. Das war 1910, und Laube gelingt der zunächst überraschende Nachweis: Der Siebzehnjährige interessierte sich für Meister Eckhart. Er sandte dem Älteren eine Ausarbeitung über Mystik zu; es waren die Jahre des großen Erfolgs der Eckhart-Übersetzung von Hermann Büttner (zuerst 1903), von der Robert Musil und Martin Heidegger, Ernst Bloch und Hugo Ball profitiert haben. Es war vor allem die Predigt über Maria und Martha, in der Meister Eckhart das Lob der Maria, der Figur des kontemplativen Lebens, umkehrt in ein Lob der tätigen Martha, die Schau und Tat verbindet. Wie der Übergang von der Theorie zur Tat zu finden sei - das war auch das Problem des damals noch neoidealistisch denkenden Georg Lukács; er hat es wenige Jahre später, auch unter dem Einfluß Kierkegaards, im Sinne seiner kommunistischen Dezision gelöst. Der junge Mannheim entdeckte in Meister Eckhart den ersten in einer Reihe von "Einheitsverstehern", Eckhart habe eine Einheit gedacht, die immer gesucht und immer nur in Perspektiven gefunden werde.

Damit war ein Thema angeschlagen, das Mannheim weiterentwickeln wird. Aber auf diese Weiterentwicklung kommt es an, wie Laube schön demonstriert, denn aus ihr entstand die Wissenssoziologie. Laube verfolgt die Arbeit Mannheims unter der bei Meister Eckhart entdeckten "Problemtrias von Perspektivität, Wirklichkeit und Einheit der Differenz"; er beschreibt mit reicher Dokumentation Mannheims "Transformation der Perspektivität". Er zeigt, wie für Mannheim das Problem des Relativismus zur Lebensfrage geworden ist, und zwar in Auseinandersetzung mit Troeltschs "Der Historismus und seine Probleme" (1922) und Schelers "Probleme einer Soziologie des Wissens" (1925). Mannheim mißtraute der zum Schlagwort gewordenen "Überwindung des Historismus"; seine Wissenssoziologie machte das Problem des Relativismus zur "Achse" der Theorie. Der Geschichtsprozeß selbst gebe uns das Problem des Historismus auf; um ihm nicht blind zu erliegen, dürfe das menschliche Denken nicht länger als ein primär individueller Vorgang und losgelöst von Handlungszusammenhängen vorgestellt werden.

Diese Analyse findet sich im zweiten, im Hauptteil der Arbeit, der allein schon durch die Nachweise der Budapester Debatten und der Bedeutung der Eckhart-Gespräche einen wichtigen Forschungsbeitrag darstellt. Ihm ist ein längeres Kapitel über das Problem des Historismus vorangestellt. Dieser Einleitungsteil brilliert durch ungewöhnliche Belesenheit und durch ebenso ungewöhnliches Desinteresse an Chronologie; er steht in einem nur lockeren Bezug zu Karl Mannheim. Er referiert das unendliche Hin und Her zwischen Wahrheit und Geschichte, zwischen Dilthey, Meinecke, Wehler und Blumenberg - meinem Eindruck nach mit leichter Unterschätzung Diltheys.

Das Problem des Historismus kann Laube natürlich nicht lösen; diese zweihundert gelehrten Seiten sind überaus informativ, haben aber den Charakter eines weit angelegten Literaturüberblicks, von dem man sich fragt, ob er in einer Dissertation über Mannheim unentbehrlich ist. Von außerordentlichem Interesse hingegen ist der dritte Teil: Laube ediert und kommentiert hier Texte von Karl Mannheim, zwischen 1910 (etwa) und 1933 geschrieben, in deutscher Übersetzung. Hier sind Entdeckungen zu machen: Karl Mannheim als philosophischer Kopf und als eleganter Schriftsteller. Nehmen wir seine Meditation über die Zeit. Mannheim definiert die Zeit: Sie ist das, was man dem anderen nicht stehlen, sondern nur rauben kann.

"Ich hatte irgendwann einmal eine Minute, halb in meinem Kindes-, halb in meinem Mannesalter . . . Damals hörte ich die Zeit wachsen, ich spürte den Punkt, in dem die Zeitlosigkeit sich mit der Zeit trifft. Seitdem gibt es für mich zwei Arten von Zeiten, die eine, in der das Leben sich breit macht, die Arbeit, die Sehnsucht, die Tätigkeit und der Gedanke - ein äußerer Faden, an dem entlang du dich leicht zurechtfindest. Die andere Zeit (du kannst es auch Zeitlosigkeit nennen) ist das leise Strecken deiner nackten Seele, ein zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpfter Funke, der immer tiefer in seiner eigenen Flut versinkt . . ."

Reinhard Laube kommentiert diese Zeilen aufs gelehrteste. Er heftet an das Wort "Funke" eine kleine Abhandlung über den Seelenfunken in der deutschen Mystik. Ich bin mir nicht so sicher; Laube argumentiert assoziativ; mit Metaphern läßt sich vieles beweisen. Mannheims Grundgedanke ist doch der von zwei Arten der Zeit. Und der steht bei Bergson. Reinhard Laube teilt uns mit, Karl Mannheim gebe in seinem Lebenslauf von 1925 Bergson als einen seiner Lehrer während des Studiums in Paris an. Nur findet sich dieser Hinweis Laubes genau 370 Seiten vor dem schönen Text von Karl Mannheim. So etwas passiert schon mal in einem stoffüberfrachteten Buch.

Dessen Verdienste sind gleichwohl beträchtlich. Es führt zurück zu Mannheim, einem Denker, dem von vielen - darunter auch Eduard Spranger - "Soziologismus" und "Psychologismus" vorgeworfen worden ist und den doch, wie Laube zeigt, die ständig wiederholten Kampfwörter wie "Reduktion" und "Relativismus" nicht treffen. Karl Mannheim war ein unermüdlicher Freund der Vernunft, auch wenn er das Unglück hatte, sie nicht überall anzutreffen - nicht in berühmten Büchern über den Historismus und noch weniger in der Geschichte.

KURT FLASCH

Reinhard Laube: "Karl Mannheim und die Krise des Historismus". Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 196. Vandenhoek & Ruprecht Verlag, Göttingen 2004. 676 S., geb., 92,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Viel Kluges hat Kurt Flasch in diesem Buch über Karl Mannheims Wissenssoziologie gefunden, auch wenn er es niemanden zur Einführung in dieses Thema empfehlen würde. Es ist halt eine Dissertation, seufzt Flasch. Solch klare, prägnante Sätze wie bei Mannheim selbst seien hier schwerlich zu finden. Aber wenn man sich erst einmal eingearbeitet hat, versichert der Rezensent, werde man von Reinhard Laubes Arbeit reich entschädigt. Denn Laube zeichnet darin Mannheims Denken von seinen ungarischen Anfängen bis zu den Historismusdiskussionen der Gegenwart "aufs Gelehrteste" nach. Positiv rechnet Flasch dem Autor auch an, viel bisher unbekanntes Material zu verwenden und das Historismusproblem überaus informativ zu behandeln. Am interessantesten erscheint ihm schließlich der dritte Teil des Buches, in dem Laube Texte von Mannheim ediert und kommentiert: "Hier sind Entdeckungen zu machen", freut sich Flasch: "Karl Mannheim als philosophischer Kopf und eleganter Schriftsteller."

© Perlentaucher Medien GmbH