Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 28,50 €
  • Gebundenes Buch

Wie steht es um die Bürgerrechte jener, die körperlich oder geistig behindert sind? Wie lassen sich gerechte und menschenwürdige Bedingungen über nationale Grenzen hinweg durchsetzen? Und: Auf welche Weise können wir unseren Umgang mit Tieren in unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? Diese vom theoretischen Mainstream bislang sträflich vernachlässigten, aber in praktische Hinsicht außerordentlich relevanten Fragen stehen im Zentrum der großangelegten Theorie der Gerechtigkeit, wie sie die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum in "Grenzen der Gerechtigkeit"…mehr

Produktbeschreibung
Wie steht es um die Bürgerrechte jener, die körperlich oder geistig behindert sind? Wie lassen sich gerechte und menschenwürdige Bedingungen über nationale Grenzen hinweg durchsetzen? Und: Auf welche Weise können wir unseren Umgang mit Tieren in unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? Diese vom theoretischen Mainstream bislang sträflich vernachlässigten, aber in praktische Hinsicht außerordentlich relevanten Fragen stehen im Zentrum der großangelegten Theorie der Gerechtigkeit, wie sie die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum in "Grenzen der Gerechtigkeit" entwickelt. Nussbaum weist nach, daß insbesondere die einflußreiche Idee des Gesellschaftsvertrags in der von John Rawls ausgearbeiteten Fassung sich in bezug auf diese Problemlagen als unzulänglich erweist, da sie auf einem Vertrag unter Gleichen beruht und somit Gerechtigkeitsfragen unter Ungleichen nicht angemessen behandeln kann. In sowohl kritischer als auch konstruktiver Absicht lotet Nussbaumdie Grenzen klassischer Gerechtigkeitstheorien aus, unterzieht politische Prinzipien einer gründlichen Revision und läßt eingefahrene Konzepte der sozialen Kooperation, der Würde und der transnationalen Gerechtigkeit in neuem Licht glänzen. Mittels ihres berühmten Fähigkeitenansatzes entwirft sie eine veritable Utopie globaler Gerechtigkeit, die aber stets Maß nimmt an denjenigen, für die sie gelten soll.
Autorenporträt
Nussbaum, Martha C.§
Martha C. Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Sie ist Mitglied der American Philosophical Association und der American Academy of Arts and Sciences. Für ihr Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. 2009 erhielt sie mit dem vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) verliehenen A.SK Social Science Award einen der weltweit höchstdotieren Preise für Sozialwissenschaften.
Celikates, Robin§
Robin Celikates ist Professor für Politische Theorie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2010

Gelingen kann das Leben nur gemeinsam

Arbeit an den Lücken einer Vertragstheorie der Gerechtigkeit: Martha C. Nussbaum lenkt den Blick auf Bedürfnisse, die uns aneinander binden.

Auch die beste Theorie hat ihre Grenzen. Die Theorie sozialer Gerechtigkeit unter Gleichen, die John Rawls in der klassischen Tradition des Gesellschaftsvertrages entwickelt hat, ist die einflussreichste Gerechtigkeitstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts. Und die überzeugendste. Doch trotz aller Präzision bleiben bei Rawls drängende Fragen offen. Oder genauer: Gerade wegen ihres hohen Abstraktionsgrades, wegen der Tendenz, komplexe Realitäten theoretisch zu vereinfachen und politische Prinzipien mittels verfahrensgerechter Strukturen zu ermitteln - darum bleiben in der Konzeption des 2002 verstorbenen Philosophen einige große Probleme ungelöst.

Weil Menschen mit schweren Behinderungen in den Strukturen gegenwärtiger Vertragstheorien von der Festlegung grundlegender politischer Prinzipien ausgeschlossen sind, bleibt ihr Bürgerstatus prekär, ihr Anspruch auf umfassende Gleichbehandlung gefährdet. In Erklärungsnöte gerät der klassische Kontraktualismus auch, wenn es um Fragen globaler Gerechtigkeit geht, um Freiheit und Gleichheit in einer Welt transnationaler Verflechtungen, die die Grenzen des Nationalstaats überschreiten. Und schließlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, nach dem Umgang mit den Interessen nichtmenschlicher Spezies.

