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Im Gespräch mit dem polnischen Nobelpreisträger Czeslaw Milosz erzählt Aleksander Wat von seinem Leben in der polnischen Republik der Zwischenkriegszeit und von seinem Schicksal in der Zeit von 1939 bis 1945. Aleksander Wat, Schriftsteller und Publizist jüdischer Herkunft, gilt als Schlüsselfigur der polnischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Begeisterter Anhänger des Kommunismus in den zwanziger Jahren, wandte er sich später davon ab und brachte nach seiner Flucht vor der Nazi-Okkupation ins russisch besetzte Polen beinahe die ganze Zeit des Zweiten Weltkriegs in sowjetischen Gefängnissen zu.…mehr

Produktbeschreibung
Im Gespräch mit dem polnischen Nobelpreisträger Czeslaw Milosz erzählt Aleksander Wat von seinem Leben in der polnischen Republik der Zwischenkriegszeit und von seinem Schicksal in der Zeit von 1939 bis 1945. Aleksander Wat, Schriftsteller und Publizist jüdischer Herkunft, gilt als Schlüsselfigur der polnischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Begeisterter Anhänger des Kommunismus in den zwanziger Jahren, wandte er sich später davon ab und brachte nach seiner Flucht vor der Nazi-Okkupation ins russisch besetzte Polen beinahe die ganze Zeit des Zweiten Weltkriegs in sowjetischen Gefängnissen zu. Dort lernte er das System von seiner unmenschlichsten Seite kennen, und dort begegnete er Hunderten von Leidensgenossen: darunter ukrainische Bauern, polnischen Arbeitern, jüdischen Schustern, russischen Banditen, vor allem aber Schriftstellerkollegen und Philosophen, mit denen er lange Gespräche führte. Mit großer menschlicher Wärme erzählt, bilden Wats Erfahrungen dieser Zeit das Herz stück seiner autobiographischen Erinnerung. Und es entsteht ein faszinierendes Panorama über Leben und Verhalten europäischer Intellektueller zur Zeit des Stalinismus. Ein bewegendes Zeitzeugnis, das seinesgleichen sucht.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Karl Schlögel rückt diese Autobiografie in eine Reihe mit anderen großen Werken der Lagerliteratur. Wat wurde 1939 im sowjetisch besetzten Lemberg verhaftet und in den GULAG deportiert. Er stammte aus einem gebildeten jüdisch-polnischen Elternhaus, was ihm, wie Schlögel erklärt, einen ganz besonderen intellektuellen Hintergrund verschaffte und Voraussetzung war für seinen soziologisch scharfen Blick, den er ohne Verbitterung auf seine Umgebung, seine Leidensgenossen und seine Widersacher richtete. Zuhilfe kam ihm dabei eine gewisse Distanz, die Schlögel damit erklärt, dass Wat ein `Anachronist` war, einer, der alles mal gewesen ist, aber alles zur falschen Zeit: Dichter, Politiker, Avantgardist, Kommunist, Antikommunist. Dass Wats Erinnerungen nun auf deutsch vorliegen, in einer gekürzten, aber hervorragend übersetzten Fassung, wie der Rezensent anmerkt, verdankt sich übrigens Czeslaw Milosz, den Wat 1964 in Berkeley kennenlernte und der Wats Schreibblockade durch Gespräche aufbrechen konnte. Für das Nachwort von Mathias Freise hat Schlögel wenig Sympathie, dessen textanalytisch überfrachtete Sichtweise er für unangemessen hält.

© Perlentaucher Medien GmbH"

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Nach den Schlachten
Aleksander Wats Erinnerungen an das zwanzigste Jahrhundert / Von Karl Schlögel

Endlich liegt die Autobiographie des polnischen Schriftstellers Aleksander Wat, wenn auch gekürzt, in deutscher Sprache vor, dazu in einer ausgezeichneten Übersetzung. "Mein Jahrhundert", wie der Titel des 1977 in London publizierten Werkes ursprünglich heißt, darf in einem Atemzug mit anderen großen Werken der Lagerliteratur, wie etwa Jewgenia Ginsburgs Erinnerungen, oder, wie Wat selbst es tut, im Zusammenhang mit Alexander Herzens "Erlebtes und Gedachtes" genannt werden.

