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Am Gogol-Denkmal in Moskau trifft Pawel Dalinin, "ein Held unserer Zeit", einen alten Herrn mit Namen Mondlos, der ihn zu einem Fest in eine fremde Wohnung einlädt. Das Gelage ist bereits in vollem Gange, als Dalinin eintrifft, und obwohl er niemanden kennt, wird er das Gefühl einer sonderbaren Vertrautheit nicht los. Er trinkt, macht Bekanntschaften und verliebt sich in die reizende Vera. Am nächsten Morgen, beim Blättern in einem Fotoalbum, erkennt er in den Gästen des Vorabends seine Eltern und andere Gestalten seiner Kindheit. Von Sehnsucht nach Vera getrieben, versucht er, die Wohnung…mehr

Produktbeschreibung
Am Gogol-Denkmal in Moskau trifft Pawel Dalinin, "ein Held unserer Zeit", einen alten Herrn mit Namen Mondlos, der ihn zu einem Fest in eine fremde Wohnung einlädt. Das Gelage ist bereits in vollem Gange, als Dalinin eintrifft, und obwohl er niemanden kennt, wird er das Gefühl einer sonderbaren Vertrautheit nicht los. Er trinkt, macht Bekanntschaften und verliebt sich in die reizende Vera.
Am nächsten Morgen, beim Blättern in einem Fotoalbum, erkennt er in den Gästen des Vorabends seine Eltern und andere Gestalten seiner Kindheit. Von Sehnsucht nach Vera getrieben, versucht er, die Wohnung wiederzufinden, und erfährt von den erstaunten Mietern, daß jenes Fest vor Jahrzehnten stattgefunden hat.
Um zu begreifen, was ihm geschehen ist, sucht er Rat bei Freunden, die in okkulten und esoterischen Kreisen verkehren. Die Aufklärung seiner Geschichte wird zu einer Reise durch das "metaphysische Moskau" der neunziger Jahre. Sie führt ihn in einen unterirdischen Bunker an der Peripherie, aber auch in das gemütliche Ambiente von Teestuben und verwilderten Gärten, in Häuser mit eingestaubten Büchern, gelbem Lampenlicht, fetten Katzen und singenden Samowaren, wo Anhänger des indischen Wedanta, des Buddhismus, russisch-orthodoxer Frömmigkeit und sonstiger Lehren über Grenzerfahrungen philosophieren.
Jurij Mamlejew, von jüngeren Kollegen wie Wladimir Sorokin und Wiktor Jerofejew als Erbe Gogols und Dostojewskis verehrt, hat einen Roman über die geistige Situation des heutigen Rußland geschrieben. Ein schwarzes Idyll voll verrückter Heiterkeit und "transzendenter Schwermut".
Autorenporträt
Gabriele Leupold, geboren 1954 in Niederlahnstein, unterrichtete nach ihrem Studium der Slawistik und Germanistik Deutsch als Fremdsprache (u.a. ein Jahr lang an der Universität Fukui in Japan), verbrachte einen zehnmonatigen Forschungsaufenthalt in Moskau und widmete sich in Berlin, wo sie mit Unterbrechungen seit 1982 lebt, der Galeriearbeit. Seit ihrer Rückkehr aus Japan übersetzt sie, hauptsächlich aus dem Russischen, u.a. Osip Mandelstam, Michail Bachtin, Vladimir Sorokin, Andrej Belyj und Boris Pasternak, organisiert und leitet seit den 90er Jahren zahlreiche Workshops für Übersetzer und Studierende. Ihre Arbeit wurde 1997 mit dem Übersetzerstipendium der "Dialogwerkstatt Zug" und 2002 mit dem "Paul-Celan-Preis" ausgezeichnet. 2012 erhielt Gabriele Leupold den "Johann-Heinrich-Voss-Preis" für ihre Übersetzungen aus dem Russischen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2003

