Vor Kriminellen, die ihm nach dem Leben trachten, flieht Weniamin Jasytschnik im Petersburger Hafen auf ein ukrainisches Frachtschiff. Ein Gespensterschiff, wie sich herausstellt, das u. a. Weniamins buntgescheckte Vergangenheit in Gestalt äußerst lebendiger Leichen an Bord hat. Mit von der Partie: ein singender Kapitän und sein Vielvölkerteam, dazu: ein estnischer Grenzer, eine in Polen verlorene russische Priesterbraut, ein deutscher Spion, der durch einen Oligarchen zu Reichtum gekommen ist Die abenteuerliche Reise des Weniamin Jasytschnik beginnt. Wohin führt sie? Nach Vineta vielleicht, in die versunkene, märchenhaft glückliche und reiche Stadt in der Ostsee eine enge Verwandte Petersburgs, wie sich überraschend erweist. Zar Peter der Große wirkt mit, als "fliegender Holländer" und Herkules des Nordens zugleich. Und endlich kann sich der nostalgische Held von den Verstrickungen seiner spätsowjetischen Kindheit und Jugend befreien.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2010Wodka aus Waschmitteln
Auf Grund gelaufen: Oleg Jurjews Schiffsroman
Die Deutschen haben die Unsterblichkeit entdeckt. Damit das nicht so auffällt und zu maßloser Einwanderung führt, müssen sie für den weiterlaufenden Todesbetrieb aus Russland Leichen importieren. So macht sich die "Atenov" mit ihrer besonderen Fracht im Kühlraum auf die Reise von Petersburg nach Kiel. Es ist ein in jeder Hinsicht merkwürdiges Schiff, ein fliegender Russe. Kapitän Achov zum Beispiel hat seit Jahren die Kommandobrücke nicht mehr verlassen. Stattdessen schallt sein kraftvoller Gesang durch die Lautsprecher, Seemannslieder, Deklamationen, alte sowjetische Schlager. Was hat das zu bedeuten? Hat es etwas zu bedeuten?
An Bord ist auch der Ich-Erzähler Weniamin Jasytschnik. Sein kürzlich ermordeter Stiefvater hatte einen illegalen Handel mit Bologneserhündchen aufgezogen, die er für den Zoll als japanische Zwergschafe deklarierte. Dann gab es Probleme mit den Gläubigern. Wenka glaubt, dass sie es auch auf ihn abgesehen haben. Am unauffälligsten scheint ihm die Flucht auf einem unscheinbaren Frachter.
Aber die "Atenov" ist nicht unscheinbar, sondern mehr oder weniger schöner Schein. Wenn man den Schiffsnamen rückwärts liest und einen Vokal vertauscht, kommt man auf "Vineta". Womöglich ist die "Atenov" nebenbei in geheimem Auftrag der Russischen Akademie der Wissenschaften unterwegs: Vineta finden, wo auch immer. Der Name der sagenhaften, mitsamt ihren Reichtümern in den Ostseefluten versunkenen Stadt steht sinnbildlich für alle Schimären, denen sich der Roman des russisch-jüdisch-deutschen Autors Oleg Jurjew, der 1959 in Leningrad geboren wurde und seit 1991 in Frankfurt lebt, verschrieben hat.
Passenderweise hat Wenka gerade eine Dissertation über die mythischen Zusammenhänge von Sankt Petersburg und Vineta abgeschlossen. "Aspekte der Rekonstruktion einer chronotopischen Spiegelung" lautet der Untertitel - so könnte sich auch eine Studie über "Die russische Fracht" nennen. Denn gespiegelt wird hier, was die gleißende Russendiskokugel nur hergibt. Wie frühere Werke Jurjews, zuletzt "Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise", ist der Roman gespickt mit Anspielungen, Zitaten, Vexierspielen und postmodernem Seemannsgarn. "So sprechen wir miteinander, Menschen der untergegangenen sowjetischen Zivilisation - in Zitaten aus allerlei Gedichten und Liedchen, aus alten Filmen und alten Witzen." Das meiste aus diesem Fundus dürfte Nichtrussen wenig bekannt sein, und so fährt der Leser streckenweise mit Schlagseite in fremder See. Immerhin ahnt man, wer das Vorbild abgab für Dr. Günter Dschao aus Heidelberg, der die Toten-Fracht im Kieler Hafen in Empfang nimmt und aussieht, als wäre er aus "hellgelbem Plastilin" geknetet.