Aleksander Wat, im Jahre 1900 in Warschau in einer jüdischen Familie geboren und 1967 im Pariser Exil gestorben, war schon zu Lebzeiten eine Legende. In seinen literarischen Anfängen Dadaist-Futurist, der durchaus "mit der Axt" zu schreiben verstand, Aktivist der Boheme im Warschau der wilden zwanziger Jahre, als Redakteur des einflußreichen "Literarischen Monatsblatts" und als Lektor bei Gebethner und Wolff fast eine Institution, nach Kriegsbeginn im sowjetisch besetzten Lemberg vom NKWD verhaftet und in die Sowjetunion deportiert, Odyssee durch den GULag, 1946 Rückkehr nach Polen, ab 1958 zusammen mit seiner Frau Ola ein Leben als Halbemigrant in Südfrankreich und Italien führend. 1964 war er auf Einladung des Center for Slavic and East European Studies nach Berkeley gekommen, wo im milden kalifornischen Klima nicht nur sein psychosomatisches Leiden gemildert werden, sondern auch die Arbeit an seinen Erinnerungen in Gang kommen sollte.

In Berkeley war Wat auf seinen Landsmann Czeslaw Milosz getroffen, den Autor einer brillanten Studie über die Intellektuellen und den Kommunismus und späteren Literatur-Nobelpreisträger. Daß Wats Memoiren zustande kamen, ist dieser Begegnung zu verdanken. Milosz gelang es, den unter einer schweren Schreibblockade leidenden Wat zum Sprechen zu bringen. In rund vierzig Gesprächen, die später in Paris fortgesetzt wurden, berichtete Wat von seinem Jahrhundert. Daß aus den Tonbandaufzeichnungen dann ein so bedeutendes Buch wurde, hat nicht nur mit der gründlichen Redaktion des Textes zu tun, sondern damit, daß die Gesprächspartner Eingeweihte waren; sie verstanden sich trotz der unterschiedlichen Generationszugehörigkeit auf Anhieb, sie erörterten Fragen, über die andere in der Regel nur zu rechten pflegten. Sie waren beide sozusagen Experten des zwanzigsten Jahrhunderts.

Im Zentrum der Erinnerungen steht die Zeit zwischen 1939 und 1945. Es ist komprimierte Zeit, ein mitteleuropäisches Menschenschicksal im Zeitraffer, eine Lebensgeschichte in dem von Hitler und Stalin beherrschten Europa, aus dem es kein Entkommen gab und wo Entkommen oft gleichbedeutend war mit Untergang. Die Folge der Gespräche ist nicht strikt chronologisch an den Stationen Warschau-Lemberg-Kiew-Lubjanka-Saratow-Kasachstan orientiert. Die große Frage, die immer wieder durchbricht und das Gespräch in Gang hält, ihm einen eigentümlichen drive verleiht, ist natürlich die nach dem Warum. Wie kam die Intelligenzija in den Sog des Kommunismus? Was waren der Kommunismus, Bolschewismus überhaupt? Was spielte sich eigentlich in den dreißiger Jahren in Sowjetrußland ab?

Dieses leidenschaftliche Interesse, "dahinterzukommen", bildet den Grundimpuls der gesprochenen Erinnerungen, aber nicht in der Form eines moralistischen Traktats, nicht in der Form einer politischen Systemanalyse oder als historiosophische Erörterung. Die Besonderheit dieser Erinnerungen liegt auch nicht im extremen Leiden des Berichterstatters. Wat weiß sehr wohl, daß er im Vergleich zu anderen gut davongekommen ist. Auch gibt es nicht wenige schonungslose Berichte aus der Welt des GULag - von Anton Ciliga und Alexander Weissberg-Czybulski bis zu Alexander Solschenizyn. Die Besonderheit liegt in der Wahrnehmungsweise des Augenzeugen.

Wat ist buchstäblich Anachronist, er lebt trotz seines zeitweiligen "Paktes mit der Geschichte" gegen die Zeit und gegen den mainstream. "Denn im Grunde war ich all das, was man sein mußte, nur nicht zur rechten Zeit. Ich war Politiker, als man Dichter sein mußte, und Dichter, als man Politiker sein mußte. Ich war Kommunist, als ordentliche Leute Gegner des Kommunismus waren, ich wurde zum Gegner des Kommunismus, als vernünftige Leute zum Kommunismus überwechselten. Ich war Avantgardist und Neuerer zu einem Zeitpunkt, als es vor allem in der Jugend in Polen keine Bewegung und kein Ohr für Neuerungen gab, und mehrere Jahre später, als es eine junge Generation gab, die Neuerer sein wollte, war ich Synkretist. Nie tat ich etwas zur rechten Zeit."

