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Einen "modernen Partisanen" der unendlich vielen Geschichten im Plural gegen die eine Geschichte im Singular - so hat Jacob Taubes den großen Historiker Reinhart Koselleck (1923-2006) einmal charakterisiert und damit sehr genau den kritischen Impuls erfaßt, mit dem Kosellecks vielgerühmte Arbeiten zur Historik sich von den Prätentionen und tendenziell totalitären Konsequenzen substantialistischer Geschichtsphilosophie abstoßen. Dagegen setzt Koselleck die irreduzible Vielfalt und perspektivische Gebrochenheit jener Geschehenseinheiten, auf die wir mit dem Begriff der Geschichte Bezug nehmen…mehr

Produktbeschreibung
Einen "modernen Partisanen" der unendlich vielen Geschichten im Plural gegen die eine Geschichte im Singular - so hat Jacob Taubes den großen Historiker Reinhart Koselleck (1923-2006) einmal charakterisiert und damit sehr genau den kritischen Impuls erfaßt, mit dem Kosellecks vielgerühmte Arbeiten zur Historik sich von den Prätentionen und tendenziell totalitären Konsequenzen substantialistischer Geschichtsphilosophie abstoßen. Dagegen setzt Koselleck die irreduzible Vielfalt und perspektivische Gebrochenheit jener Geschehenseinheiten, auf die wir mit dem Begriff der Geschichte Bezug nehmen und deren Rekonstruktion die immer wieder neue Aufgabe der Historie ist.In diesem Band, der Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten versammelt, werden die Entwicklung und die Reichweite der Koselleckschen Historik eindrucksvoll sichtbar. Neben verstreut publizierten Arbeiten wie der längst in den Rang eines modernen Klassikers aufgestiegenen Studie zur Beantwortung der Frage Wozu noch Historie? versammelt der Band erstmals unveröffentlichte Texte aus dem Nachlaß. Sie erweitern das Bild von Kosellecks Theoriearbeit um wichtige Facetten, zeigen den denkenden Historiker aber auch als Meister empirisch gesättigter Analysen und Darstellungen.
Autorenporträt
Reinhart Koselleck (1923-2006), Professor in Bochum, Heidelberg und Bielefeld, Mitglied zahlreicher Akademien und Kollegien. Bahnbrechende Studien zur Geschichte der europäischen Aufklärung, zur Theorie der Geschichte und zur Begriffsgeschichte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2010

Die schwer zu ertragende
Sinnlosigkeit der Geschichte
An den sprachlichen Rändern historischer Erfahrungen:
Ein letzter Band mit Abhandlungen Reinhart Kosellecks
Es sagt sich so dahin, dass das 19. Jahrhundert eine „Übergangszeit“ gewesen sei. Das ließe sich von fast jedem halbwegs bewegten Jahrhundert behaupten, in dem die Generationen kamen und gingen. Und dass der Wandel im 19. Jahrhundert rapider war als in den meisten Epochen davor, ist sowieso unbestritten. Doch wenn Reinhart Koselleck diese Feststellung trifft, noch dazu vor einem Publikum in Japan, wie in dem jetzt erstmals veröffentlichten Vortrag über das deutsche 19. Jahrhundert aus dem Jahr 1978, dann darf man Genaueres erwarten.
Koselleck beschreibt nicht nur allgemeine Beschleunigungserfahrungen – die Postkutschenzeit zwischen Berlin und Köln verkürzte sich zwischen 1815 und 1848 von 130 auf 78 Stunden –, er benennt nicht nur den staatlichen Umbau auf deutschen Boden, etwa durch die Säkularisierungen geistlicher Herrschaften, der das politische Schwergewicht auf die protestantischen Fürsten verschob; Koselleck geht tiefer, bis in den Alltag auf dem Land: Die feudalen Herrschaftstitel, die auf dem Boden lasteten, mussten in einem jahrzehntelangen Prozess monetär „abgelöst“, also in Recheneinheiten verwandelt und dann abbezahlt werden. Die Übergangszeit wurde so unmittelbar sichtbar in den Rechnungsbüchern der Bauern und Gutsbesitzer.