Die "Atenov" schiebt eine Bugwelle an ironisch gebrochenen Bedeutungen vor sich her. Und erweist sich für Wenka zudem als autobiographisches Gespensterschiff aus dem Geist der Petersburger Halluzinationskultur. Inspiriert vom selbstgebrannten Wodka aus Waschmitteln, liegt er im Leninzimmer, träumt heftig vor sich hin und kann bald nicht mehr unterscheiden, wo die Realität (ein bloßer Traum?) aufhört und die Einbildung (verdammt real!) beginnt. Unerledigte Jugenderlebnisse werden aufgetaut, verstorbene Verwandte und Schulfreunde geben sich an Bord des Schiffes ein Stelldichein, darunter die unglückliche Jugendliebe Zoe und der auf dem geheimen Jerusalemer Marinefriedhof beigesetzte Papa. Letzterer erzählt uns etwas von "jüdischen Submarines", die über unterirdische Flüsse und Höhlenseen Richtung Israel steuern. Nein, an Einfällen mangelt es Jurjew nicht.
Wenka selbst verfügt über ein Fernglas, mit dem sich die beobachteten Phänomene auf Knopfdruck auslöschen lassen. Zwar versagt der Zauber, als die "Queen of Belgium", ein riesiges "schwimmendes Altersheim", direkt auf die "Atenov" zuhält. Aber die Optik des Erzählers funktioniert ähnlich wie dieser metaphysische Feldstecher. Realitäten werden nach Belieben an- und ausgeknipst. Einst kamen aus Russland die gewaltigen Epen des Realismus; in der postsowjetischen Welt scheint sich jeder Begriff einer zuverlässigen Realität so weit aufgelöst zu haben, dass die Unzulänglichkeit tradierter Erzählformen besonders stark empfunden wird. Der russischen Gegenwart, so wissen auch die Leser Sorokins und Pelewins, ist nur noch mit Phantastik und hyperaktiver Satire beizukommen.
Gerade die herausragende phantastische Literatur unternimmt allerdings seit je große Realismusanstrengungen, um die surreale Welt zu beglaubigen. Davon kann hier keine Rede sein. "Die russische Fracht" ist ein allegorischer Mummenschanz, ein durchgeknalltes Musical unter Leitung des "musikalisch-lyrischen Radiokapitäns", eine beschwipste Burleske, bei der ein dünner Knalleffekt dem nächsten folgt. Aber es ist keine Erzählung, die sich selbst ernst nimmt - was die phantastische Literatur tut. Dieser poetologische Unernst macht die Lektüre beschwerlich. Selten war das Skurrile so strapaziös.
Kein Zweifel, Jurjew ist ein hochintelligenter Autor, überaus belesen in Literatur und Wissenschaft, ein Mann mit Ironie und doppeltem Boden, der einen Stil schreibt, dessen Raffinesse in der sorgfältigen Übersetzung durch die Lyrikerinnen Elke Erb und Olga Martynova gut zu erkennen bleibt (von einigen verunglückten Wortfindungen wie "polizeiermäßig" und "Allesverschwindenmacher" abgesehen). Im dichten Verhau der Anspielungen, Späße und Gescheitheiten aber verendet die Leselust. Mag sein, dass die Welt zerfällt, vor allem in Russland, aber müssen wir deshalb auch verzettelte Romane lesen?
WOLFGANG SCHNEIDER
Oleg Jurjew: "Die russische Fracht". Roman. Aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 220 S., geb., 22,80 [Euro].