Dieses Aus-der-Zeit-Sein läßt Dinge sehen, für die die Menschen des mainstream blind sind. Das gibt Wat eine ungeheure Freiheit sich selbst und anderen gegenüber. Deshalb sind seine Charakterisierungen, ob es sich nun um Russen, Ukrainer, Juden oder Polen handelt, vollständig frei von Ressentiments. Er wird zum teilnehmenden Beobachter, der niemals in die Gefahr gerät, die Distanz zu verlieren. Dabei kam ihm eine geistige Konstitution zugute, die freilich nicht sein persönliches Verdienst, sondern das Resultat einer langen Bildungsgeschichte war. "Es ging vielmehr", wie Milosz zutreffend im Vorwort bemerkt, "um eine gewisse geistige Haltung, um eine bestimmte Kultur, die nur einem bestimmten geographischen Raum und einer bestimmten Gesellschaftsschicht vorbehalten war, etwas, was kein Russe, kein Franzose und kein Amerikaner teilen konnte, was nur einen polnischen, in der polnischen Kultur aufgewachsenen Intellektuellen kennzeichnete. Und Wat war nicht nur ein Intellektueller, sondern ein philosophisch gebildeter Pole jüdischer Abstammung, der deshalb eine gewisse Distanz zu den polnischen Traditionen hatte, er war ein langjähriges Mitglied des Schriftstellerverbandes und ein Dichter. Diese Kombination der Voraussetzungen machte Aleksander Wat zu einem solchen Einzelfall. Kein anderer seiner Generation konnte der Geschichte ein solches Geschenk hinterlassen. Es grenzte an ein Wunder, daß er überlebt hatte, deshalb mußte ich es als eine Ehre ansehen, bei diesen eigentümlichen Séancen als Medium zu wirken."

Von einem derart freien Geist geleitet, besichtigen wir also jenen Wirbel des zwanzigsten Jahrhunderts, der Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Wat liefert uns keine Entlarvungs- und Abrechnungsgeschichte, sondern den Versuch einer Lebensbeschreibung und Selbstinterpretation. Wenn er von den ideologisch Verführten spricht, meint er nicht immer nur die anderen, sondern auch sich selbst. Er vermittelt etwas vom Zauber der Leere und der gleichzeitigen Utopiesucht jener Jahre, von der Rolle, die politische und intellektuelle "Bruderschaften" spielten, und von der Plausibilität des Kults selbst für unabhängige, erwachsene Geister. Auch Wat wurde für einen Moment von der "Hysterie einer patriotischen, unglaublich innigen Ergriffenheit" erfaßt: "Ich muß gestehen, daß sich das damals auch mir mitteilte. Trotz meiner Feindseligkeit gegenüber dieser Welt, gegenüber Stalin. Natürlich verfiel ich nicht eine Sekunde lang dem Stalinkult. Stalin blieb für mich das, was er war. Aber Stalingrad - die Niederlage der Deutschen! Das war ein erschütternder Abend. Wir waren alle tief bewegt."

Da Wat kein naives Verhältnis zu den eigenen Erinnerungen hat und sich keine Illusionen über die Grenzen von Autobiographien macht, ist seine Arbeit der Vergegenwärtigung besonders eindrucksvoll. Wat ist ein mit dichterischer Kraft begabter genauer Beobachter; aber man könnte ihn auch einen soziologisch aufmerksamen Dichter nennen. Er ist Physiognomiker und Phänomenologe. Er erkennt den Zeitgeist an einer Geste und erfaßt Charaktere an einem beiläufig geäußerten Satz. Er nutzt die Extremsituation des Lagers, in die er ohne sein Zutun und gegen seinen Willen geraten ist, als Labor für Beobachtungen und Analysen menschlichen Verhaltens im Ausnahmezustand. Dabei vergißt er jedoch nie, daß er selber Teil der Versuchungsanordnung ist. Über seinen Aufenthalt in der Lubjanka schreibt er: "Jede Zelle hat, wie ich dir bereits erzählt habe, eine andere soziale Zusammensetzung, es sind andere Menschen, die dieses soziale Gefüge bilden, und in dieser Isolation, diesen idealen monadischen Bedingungen, ist jedes soziale Gefüge verschiedener Menschen eine neue Welt, Und es war tatsächlich eine neue Welt."

In Wats Erinnerungen finden sich Beobachtungen und Feststellungen von großer Prägnanz und Tiefenschärfe: wenn er von Rußland im Krieg als einem Land der Völkerwanderungen spricht, wenn er die High-Society der etablierten Dichter, Denker und Regisseure beschreibt. Er ist nicht politischer Analytiker, sondern Spezialist für die Analyse kultureller und lebensweltlicher Formen. So gelingen ihm im Ergebnis Formulierungen, die die flache Wahrnehmung von der Sowjetunion als einem nur politischen System über den Haufen werfen. Das Lubjanka-Gefängnis wird an einer Stelle als "Fabrik zur Vernichtung von Zeitgefühl" bezeichnet - das ist grandios und sagt etwas über Verlangsamung und Stillstellung der Geschichtszeit im Sowjetland überhaupt. Die Welt der barbarischen Grausamkeit der urki wird nicht als exotische Randerscheinung, sondern als die soziologisch signifikante "Para-Republik der Kriminellen" vorgestellt.