Da liegt die Katze und hat den Himmel im Blick
Neben ihr aber tut ein Zeitloch sich auf: Jurij Mamlejews metaphysischer Roman von der irrlichternden Zeit
Wo wir uns in dieser „irrlichternden Zeit” befinden, das lässt sich manchmal nicht genau sagen, vielleicht irgendwo am „Rande des Weltalls”. Wenn man durch die Straßen Moskaus geht – „gleich, gleich wird von dort ein apartes adeliges Fräulein des 19. Jahrhunderts herausschauen, ein Bändchen Puschkin in der Hand (oder womöglich auch Dostojewskij)”. Ein Zeitloch tut sich auf, und Pawel Dalinin, ein „junger Mann unserer Zeit”, fällt hinein, als er von einem sonderbaren Alten zu einem Fest geladen wird. Dort begegnet er seinen Eltern vor seiner Geburt, verliebt sich in ein reizendes Wesen, vergewaltigt eine Frau und zeugt mit ihr einen Sohn. Dieser obskure Vorfall, der ihn um Jahrzehnte in der Zeit zurückversetzt, wird zur Katastrophe seines Lebens. Um etwas Licht in dieses Dunkel zu bringen, macht sich Pawel auf eine Reise, mitten hinein in Moskaus metaphysische Hysterie, in die Unlösbarkeit der Widersprüche. Er hört so viele Worte, so viele Ausrufe und Theorien – was bleibt, ist tiefe Verwirrung.
Rätsel scheint es in Russland auf Schritt und Tritt zu geben. In seinem Roman „Die irrlichternde Zeit” will Jurij Mamlejew in das Innere dieser Rätsel eindringen, nähert sich auf labyrinthischen Pfaden dem Bewusstsein der Zeitenwende und entwirft ein Portrait Russlands am Ende des zweiten Jahrtausends.
Pawel begibt sich in die esoterischen Zirkel Moskaus, die Gruppe der Metaphysiker. Hier fürchtet man sich vor nichts, und sei es noch so erstaunlich und phantastisch. Man übt sich in Meditationen, Ekstasen einer universellen Rettung, oder, nach dem Advaita-Vedanta, in dem Eintritt in den vierten Bewusstseinszustand. In diesen Kreisen wimmelt es nur so von Hellsehern, Visionären und Mystikern, Adepten des Unmöglichen: „so sind sie, die russischen Jungs . . ., sie brennen darauf, in die letzten Geheimnisse einzudringen . . .” – Genau diese letzten Geheimnisse sind es, die die Gruppe der Anti-Metaphysiker endgültig abschaffen will.
Von den Ideen kommt Übel
Poeten, Propheten, Schriftsteller, Messiasse, Heilige und so weiter sind ihre Feinde. Sie sind von der Idee besessen, dass es keine Ideen mehr geben soll, „denn von den Ideen kommt das Übel”. Sie töten um dieser Idee willen, für die Menschheit, damit alle leben können. Wie wäre es, alles lächerlich zu machen – Kultur, Philosophie, Literatur, Religion. Und den Tod abzuschaffen? Gott wird zum Zeitvertreib und die Welt zum Disney-Land. Das Leben wäre „so einfach wie bei McDonalds”. Dass das so einfach nicht geht, haben sie allerdings schon verstanden. Alle versuchen sich in Erklärungen, doch Pawel kommt nicht zur Ruhe; so viele Möglichkeiten und so viele Wirklichkeiten. So viele Wirklichkeiten und so viele Vergeblichkeiten.
In dieser Aussichtslosigkeit erscheinen immer wieder Inseln, wunderbare Zeilen, Gedichtfetzen tauchen auf, – scheinbar längst vergessene, zufällig gelesene Verse. „Poesie konnte Possejew nicht ausstehen”, folgt als Kommentar. Aber sie sind da, die Worte. Das wahre Russland liegt woanders, und wer langsam geht, kommt auch ans Ziel. Das Leben der Katzen und Kater, die „ein gleichmäßiges seliges Sein verströmen”, könnte womöglich davon berichten. Und Russland ist hier nicht einfach ein Land, sondern unermesslich mehr, eine „große Parallelwelt”, die nicht nur zu unserem Planeten gehört.
Mit einem Vorortzug reist Pawel weiter ins Innere des Landes, der Weg führt durch die unendlichen Birken- und Kiefernwälder. Russland zieht seine Kreise, und sanft öffnet sich ein Idyll: Man hat es sich im Garten gemütlich gemacht, unter Büschen und Bäumen, in der Mitte ein kleiner Kreis mit dem Laken für Nachtmahl und Samowar, „dass so manchem eingefallen wäre, es gäbe auch keinerlei Teufel auf der Erde.” Ruhe breitet sich aus, und selbst die jenseitigen Gespräche werden abgemildert durch den Rauch aus dem Samowar und den Piroggen: „Wenn jetzt die Zeit so stehenbliebe.” Und wir lesen erstaunt von der „geheimnisvollen Stimme der russischen Natur”, die plötzlich „in ihrer verborgenen Sprache” zu sprechen beginnt und allumfassende Wärme verheißt. Solange dieser Zustand dauert, dauert auch das Schweigen, und die Katze Tschernuschka aalt sich, den Himmel im Blick. Doch die Zeit bleibt nicht stehen. Sie irrlichtert weiter. Und die Welt macht ihren großen Lärm. Die Wahrheit ist schwärzer als die Lüge, der Vater findet seinen Sohn, einen verwahrlosten Auftragskiller: „Ich liebe dich, mein Söhnchen . . .” – „Ich scheiß drauf . . .”, der Sohn erschlägt den Vater, der Lauf der Zeit bricht.
Der Epilog berichtet von unerwarteten Veränderungen und einer unendlichen Erwartung. Ein Schriftsteller schreibt ein Buch, das Buch wird ein großer Erfolg. Und wieder trifft man sich im Garten, die Gräser rascheln und die Worte bohren sich ins Bewusstsein. Und alles verwandelt sich in den Wunschzustand einer „Legende, mit Gläserklingen, mit Versen und Worten aus wunderbaren Büchern”.
YVONNE GEBAUER
JURIJ MAMLEJEW: Die irrlichternde Zeit. Roman. Deutsch von Gabriele Leupold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 335 S., 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003