Diese drei Gerechtigkeitsprobleme greift Martha Nussbaum in ihrem Buch über die "Grenzen der Gerechtigkeit" auf, das in diesen Tagen in einer hervorragenden deutschen Übersetzung erscheint. Anders als der Ökonom und Sozialtheoretiker Amartya Sen, dessen gleichfalls von Rawls inspiriertes Buch "The Idea of Justice" (F.A.Z. vom 29. Oktober 2009) ebenfalls zur Frankfurter Buchmesse auf hiesige Ladentische kommt, lässt Martha Nussbaum den liberalen Kontraktualismus aber nicht einfach hinter sich und entwirft Skizzen eines wertgesättigten materialen Gerechtigkeitsbegriffs. Geduldig und präzise lotet die an der University of Chicago Law School lehrende Philosophin die Grenzen der von John Rawls schrittweise erarbeiteten Gerechtigkeitstheorie aus und hinterfragt Konzeptionen, die Rawls selbst wesentlich fortentwickelt hat - etwa in seinem späten Werk "Das Recht der Völker". All das in einer konzisen Gedankenführung und sprachlichen Klarheit, die dieses umfangreiche Buch zu einem philosophischen Lesevergnügen machen.

Martha Nussbaum zeigt, dass es bei Rawls zu theorieimmanenten Spannungen kommt, die sich aus der Verbindung der Lehre des Gesellschaftsvertrags mit einer kantianischen Konzeption der Person und der Gegenseitigkeit der Kooperationsverhältnisse ergeben, die die Vertragsparteien eingehen. Bei Rawls sind die Individuen, die im hypothetischen Urzustand hinter einem "Schleier des Nichtwissens" normative Grundstrukturen ihres Zusammenlebens festlegen, stets selbstbestimmte, vernünftige Bürger, "freie und gleiche und lebenslang uneingeschränkt kooperationsfähige Gesellschaftsmitglieder". Bewusst blende Rawls dabei die menschliche Erfahrung schwerer körperlicher oder geistiger Bedürftigkeit, zeitweiliger oder dauerhafter Abhängigkeit aus. Die Inklusion von Bürgerinnen und Bürgern mit atypischen Beeinträchtigungen verschiebe er auf die Ebene späterer Gesetzgebung.

Für Nussbaum ist das nicht akzeptabel: "Nur dann, wenn die Parteien im Urzustand nicht wissen, welche körperlichen Beeinträchtigungen sie haben oder nicht haben könnten, werden sie Prinzipien festlegen, die Menschen mit solchen Beeinträchtigungen gegenüber wirklich fair sind." Auf der Theorieebene verkompliziert das die Dinge erheblich: Hinter dem "Schleier des Nichtwissens" können sich die Parteien nicht mehr einfach am Schlechtestgestellten orientieren, denn Besser- und Schlechterstellung in der Gesellschaft lassen sich nicht mehr anhand von Grundgütern wie Einkommen und Vermögen ermitteln. Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kann bei gleichem Einkommen und Vermögen deutlich schlechter gestellt sein als eine Person, die sich "normal" fortbewegen kann und keine Hilfen zum Ausgleich ihrer eingeschränkten Mobilität benötigt.

Darum empfiehlt Nussbaum den "Fähigkeitenansatz" (capability approach), der von ihr im Feld der Philosophie, von Amartya Sen im Bereich der Ökonomie entwickelt wurde. Anders als Sen schlägt Nussbaum einen klar umrissenen, wenngleich erweiterbaren Katalog von Fähigkeiten vor. Ihr geht es nicht um eine vergleichende Messung der Lebensqualität, sondern um "die philosophischen Grundlagen einer Theorie grundlegender menschlicher Ansprüche, die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes absolutes Minimum geachtet und umgesetzt werden sollten". Diese Ansprüche sind nicht gegeneinander aufrechenbar, jeder Fähigkeit ist ein Schwellenwert zugemessen. Nussbaums Liste umfasst unter anderem "die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben" und "die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören". Von zentraler Bedeutung ist "die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben".