Wat gelingen genaue und - was das erstaunlichste ist - von Verbitterung freie Porträts: von den alten und prominenten Bolschewiki, die in den Lagern krepieren, ebenso wie von einfachen russischen Bauern, von deren Sterben wir ohne das Zeugnis Wats nichts erfahren hätten. Die ganze multikulturelle und multikonfessionelle Vielvölkerpopulation des GULag zieht an uns vorüber. Wie auch in anderen Werken der Lagerliteratur finden sich methodisch strenge Betrachtungen über die Bedeutung des Kampfes gegen die Läuseplage, über die Vermehrungsgesetze von Wanzen, über den Zustand von Latrinen, über das Essen und den Zustand der Pritschen - kurz über all jene für ein Überleben im zwanzigsten Jahrhundert so entscheidenden Aspekte.

Man erfährt auch einiges Neues - zum Beispiel über die Lemberger Deportationen 1940 - und natürlich auch Komisches und Fantastisches, was in einem so gigantischen Pandämonium nicht ausbleiben kann. Wats Wahrnehmung der Welt ist eine ästhetisch-moralische, nicht die eines Politikers oder Historikers. In dieser Wahrnehmung ist er absolut genau und seiner Sache sicher. An einer Stelle, die vom plötzlichen Grauwerden und vom Häßlichwerden Lembergs nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen handelt, heißt es bei ihm sogar: "Die erste Kategorie, in der mich der Kommunismus abstößt, das ist die Kategorie der Häßlichkeit. Nicht als ästhetische Kategorie, aber als ästhetisch-moralische Häßlichkeit, als eine Verschandelung des Charakters, der Städte, der Dinge." Es ist noch gar nicht absehbar, was eine Analyse des kulturellen Formverlusts als Schlüssel für eine Geschichte des Kommunismus hergeben würde.

Auch seine Bemerkung über die "Sozialisierung durch Desozialisierung", über die "Umschmiedung der Seelen unter Laborbedingungen" wäre folgenreich. "Auf welche Weise", so fragt er, "ließen sich in Rekordzeit die sozialen, familiären, beruflichen und nationalen Bindungen zerstören? Wie ließen sich normale, anständige, zivilisierte Menschen zu völliger moralischer Verwilderung bringen?" Natürlich geraten in den Blickkreis Wats wiederum in erster Linie Menschen seinesgleichen, Leute, mit denen er sich verständigen und austauschen konnte. Aber es sind die Aufzeichnungen von Intellektuellen und Schriftstellern wie Aleksander Wat, denen wir unser Wissen über die Welt der Lager verdanken. Sie waren es, die mit ihrem Zeugnis auch jenen Hunderttausenden von Häftlingen, die keinen Namen und kein Gesicht haben, einen Namen und ein Gesicht zurückgegeben haben. Ihre Berichte sind beglaubigt durch ihre Erfahrungen und Leiden.

Ob man einem Werk wie Wats Memoiren gerecht wird, wenn man es, wie im Nachwort geschehen, als ein fiktionales Werk textanalytisch traktiert und als Exempel für die "Konstruktion von Identität" benutzt, scheint mehr als zweifelhaft. Wats Erinnerungen wiegen ganze Bibliotheken von Sekundärliteratur auf. Mit solchen Werken kehrt das konkrete Individuum, das aus der Geschichte und aus der Geschichtsschreibung zeitweise vertrieben worden ist, wieder. Vielleicht hat das späte Erscheinen von Wats Erinnerungen in Deutschland auch sein Gutes: Die Zeit der Abrechnungen und Entlarvungen ist vorbei, und man kann endlich die Geschichten erzählen, die erst erzählt werden, wenn alle Schlachten geschlagen sind. Die Geschichte von Aleksander Wats Jahrhundert ist eine der ersten und wichtigsten.

Aleksander Wat: "Jenseits von Wahrheit und Lüge". Mein Jahrhundert. Gesprochene Erinnerungen 1926-1945. Mit einem Vorwort von Czeslaw Milosz. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Matthias Freise. Suhrkamp Verlag, Polnische Bibliothek, Frankfurt am Main 2000. 700 S., geb., 58,- DM.

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