Dabei entstand eine agrarische Unternehmerkaste, der ein verarmter Landarbeiterstand gegenübertrat, dessen Zukunft viel ungesicherter war als zuvor im Rahmen feudaler Hauswirtschaften. All das dauerte, weil es in Deutschland keine blutige Revolution, sondern ein zähe bürokratische Reform gab: „Das alte Recht gilt nicht mehr, das neu verordnete Recht aber tritt erst langsam in Kraft. Diese Zwischenlage des Nichtmehr und des Nochnicht ist die zeitliche Grundstruktur auf dem Lande, die in vielen Brechungen die Übergangszeit zur Alltagserfahrung werden ließ.“
Koselleck, dessen letzter Abhandlungsband nun aus dem Nachlass ediert wurde, ist bekannt als Theoretiker der Beziehungen von Sprache und Geschichte. Diese Fragestellung führte den unbestechlich nüchternen und präzisen Forscher aber nicht einfach auf die Höhen der Abstraktion. Gerade weil Koselleck so genau zeigen konnte, dass jede Geschichte erst durch Sprache konstituiert wird, war er gleichzeitig so aufmerksam für die stumme, leibliche, sprachlich nicht artikulierte Seite der historischen Erfahrung. Denn jede sprachlich freigesetzte Geschichte blendet unzählige andere, ebenso mögliche aus.
Und das ist nicht nur ein interessanter Interpretationsansatz für historiographische Texte, obwohl es natürlich das auch ist: So führt Koselleck in einem amüsanten Vergleich vor, wie unterschiedlich Johann Gustav Droysen, Heinrich von Treitschke und der Marxist Franz Mehring die preußischen Reformen darstellten; Droysen als unabgegoltenes Versprechen im Rahmen einer menschheitlichen Freiheitsgeschiche, Treitschke als Vorgriff auf die preußische Lösung der deutschen Frage und Mehring als Paradefall einer zu überwindenden Klassenherrschaft.
Koselleck verbleibt aber eben nicht in diesem innerwissenschaftlichen Bereich, sondern leuchtet bis in den Erfahrungsgrund, wo Geschichte sich aus unzähligen individuellen und meist kaum zu vereinbarenden subjektiven Wahrnehmungen bildet, wo Geschichte als Begriff oder Erzählung noch gar nicht vorhanden ist, sondern nur ihr Rohstoff. Diese stumme oder stammelnde Sphäre aber wird überhaupt erst erkennbar durch die scharfen Lichtstrahlen einer historischen Begrifflichkeit, die immer weiß, dass sie zwangsläufig von außen kommt. Das ist die großartige Dialektik von Theorie und anthropologischer Erfahrung, die nur dieser Historiker so geschmeidig und präzise beherrschte.
Wenn Koselleck über eines seiner Lebensthemen nachdachte, den preußischen Staat, dann klärte er erst, wann und für welchen Bereich der Name Preußen überhaupt galt; er stellte fest, dass das Konstrukt einer reichsdeutschen Landesherrschaft, die sich mit einem außerdeutschen Territorium zu einer Monarchie verbunden hatte, kein Einzelfall war, sondern dass die „osmotischen Grenzen“ des Reiches auf allen Seiten solche Verbindungen ermöglichten, zum Beispiel zwischen Sachsen und Polen, Österreich und Ungarn, Pommern und Schweden. Die Rede vom „Gemachten“, „geistig Gesetzten“ des Staates Preußen kann dann auch präzisiert werden: als Produkt einer Beamtenelite von etwa 500 hochausgebildeten Bürokraten, die dieses zusammengesetzte Gebilde beherrschten.
