Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • 2000.
  • Seitenzahl: 68
  • Deutsch
  • Abmessung: 12mm x 123mm x 203mm
  • Gewicht: 184g
  • ISBN-13: 9783518411681
  • ISBN-10: 3518411683
  • Artikelnr.: 08942237
Autorenporträt
Ralf Rothmann wurde 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Seit 1976 lebt Ralf Rothmann in Berlin und veröffentlichte bereits einige Romane, Erzählungen und Gedichte, für die er mit mehreren Preisen, u.a. Märkischer Kulturpreis (1986), Förderpreis des Bundesverbandes der Industrie (1989), 19. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim (1992), Literaturpreis für das Ruhrgebiet (1996), Hermann-Lenz-Preis (2001), Kranichsteiner Literaturpreis (2002), Evangelischer Buchpreis (2003), Wilhelm Raabe Literaturpreis (2004) und Heinrich-Böll-Preis (2005), Max-Frisch-Preis (2006) und dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2008) ausgezeichnet wurde. 2010 erhielt er den Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen, 2013 den Friedrich Hölderlin-Preis und im Jahr 2014 den Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2000

Wie schmerzt das Grau die Leber
Immer ein Bild voraus: Ralf Rothmanns Gedichte

"Was eine Kirche wäre, ein innerer Dom - der Priester / mit dem Taschenrechner hat es auf den Nenner gebracht." So wie dieser Vers hat moderne Poesie auszusehen: Noch immer bebt das lyrische Subjekt im Andrang seiner wahreren, tieferen, inneren Empfindungen, und schon kommt der Verräter, der Priester, daher, der sie einer technischen Prüfung unterzieht und das Gefühl zum Zahlenkunststück macht. Die Kritik an der Kälte unserer Zeit, die Erinnerung an den verlorenen Mythos einer "Kirche" und seine symbolische Verwandlung zum "inneren Dom", schließlich der souveräne Lakonismus, mit dem die Verse in den Alltagsjargon münden, weisen ihren Schöpfer als Virtuosen der modernen Poesie aus, der all seine Mittel plakativ einsetzt.

Ralf Rothmann gehört zu einer neuen Generation von Lyrikern, die die Rhetorik wiederentdeckt haben, indem sie gleichzeitig den Gestus der Kritik beibehalten, auf den das Gedicht seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verpflichtet ist. Seit den siebziger Jahren dominiert in der deutschen Lyrik die Alltagssprache, um jenes lyrische Understatement zu unterstreichen, das die Studentenbewegung von der amerikanischen Poesie übernommen hat. Die Lyriker der neunziger Jahre jedoch, Durs Grünbein etwa oder Raoul Schrott, scheuen nicht vor einem schweren, feierlichen Duktus zurück. Schon am Strophenprofil läßt sich der Unterschied der beiden nun nebeneinander hergehenden Stile - der alltagssprachliche und der erhabene - erkennen. Metaphern, Zitate, eigenwillige Wortschöpfungen, die sich auch zu hermetischen Wendungen verdichten können, erzwingen in der neuesten Lyrik eine lange Verszeile. Im Unterschied zum mageren Text der intellektuellen Kritik (schon bei Erich Fried und noch bei Hans-Ulrich Treichel) wagt diese Lyrik das volle Blatt. Auch wenn sie die Kritik nicht ganz beiseite läßt, so zielt sie doch zuallererst auf die pointierte Verwendung konventioneller Bilder.

Ralf Rothmann ist ein Meister solcher Pointen. Metaphern, Metonymien, absonderliche Illusionen, das Paradoxon vor allem, das die traditionelle Sprachgeste durch eine Tatsache negiert oder durch eine gegenteilige Behauptung durchstreicht, sind seine bevorzugten Stilmittel. In dem schmalen Bändchen wimmelt es nur so von geistreichen Widersprüchen: vom "Herbstwind im April", von Göttern, die sich die Jahrhunderte zuwerfen, vom "schmerzhaften Grau der Leber", von der "Sprache, die aus dem Zapfhahn schäumt", vom Berg, der unter der Erde wächst, vom Menschen, der sein "tiefstes Geheimnis verscherzt, als Kontoauszug in der Bibel", vom Gott, der eine "Creditcard" war, vom Gras, das "sein eigenes Zittern" frißt, vom Himmel, der Halsweh hat, von Gott, dem Herrn, der "wieder an uns glauben" müßte. Diese Geläufigkeitsüberlegungen halten die Sprache geschmeidig; ehe man ein Gedicht schreibt, sollte man sich einer solchen Sprachgymnastik unterziehen. Rothmann aber hält die Trainingsnummern, wenn sie nur gedrängt genug aufeinander folgen, selbst schon für Kunststücke. Über solche Etüden gelangt er nicht hinaus, auch wenn er seinen Esprit in noch so schwarze Melancholie taucht: "Zeit war nie golden, Hoffnung nicht blau. / Die Tauben leben von ihrem Grau."

Als raffinierter Metaphern-Techniker weiß Ralf Rothmann, daß das Dunkel sich verfinstert, wenn ein Lachen hindurchblitzt. Deshalb gehört auch das humoristische Gedicht in sein Repertoire. Die Souveränität, die - ganz Coolness - dieses gequälte Lyrikerherz den Verletzungen gegenüber wahrt, die die Welt ihm zufügen, zeigt sich im heiteren, ja sogar kabarettistischen Ton, zu dem es fähig ist, wie etwa in den kurzen Strophen von "Brutto Baby" oder "Bibelstelle, geföhnt". Hier fliegt den Leser eine Erinnerung an Tucholsky, Rühmkorf oder das französische Chanson an.

Nicht nur die sprachlichen Wendungen, auch die Stimmungen handhabt Rothmann mit Leichtigkeit und findet für jedes Thema genau den passenden Ton: Humor für allzu ernste Liebe, Zynismus für den Staat, Skepsis gegen den eigenen Schmerz. In einem Stoßgebet bittet Rothmann schließlich um Erlösung von der Routine, über die er verfügt und die ihm offenbar selbst lästig wird: "Mein ganzer Mensch, / er zeuge der Sprache das Wörtchen Ja, / damit sie nicht länger wie Kunststoff klingt."

HANNELORE SCHLAFFER

Ralf Rothmann: "Gebet in Ruinen". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 71 S., geb., 28,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In seiner Besprechung erinnert Eberhard Falcke daran, dass auch das Debüt des ansonsten als Prosaschriftsteller bekannten Autors ein Gedichtband gewesen ist ("Kratzer und andere Gedichte", 1984). Der lyrische Ton mancher seiner Erzählungen wird hier eher eingedickt zur Gewichtigem, dem "manchmal durchaus forcierten Bekenntnis zur Lebensfrömmigkeit" trotz Lebensqual, meint der Rezensent. Ein Beispiel, das Falcke zitiert, kommentiert er als "poetisches Gepolter", wenn er auch den Kunstgriff des Ausprobierens verschiedener lyrischer Ichs durchaus akzeptiert. Alles in allem hat ihn der Band jedoch wenig überzeugt, scheint ihm die "Ausflucht ins Gebet" bei dem von Sehnsucht und Zerrissenheit schreibenden Rothmann zumindest dichterisch keine Lösung.

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