Im Mittelpunkt der Überlegungen steht immer wieder die Menschenwürde. Sie ist der Prüfstein für die Angemessenheit dessen, was dem einzelnen zur Verwirklichung seiner Fähigkeiten zukommt. Ein Leben, das der Würde des Menschen entspricht - darin sind für die Aristotelikerin Nussbaum "Bedürfnis und Fähigkeit, Vernunft und Animalität eng miteinander verwoben". Die menschliche Würde ist "die Würde eines bedürftigen und verkörperten Wesens", eines auf Gesellschaft und soziale Beziehungen hin angelegten Wesens, von dessen Fähigkeiten die Forderung ausgeht, "dass sie entwickelt werden sollten, dass das Leben ein gedeihendes und kein verkümmertes Leben sein soll".

Gelingendes Leben umfasst für Nussbaum den gleichen Zugang zu Bildung und Information, zustimmend weist sie darauf hin, dass die Verfassungsgerichte Indiens und Südafrikas aus der Menschenwürde solche Ansprüche ableiten. Es umfasst auch die Einbeziehung, die Befähigung von Menschen mit Behinderungen. Hinter Nussbaums "Fähigkeitenansatz" steht eine Konzeption der Kooperation, "die davon ausgeht, dass die Bindungen zwischen den Menschen sich ebenso dem Altruismus wie dem gegenseitigen Vorteil verdanken".

Sich für das Wohl anderer einzusetzen sei also nicht mehr nur eine Sache individueller Konzeptionen des Guten, wie bei Rawls, sondern vielmehr Teil einer gemeinsamen öffentlichen Konzeption der Person - einer Person, die nicht nur zu ihrem eigenen Vorteil eine Übereinkunft mit anderen trifft, sondern weil sie sich nicht vorstellen kann, ein gutes Leben zu führen, ohne ihre Zwecke und ihr Leben mit anderen zu teilen. Einer Person, die ein Wesen mit Bedürfnissen ist und die vom Säuglingsalter bis zum Lebensende vielfältige Formen der Angewiesenheit erlebt, dauerhaft oder vorübergehend, als leichte Einschränkung oder schwere Behinderung.

Bedürfnisse haben aber auch die, die für andere sorgen - darum ist es für Nussbaum eine politische Aufgabe, "durch gute öffentliche Strukturen und eine anständige öffentliche Kultur" jene Menschen zu unterstützen, die auf sie angewiesene ältere oder behinderte Menschen versorgen. Für pflegende Familienmitglieder - zumeist Frauen - müsse es eine echte Entscheidung sein, einen auf Fürsorge angewiesenen Menschen zu pflegen, nicht eine aufgezwungene Belastung, die der Gleichgültigkeit der Gesellschaft geschuldet ist.

Die vielfältigen praktischen Schwierigkeiten ihrer Forderung verkennt Martha Nussbaum an dieser Stelle nicht, und auch bei den anderen Problemfeldern ihres Buches unterschätzt sie kaum die Komplexität der Realitäten jenseits der Theorie. Aber gegen Resignation angesichts immenser Herausforderungen hilft eben nur ein Denken, das Grenzen überschreitet.