Hat die militärische Tradition des alten Preußen den wilhelminischen Imperialismus eher gebremst oder verstärkt? Diese Frage scheint Koselleck durchaus offen. Und wenn Preußen-Deutschland im Vergleich zu Frankreich oder England einen „Sonderweg“ beschritten habe, dann könne das ebenso über die östlicher gelegen Länden mit Blick auf Preußen behauptet werden.
Im preußischen Militär wurde übrigens weniger geprügelt als in britischen Internaten – hier haben wir wieder die leibliche Geschichte –, und die Wehrgerechtigkeit war im bürokratischen System Preußens höher als in Frankreich, wo die besitzenden Klassen sich loskaufen konnten; auch der Vergleich des Ausbildungssysteme, Elitenschulen in Frankreich, Humboldtsche Freiheit in Preußen, fällt ambivalenter aus als das Sonderwegsschlagwort suggeriert. So führt die Frage nach dem, was aus der preußischen Geschichte zu „lernen“ sei, zunächst zu einer gesamteuropäischen Typologie. Lernen kann man vor allem, dass man nicht zu viel Einzelnes lernen sollte: Die Nachwirkung der Schlacht von Leuthen auf den strategisch verheerenden Schlieffen-Plan 150 Jahre später ist dafür ein Beispiel.
Kosellecks hochsensibles Bewusstsein für sprachliche Fallstricke und für die uneinholbare Leiblichkeit der Geschichte machte ihn zu einem leidenschaftlichen Gegner jeglicher „Geschichtspolitik“. Der Nachlassband sammelt noch einmal seine kalten und zornigen Interventionen gegen die Mahnmalentscheidungen der neunziger Jahre, die einerseits Täter und Opfer zusammenrühren – „Die Toten mahnen“ –, andererseits an den Opferkategorien der SS, also den Trennungen von Juden, Zigeunern und Homosexuellen festhalten. Vor jeder Rede zum 8. Mai sollte Kosellecks Abhandlung über die Frage „besiegt oder befreit?“ aus dem Jahre 1995 studiert werden. Wenn die Deutschen heute einfach sagen, auch sie seien „befreit“ worden, stehlen sie sich nicht nur aus ihrer Verantwortung, sie verbreiten auch eine Unwahrheit über die Leiden von Vertriebenen und Vergewaltigten. Auch hier lässt sich aus den unverrechenbaren Erfahrungen nicht einfach hinterher eine gemeinsame Geschichte zusammenschmelzen. Arno Borsts persönliche Formel über den 8. Mai 1945: „Befreit von der Pflicht zu töten“ hätte Koselleck aber wohl gebilligt.
Wenige haben so nüchtern und damit so unwiderleglich über die deutsche Schuld gesprochen wie Koselleck; aber er hat das ganze totalitäre Jahrhundert im Blick und weiß daher, dass 1919 der deutsche jüdische Historiker Harry Bresslau mit zwei Koffern aus dem wieder französisch gewordenen Straßburg über den Rhein gejagt wurde, weil er in einer vierstufigen ethnischen Klassifizierung zwischen Franzosen und Deutschen als Volldeutscher galt, der zu gehen hatte. Und wenn Thomas Mann in einer Radioansprache die SS-Gruppen, die Juden vergasten, als „Hottentotten“ und „Kaffern“ bezeichnet, ist ihm das ein Beleg dafür, wie tief ins bürgerliche Lager rassistische Denkformen reichten.
Dieser Band wurde anders als frühere Abhandlungssammlungen nicht mehr von Koselleck selbst zusammengestellt. Er ist deswegen nicht weniger gewichtig als die Bände „Vergangene Zukunft“, „Begriffsgeschichten“ oder „Zeitschichten“, um die früheren Titel zu nennen. Der berühmte Vortrag „Wozu noch Historie?“ von 1971, der dem ganzen Fach die Erneuerung vorzeichnete, wird hier zum ersten Mal in Buchform gebracht; er liest sich, anders als so viele Verlautbarungen aus jener Zeit, völlig unverbraucht. Meisterhaft ist die Studie über „Goethes unzeitgemäße Geschichte“ (1993), die zeigt, wie der Staatsmann und Zeitgenosse Goethe dem Sog der geschichtsphilosophischen Bewegungsbegriffe seiner Zeit entkam – unter anderem in jener „Campagne in Frankreich“, die die Geschichte des ersten Revolutionskrieges auf die momentanen Erfahrungen der Beteiligten zurückführte, also auf jene Ebene, wo „die“ Geschichte noch keinen „Sinn“ hat.