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Auf Grund gelaufen: Oleg Jurjews Schiffsroman
Die Deutschen haben die Unsterblichkeit entdeckt. Damit das nicht so auffällt und zu maßloser Einwanderung führt, müssen sie für den weiterlaufenden Todesbetrieb aus Russland Leichen importieren. So macht sich die "Atenov" mit ihrer besonderen Fracht im Kühlraum auf die Reise von Petersburg nach Kiel. Es ist ein in jeder Hinsicht merkwürdiges Schiff, ein fliegender Russe. Kapitän Achov zum Beispiel hat seit Jahren die Kommandobrücke nicht mehr verlassen. Stattdessen schallt sein kraftvoller Gesang durch die Lautsprecher, Seemannslieder, Deklamationen, alte sowjetische Schlager. Was hat das zu bedeuten? Hat es etwas zu bedeuten?
An Bord ist auch der Ich-Erzähler Weniamin Jasytschnik. Sein kürzlich ermordeter Stiefvater hatte einen illegalen Handel mit Bologneserhündchen aufgezogen, die er für den Zoll als japanische Zwergschafe deklarierte. Dann gab es Probleme mit den Gläubigern. Wenka glaubt, dass sie es auch auf ihn abgesehen haben. Am unauffälligsten scheint ihm die Flucht auf einem unscheinbaren Frachter.
Aber die "Atenov" ist nicht unscheinbar, sondern mehr oder weniger schöner Schein. Wenn man den Schiffsnamen rückwärts liest und einen Vokal vertauscht, kommt man auf "Vineta". Womöglich ist die "Atenov" nebenbei in geheimem Auftrag der Russischen Akademie der Wissenschaften unterwegs: Vineta finden, wo auch immer. Der Name der sagenhaften, mitsamt ihren Reichtümern in den Ostseefluten versunkenen Stadt steht sinnbildlich für alle Schimären, denen sich der Roman des russisch-jüdisch-deutschen Autors Oleg Jurjew, der 1959 in Leningrad geboren wurde und seit 1991 in Frankfurt lebt, verschrieben hat.
Passenderweise hat Wenka gerade eine Dissertation über die mythischen Zusammenhänge von Sankt Petersburg und Vineta abgeschlossen. "Aspekte der Rekonstruktion einer chronotopischen Spiegelung" lautet der Untertitel - so könnte sich auch eine Studie über "Die russische Fracht" nennen. Denn gespiegelt wird hier, was die gleißende Russendiskokugel nur hergibt. Wie frühere Werke Jurjews, zuletzt "Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise", ist der Roman gespickt mit Anspielungen, Zitaten, Vexierspielen und postmodernem Seemannsgarn. "So sprechen wir miteinander, Menschen der untergegangenen sowjetischen Zivilisation - in Zitaten aus allerlei Gedichten und Liedchen, aus alten Filmen und alten Witzen." Das meiste aus diesem Fundus dürfte Nichtrussen wenig bekannt sein, und so fährt der Leser streckenweise mit Schlagseite in fremder See. Immerhin ahnt man, wer das Vorbild abgab für Dr. Günter Dschao aus Heidelberg, der die Toten-Fracht im Kieler Hafen in Empfang nimmt und aussieht, als wäre er aus "hellgelbem Plastilin" geknetet.
Die "Atenov" schiebt eine Bugwelle an ironisch gebrochenen Bedeutungen vor sich her. Und erweist sich für Wenka zudem als autobiographisches Gespensterschiff aus dem Geist der Petersburger Halluzinationskultur. Inspiriert vom selbstgebrannten Wodka aus Waschmitteln, liegt er im Leninzimmer, träumt heftig vor sich hin und kann bald nicht mehr unterscheiden, wo die Realität (ein bloßer Traum?) aufhört und die Einbildung (verdammt real!) beginnt. Unerledigte Jugenderlebnisse werden aufgetaut, verstorbene Verwandte und Schulfreunde geben sich an Bord des Schiffes ein Stelldichein, darunter die unglückliche Jugendliebe Zoe und der auf dem geheimen Jerusalemer Marinefriedhof beigesetzte Papa. Letzterer erzählt uns etwas von "jüdischen Submarines", die über unterirdische Flüsse und Höhlenseen Richtung Israel steuern. Nein, an Einfällen mangelt es Jurjew nicht.