Vatermord im Schattenreich
Drum darbe, wer spirituell sein will: Juri Mamlejew geht auf Zeitreise / Von Kerstin Holm

Daß auf Erden untergehen muß, was in Unsterblichkeit leben will, hat schon Schiller feststellen müssen. Die metaphysische Veranlagung vieler Russen, die Leichtigkeit, mit der sie sich in Ewigkeitssphären emporschwingen können, ist nicht zuletzt dadurch erkauft, daß sich ihr Erdenleben für europäische Verhältnisse oft nahe am Nichtsein abspielt. Der Altmeister der zeitgenössischen metaphysischen Literatur in Rußland, Juri Mamlejew, der als Sowjetexilant seine Heimat mit Amerika und Frankreich vergleichen konnte, verlegt deshalb in seinem Roman "Die irrlichternde Zeit" den Olymp übersinnlich Begabter in den Moskauer Untergrund. In dem von Ratten und Obdachlosen bewohnten Keller eines Wohnsilos am Stadtrand versammelt der Dostojewski unserer Tage seine Auserwählten, asoziale Mystiker, die als lebende Leichname schon die Freuden des Jenseits genießen. Hier kreuzen sich die Wege eines lockeren Kreises von östlicher Weisheit erleuchteter Gurus und sonstiger Entrückter, die einen Zeitreisenden aus der Zukunft empfangen und zu Zeugen eines gespenstischen russischen Ödipus-Dramas werden.

Zu dieser Gesellschaft stößt Mamlejews Held unserer Zeit, ein gewisser Pawel Dalinin ("Der Entfernte"), den die Gitterstäbe der Gegenwart ebenfalls nicht festhalten können. Angeleitet von einem Gespensterboten, gerät Dalinin auf eine Abendgesellschaft der sechziger Jahre, wo er seinen jugendlichen Vater verprügelt, seiner wahren Liebe begegnet und im Rausch eine junge Frau vergewaltigt. Sein Fall wird zum Angelpunkt des Romangeschehens, das den von Realitätszweifeln und Schuldgefühlen geplagten Helden zum Seelenpatienten der bewußtseinserweiterten Elite macht, die das Erdendasein als Krankheit ansieht, welche man am besten durch Lachanfälle, Advaita-Vedanta-Lehren und Alkohol von sich fernhält.

Doch die Weltsucht wohnt bekanntlich auch in der russischen Brust. In der Hauptstadt der Spiritualität nistet ein Doktor No namens Professor Kruschujew ("Zerstörer"), der die Menschheit von allem Geistigen reinigen, sie mittels Bio-Technologie unsterblich machen und so auf ewig im physischen Kerker einsperren will. Zu diesem Zweck, der die wissenschaftliche Utopie des russischen Philosophen Nikolai Fjodorow (1829 bis 1903) von der fleischlichen Auferstehung aller Menschen in eine Antiutopie verkehrt, fahndet Kruschujew nach Geistesgrößen, die insbesondere in Rußland ständig nachwachsen, um sie von seinem buckligen Würger möglichst noch im Kindesalter liquidieren zu lassen. Dieser dienstfertige Terminator erweist sich freilich als Sohn des Helden, Frucht seiner zeitversetzten Fleischeslust, der höchst freudianisch seinen Vater ins Jenseits befördert und anschließend voller Reue seinen bösen Professor umbringt.