Die titelgebende Abhandlung über „Sinn und Unsinn der Geschichte“ von 1997 erprobt den Sinn-Begriff am härtesten Gegenstand, der Schlacht von Stalingrad. Selbst wer hier „Unsinn“ postuliert, muss die Geschichte noch zu abstrakt anlegen, denn wo beginnt der Unsinn? Mit Hitlers Programm, mit dem Anfang des Zweiten Weltkriegs, mit dem Feldzug gegen die Sowjetunion? Diese Fragen führen in Labyrinthe ohne Ausweg. Mit schneidender Nüchternheit plädiert Koselleck dagegen für einen präzisen, nicht existenzialistisch pathetisierten Begriff von Sinnlosigkeit der Geschichte.
Die Unkosten, die uns „Geschichte schlechthin“ mit ihren Sinnzumutungen auferlege, seien zu hoch, schließt Koselleck. „Verweisen wir ihre Sinnzumutungen dorthin, wo sie herkommen: in den Bannkreis der – schwer zu ertragenden – Sinnlosigkeit. Statt dessen sollten wir zurückstecken und versuchen, das zu tun, was wir selbst sinnvoll ermöglichen können.“ Ein Schluss wie in Voltaires „Candide“, das Abschiedswort dieses großen Historikers und vielleicht seiner ganzen, noch vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Generation.
GUSTAV SEIBT
REINHART KOSELLECK: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Dutt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 387 Seiten, 32 Euro.
Die Zwischenzeit des Nichtmehr
und Nochnicht prägte auf dem
Lande die Alltagserfahrung
Im Bewusstsein für die Leiblichkeit
von Geschichte wurde er ein
Gegner jeglicher Geschichtspolitik
Wo beginnt der Unsinn? Mit
Hitlers Programm? Mit dem
Überfall auf die Sowjetunion?
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der letzte Band mit Vorträgen und Aufsätzen von Reinhard Koselleck, der nun aus dem Nachlass publiziert worden ist, bestärkt Gustav Seibt in seiner Hochachtung für den Historiker. Wie kein Zweiter habe Koselleck die "Beziehungen zwischen Sprache und Geschichte" ausgeleuchtet und dabei dennoch die konkrete Alltagserfahrung nicht aus dem Blick verloren, preist der Rezensent. Ob es um eines seiner "Lebensthemen", den Preußischen Staat, ginge oder um politische Entscheidungen wie das Holocaust-Mahnmal in den 90er Jahren: Stets argumentiere der Historiker nüchtern und in seiner Begrifflichkeit präzise im Wissen, dass sie "von außen kommt", also gemacht ist, so Seibt eingenommen. Als brillante Aufsätze hebt er Kosellecks Vortrag "Wozu noch Historie" von 1971 und seine Studie "Goethes unzeitgemäße Geschichte" von 1993 hervor und hat diesen in seinen Augen außerordentlich gelungenen Band als glänzendes "Abschiedswort" nicht nur dieses "großen Historikers", sondern seiner ganzen Generation gelesen.

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»Wozu noch Historie? heißt ein Aufsatz von Reinhart Koselleck, der zu den wichtigsten Historikern des 20. Jahrhunderts zählt und sich die Frage schon im Jahr 1971 stellte ... Die Antwort fällt facettenreich aus. Festzuhalten ist die Grundeinsicht, dass Geschichte nicht auf einen einheitlichen oder gar auf ein Ziel zulaufenden Nenner zu bringen ist.«
Märkische Allgemeine 13.11.2010