ALEXANDRA KEMMERER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2010

Weil Menschen ein Obdach brauchen, haben sie ein Recht auf Behausungen
Grundfragen globaler Gerechtigkeit: Die amerikanische Philosophin Martha C.Nussbaum wagt eine Wiederbelebung des Naturrechts
Für hartgesottene Realisten sind Überlegungen, die sich in systematischer Form mit Grundfragen globaler Gerechtigkeit befassen, müßige Utopien. Ihnen wird Martha Nussbaums Entwurf einer neoaristotelischen Gerechtigkeitstheorie nur ein müdes, herablassendes Lächeln abtrotzen: Noch ein Glasperlenspiel, dem es nicht um die wirkliche, sondern eine mögliche, namentlich gerechtere Welt geht. Das Buch der an der Universität von Chicago lehrenden Sozialphilosophin aber wendet sich nicht an Zyniker, sondern an Zeitgenossen, die besorgt um die Zustände in westlichen Wohlfahrtsstaaten und die eklatanten Verteilungsungerechtigkeiten im Weltmaßstab sind. Nussbaum gibt ihnen Gelegenheit, sich über die Stimmigkeit ihrer moralischen Intuitionen Rechenschaft abzulegen und zu überprüfen, wie es um das Verhältnis von Moral und Politik bestellt ist.
Wer darüber nachdenkt, wie eine gerechte Gesellschaft beschaffen sein sollte, muss zunächst klären, was eigentlich unter Gesellschaft zu verstehen ist. In der liberalen Tradition, an die Nussbaum anknüpft, werden Gesellschaften als Kooperationssysteme beschrieben. Danach ist jede Gesellschaft ein soziales Gebilde, in dem verschiedene Akteure zeit ihres Lebens und über die Grenzen der Generationen hinweg zusammenarbeiten. Mitglied einer Gesellschaft zu sein, heißt, sich am System der sozialen Kooperation aktiv zu beteiligen.
Charakteristisch für die liberale Idee von Gesellschaft ist die zusätzliche Annahme, dass die Einzelnen in ihre Teilnahme an der gesellschaftlichen Zusammenarbeit einwilligen können. Irritierend ist dieser Gedanke, weil ihm die Erfahrung widerspricht. Faktisch werden die Menschen ohne Einwilligungsakte in Gesellschaften hineingeboren. Würde man es bei der Anerkennung dieses Sachverhalts belassen, könnten Gesellschaften allerdings nicht als Kooperationsverbände von Personen verstanden werden, die in ihrem gemeinschaftlichen Handeln Träger von Rechten sind.
Um diese unerwünschte Konsequenz zu vermeiden, hat der Liberalismus das Konzept eines Gesellschaftsvertrages ausgearbeitet: Wir nehmen an, dass sich die zukünftigen Gesellschaftsmitglieder als rationale Personen und aus Gründen des wechselseitigen Vorteils vertraglich über die Modalitäten ihrer Vergesellschaftung einigen. Kraft der Vertragsschließung verlassen sie einen als vorpolitisch gedachten Naturzustand in der Absicht, sich im Medium des Rechts selbst zu regieren. Zwar schränkt der Kontrakt die individuellen Handlungsspielräume der Akteure ein, ermöglicht aufgrund der Einschränkungen jedoch die friedliche Zusammenarbeit zum Nutzen der Gesellschaftsmitglieder. Die normative Grundfrage, die sich dann stellt, lautet: Wie sind angesichts stets knapper Ressourcen faire Bedingungen für die Kooperation der Bürgerinnen und Bürger beschaffen?
Auch wenn Nussbaum unterstreicht, dass ihre Gerechtigkeitstheorie diejenige von John Rawls fortschreibt, der Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Gerechtigkeit in diesem Sinne als Fairness gefasst hatte, widerspricht ihre Argumentation dem wichtigsten Lehrstück des liberalen Kontraktualismus. Einen Großteil ihrer argumentativen Energie verwendet sie nämlich darauf, die für die Idee des Gesellschaftsvertrages grundlegende Unterscheidung zwischen einer vorpolitischen Natur und einer durch die vollständige Positivierung des Rechts definierten Sphäre des Sozialen in Frage zu stellen.
Nussbaum meint, dass Rechte keine künstlichen Setzungen sind, sondern am besten verstanden und begründet werden, wenn man sie als Gewährleistungen elementarer Ansprüche interpretiert, die sich aus natürlichen Grundbedürfnissen der Spezies ergeben. Weil Menschen ein Obdach brauchen, haben sie ein Recht auf Behausungen. Was die für menschliche Lebensformen speziestypischen Bedürfnisse und Fähigkeiten sind, muss also rechtlich garantiert werden, soll die Würde des Menschen unangetastet bleiben.