Wenka selbst verfügt über ein Fernglas, mit dem sich die beobachteten Phänomene auf Knopfdruck auslöschen lassen. Zwar versagt der Zauber, als die "Queen of Belgium", ein riesiges "schwimmendes Altersheim", direkt auf die "Atenov" zuhält. Aber die Optik des Erzählers funktioniert ähnlich wie dieser metaphysische Feldstecher. Realitäten werden nach Belieben an- und ausgeknipst. Einst kamen aus Russland die gewaltigen Epen des Realismus; in der postsowjetischen Welt scheint sich jeder Begriff einer zuverlässigen Realität so weit aufgelöst zu haben, dass die Unzulänglichkeit tradierter Erzählformen besonders stark empfunden wird. Der russischen Gegenwart, so wissen auch die Leser Sorokins und Pelewins, ist nur noch mit Phantastik und hyperaktiver Satire beizukommen.
Gerade die herausragende phantastische Literatur unternimmt allerdings seit je große Realismusanstrengungen, um die surreale Welt zu beglaubigen. Davon kann hier keine Rede sein. "Die russische Fracht" ist ein allegorischer Mummenschanz, ein durchgeknalltes Musical unter Leitung des "musikalisch-lyrischen Radiokapitäns", eine beschwipste Burleske, bei der ein dünner Knalleffekt dem nächsten folgt. Aber es ist keine Erzählung, die sich selbst ernst nimmt - was die phantastische Literatur tut. Dieser poetologische Unernst macht die Lektüre beschwerlich. Selten war das Skurrile so strapaziös.
Kein Zweifel, Jurjew ist ein hochintelligenter Autor, überaus belesen in Literatur und Wissenschaft, ein Mann mit Ironie und doppeltem Boden, der einen Stil schreibt, dessen Raffinesse in der sorgfältigen Übersetzung durch die Lyrikerinnen Elke Erb und Olga Martynova gut zu erkennen bleibt (von einigen verunglückten Wortfindungen wie "polizeiermäßig" und "Allesverschwindenmacher" abgesehen). Im dichten Verhau der Anspielungen, Späße und Gescheitheiten aber verendet die Leselust. Mag sein, dass die Welt zerfällt, vor allem in Russland, aber müssen wir deshalb auch verzettelte Romane lesen?
WOLFGANG SCHNEIDER
Oleg Jurjew: "Die russische Fracht". Roman. Aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 220 S., geb., 22,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein "vor Fantasie sprühendes, freches, sprachmächtiges Buch" zeigt Rezensentin Ilma Rakusa mit diesem Buch über die abenteuerliche Reise eines Vineta-Forschers von Hamburg nach St. Petersburg an. Selbst die Beschreibung einer Männerunterhose sei diesem Autor ein "Sprachfeuerwerk" wert. Es geht, wie sie schreibt, um den jungen Wenja Jasytschnick, der von Deutschland nach Petersburg reise, weil sein Stiefvater ermordet wurde und sich Kriminelle seine Firma aneigneten. Das Schiff, auf dem er reise, sei "ein einziger Spuk" und dessen Kapitän ein Verwandter von Melvilles Ahab. In Kühlräumen lagerten Tote, darunter auch der ermordete Stiefvater. Insgesamt sei es schwer, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Zumal auch die Obsession des Protagonisten für das versunkene Vineta im Roman Funken schlägt, wie uns die Rezensentin sehr glaubhaft vermittelt, die auch Elke Erbs Übersetzung hoch lobt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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