Das Hauptverdienst an der glücklichen Wendung gebührt zweifellos dem Schauplatz Rußland, jener Parallelwelt, die nur zu einem Teil zu unserem Planeten gehört, wie Mamlejew ein weibliches Mitglied seines erleuchteten Zirkels sagen läßt. Nur in der eurasischen Ebene können Eisenbahnzüge in die "russische Transzendenz" entschwinden. Nicht umsonst dämmert es dem metaphysikfeindlichen Professor noch vor seinem gewaltsamen Tod, daß die totale Konsumverblödung in Rußland nicht funktionieren wird, weil "das Volk nicht danach" ist.

Die Leichtigkeit, mit der Mamlejews Figuren dem Erdentrug entkommen, ist nicht sehr gut für seinen Roman. Im Gegensatz zu seinem Vorbild Dostojewski scheint sich Mamlejew an der materiellen Welt kaum noch zu reiben. Seine in gemütlichen Schmuddelwohnungen voller schwarzer Katzen hausenden Figuren bleiben Schemen. An Gesichtszügen scheint dem Autor lediglich der Jenseitsblick hervorhebenswert, visionär wirre Dialoge werden vorzugsweise hysterisch kreischend vorgetragen, außerdem wird viel gerannt und rätselhaft getanzt. Menschliche Erdferne ähnelt oft irdischem Narzißmus. Mamlejews Frauengestalten kultivieren eine besondere Zärtlichkeit für ihr Ego, seine Männer tätscheln liebevoll den eigenen Leib, und ein in Daueragonie schwelgender Kellerbewohner hat sich gar den Spitznamen "Narziß im Sarg" erworben.

Der ins Gestern und Morgen auswuchernde Roman malt zugleich auch ein Bild der materialistischen neunziger Jahre, wo ein Gossenphilosoph zum Bohème-Schriftsteller auf- beziehungsweise absteigt. Als schauriges Bild für die vom Kapitalismus zerstörten Familiennetze tritt eine einsame Alte auf, die sich von dem Würger umbringen lassen will, um nicht die Sünde des Selbstmords zu begehen. Das Salz der russischen Erde bleiben die Menschen, die ins Jenseits blicken, das der menschlichen Sprache freilich unzugänglich bleibt. Mamlejews Zukunftsbote kann von der unserem Planeten bevorstehenden Apokalypse nur wirre Andeutungen machen, bevor himmlische Garden ihn aus dem Schattenreich der Lebenden entführen.

Juri Mamlejew: "Die irrlichternde Zeit". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Leupold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 336 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Das Prädikat "echt russisch" bedeutet im Fall von Jurij Malejew: "mystisch, schwer mystisch", charakterisiert Gabriele Killert den 1931 geborenen Autor. Sein Kollege Jerofejew soll über Malejew gesagt haben, zitiert Killert, ihm hänge die mystische Seelensubstanz "wie ein Schnupftuch aus der Hosentasche". In den 50er und 60er Jahren galt der praktizierende "sexuelle Mystiker" als hochsubversiv, weil er mit einer Gruppe Gleichgesinnter den prüden Moralismus und Materialismus der Sowjetgesellschaft verspottete. Das gelang soweit, dass Mamlejew ins Exil gehen musste, informiert Killert. 1989 kehrte er zurück, und seither hat er sich zum Vertreter einer Ästhetik des Bösen hochstilisiert. Das Provokationspotenzial seines neuen Romans hält Killert dennoch für eher gering, was ihres Erachtens vor allem am übermäßigen Schwadronieren des Autors liegt. Mamlejew betreibe "satirische Mimikry", schreibt sie unwirsch. Mit dem zweifelhaften Erfolg, dass man den Autor kaum von seinen "überspannten Heilsaposteln", Geheimniskrämern und Bewusstseinsgurus unterscheiden könne. Böse schließt Killert, sie fühle sich keineswegs an Charms oder Gogol erinnert, sondern vielmehr an Hermann Hesse.

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