So verdankt sich der Elan ihrer Arbeit dem in der zeitgenössischen politischen Philosophie unorthodoxen Versuch, das Naturrecht wiederzubeleben. Umstritten ist ein solcher Ansatz, weil die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie der Neuzeit gezeigt hat, dass „die Natur“ eine Konstruktion der sie analysierenden Fachdisziplinen ist. Dadurch hat die Berufung auf vermeintliche Naturgegebenheiten ihre normative Autorität eingebüßt.
Eine Vorliebe für naturrechtliche Positionen hat aus diesem Grund vor allem bei konservativen Kritikern der Moderne überlebt, etwa im Milieu der nordamerikanischen Neokonservativen oder bei Sozialethikern, die dem Vatikan nahestehen. Mit deren im Zweifelsfall antiliberalen Überzeugungen hat eine Feministin wie Martha Nussbaum freilich nichts gemein. Vielmehr propagiert sie die liberale Zielvorstellung einer säkularen, pluralistischen und multilateralen Weltgesellschaft, möchte allerdings darlegen, dass eine solche Gesellschaft erst dann als gerecht beurteilt werden darf, wenn für alle Menschen elementare und „gerechtigkeitsbasierte“ Ansprüche rechtlich gesichert sind, die aus ihrer Natur hervorgehen. Ein „achtbares“ Leben werden sie Nussbaum zufolge erst führen, sobald nationale und transnationale Rechtsvereinbarungen und institutionelle Arrangements gewährleisten, dass die für menschliche Lebensformen speziestypischen Fähigkeiten ausgeübt werden können.
Da zu diesen speziestypischen Fähigkeiten nach Nussbaums sogenanntem Fähigkeitenansatz auch der gesellschaftliche Verkehr mit anderen Artgenossen zählt – „die Geselligkeit“, wie es seit dem 18. Jahrhundert heißt –, sind menschliche Lebensformen immer schon vergesellschaftet. Der Mensch ist, was Nussbaum mit Aristoteles und gegen das liberale Lehrstück vom Gesellschaftsvertrag nachdrücklich unterstreicht, ein geselliges und mit praktischer Vernunft ausgestattetes Lebewesen, das „von Natur aus auf das Zusammenleben angelegt ist“. Er ist von Natur aus politisch. Schon dieser anthropologische Befund gibt zu verstehen, worauf Nussbaums Neoaristotelismus hinaus will. Sie möchte das politische Denken der Gegenwart von dem falschen Bild befreien, in das es sich mit der Idee verfangen hat, rationale, selbständige und gleiche Subjekte würden einen die Natur überwindenden Vertrag schließen. Wohlgemerkt nimmt Nussbaum keinen Anstoß an dem Projekt der politischen Moderne, wonach gesellschaftlich auszuhandeln ist, wie eine am Ideal der Gerechtigkeit orientierte Gestaltung sozialer Strukturen auszusehen hätte.
Dazu bringt sie in ihrer voluminösen Studie eine Vielzahl von Anregungen und Vorschlägen zu Papier, die es wert sind, ernst genommen zu werden. Ihr grundsätzlicher Vorbehalt betrifft die allzu rationalistische Konzeption der Personen, die der liberale Kontraktualismus als vertragsfähig zulässt. Zumal in der Version, die John Rawls mit seiner Begründung eines sozialliberalen Wohlfahrtsstaates vorgelegt hat, ist durchgängig unterstellt, dass es sich bei den Bürgern um „lebenslang uneingeschränkt kooperative Gesellschaftsmitglieder“ handelt. Deshalb würde es – wie Nussbaum einschärft, als habe sie Thilo Sarrazin vor Augen – der Logik des so legitimierten Liberalismus zuwiderlaufen, Menschen einzubeziehen, „die ungewöhnlich hohe Kosten verursachen oder mit größter Wahrscheinlichkeit viel weniger als die meisten anderen zum Wohle der Gruppe beitragen“. Ausgeschlossen vom Gesellschaftsvertrag sind mithin Menschen, denen – aufgrund welcher Defizite auch immer – die Grundvoraussetzungen zur Vertragsfähigkeit abgehen. In der scharfen Beleuchtung, die Nussbaum auf den Liberalismus richtet, wird sichtbar, dass er die Achtung von Personen letztlich an deren Produktivität koppelt. Offenbar wird der liberale Kontraktualismus den Utilitarismus nicht los. Wer zur Mehrung des Gesamtnutzens nichts beiträgt, ist keine Bürgerin und kein Bürger im strengen Sinne. Genau diese Ansicht hält Nussbaum für inakzeptabel.
Dass sich eine gerechte Gesellschaft um körperlich und geistig Behinderte kümmern muss, hatte auch Rawls nie in Zweifel gezogen. Doch folgt, wie Nussbaum überzeugend ausführt, aus einem Verständnis von Gerechtigkeit als der Fairness von Kooperationsverhältnissen, dass deren Ansprüche nicht als gerechtigkeitsbasiert wahrgenommen werden können. Lebewesen zu inkludieren, die aufgrund ihrer physischen und mentalen Konstitution nicht vertragsfähig sind, ist für eine gerechte Gesellschaft, wie Rawls sie definiert, eine Sache der Wohltätigkeit, des Mitgefühls, der Philanthropie, aber keine in eigenen Rechten fundierte Pflicht. Dieselbe Sichtweise muss konsequentermaßen allen nicht-menschlichen Tieren die Vertragsfähigkeit absprechen.
Nussbaum thematisiert noch eine letzte Grenze des liberalen Gerechtigkeitsideals. Die ursprüngliche Konzeption der gerechten Gesellschaft hatte sich ganz auf den nationalen Container beschränkt. Zwar korrigierte Rawls in späten Arbeiten die Verengung seiner Gerechtigkeitstheorie auf den Nationalstaat. Doch führt das Modell eines Gesellschaftsvertrags zweiter Stufe, in dem einzelne Nationalstaaten wieder als vermeintlich souveräne Vertragspartner den kriegerischen Naturzustand untereinander überwinden, zu einer mehr als fragwürdigen Auffassung von Völkerrecht. Sie blendet die ökonomischen Abhängigkeiten und Machtasymmetrien nicht nur zwischen Staaten, sondern auch zwischen transnational operierenden Unternehmen und ihren jeweiligen einzelstaatlichen Umwelten weitgehend aus.
Die Grenzen des Liberalismus, die Nussbaum nachzeichnet und die sie nach dem Wortlaut des englischen Originaltitels in Wahrheit als „Fronten“ identifiziert, also als Kampflinien einer zukünftigen Gerechtigkeitspolitik, sind unbestreitbar. Unstrittig ist auch, dass liberale Politik ein ausgesprochen schmallippiges Verständnis der im nationalen wie im internationalen Rahmen konsensfähigen Gerechtigkeit favorisiert. Daraus haben Rawls und seine Anhänger im Übrigen nie ein Hehl gemacht, ihren entschiedenen Minimalismus vielmehr für einen Vorzug gehalten, für ein Zeichen des Realismus ihrer politischen Utopie. Ob Nussbaums Maximalismus demgegenüber Chancen hat, ob eine politische Anthropologie, welche die menschlichen Tiere als soziale Lebewesen begreift, deren moralische Gefühle das gute Leben der anderen zum Bestandteil des eigenen Strebens nach dem Guten machen, tatsächlich an politisierbare Tendenzen in der Weltgesellschaft anschließt, darüber wird nicht die akademische Debatte, sondern das politische Tagesgeschäft entscheiden. Eines dürfte gewiss sein, selbst die politische Moral hat Etatgrenzen und Sorge bleibt kostenintensiv.
MARTIN BAUER
MARTHA C. NUSSBAUM: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva Engels. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 599 Seiten, 36,90 Euro.
Der Mensch ist ein geselliges
Wesen, er ist von Natur aus
politisch.
Die Grenzen des Liberalismus
sind Kampflinien einer zukünftigen
Gerechtigkeitspolitik
Martha Nussbaum
Foto: akg-images / Doris Poklekowski
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

So einleuchtend Martin Bauer Martha Nussbaums Gerechtigkeitstheorie, ihr Abwägen des Verhältnisses von Moral und Politik auch erscheint, so nüchtern betrachtet er ihre Chancen angesichts von Etatgrenzen. Den Gedankengängen der Sozialphilosophin, von der liberalen Definition von Gesellschaft als Kooperationssystem über die Infragestellung grundsätzlicher Bedingungen des liberalen Kontraktualismus bis hin zu ihrer Kritik an dessen Verkoppelung der Achtung von Personen und deren Produktivität, folgt er dennoch gerne. Nussbaums Anregungen und Vorschläge bedenkend, erkennt er die von der Autorin aufgezeigten Grenzen des Liberalismus als unbestreitbar an. Dies trotz seiner Skepsis angesichts der hier entworfenen "politischen Anthropologie".

© Perlentaucher Medien GmbH
»... und schliesslich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, nach dem Umgang mit den Interessen nichtmenschlicher Spezies. Diese drei Gerechtigkeitsprobleme greift Matha Nussbaum in ihrem Buch über die Grenzen der Gerechtigkeit auf, das in diesen Tagen in einer hervorragenden deutschen Übersetzung erscheint.«
Alexandra Kemmerer, Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.10.2010