In der letzten Phase seines Schaffens hat sich Michel Foucault mit Passion und Akribie dem Studium antiker Texte gewidmet und die klassischen Modelle einer lebenspraktischen "Sorge um sich" und "Ästhetik der Existenz" der historischen Vergessenheit entrissen. In den kleinen Texten und Interviews derselben Zeit, die der Auswahlband versammelt, unternimmt Foucault den riskanten und faszinierenden Versuch einer Aktualisierung dieser antiken Denkfiguren. Die alles entscheidende Frage für Foucault ist dabei: Kann es heute eine Lebensform geben, die nicht vom Wissen und von der Norm bestimmt wird, sondern die ein Experiment ist und das Leben als Kunst versteht?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.06.2007Die Leichtigkeit der Lebenskunst
Michel Foucaults Ästhetik der Existenz soll der nötige Ernst fehlen
Die späten Werke Michel Foucaults, der am 25. Juni 1984 überraschend an Aids gestorben war, irritierten in mehrfacher Hinsicht. Mehrmals hatte er betont, dass er weder fachkundiger Hellenist noch Latinist war, sich als kritischer Philosoph aber dennoch auf Texte der griechischen und römischen Antike konzentriert, die ihm zunächst nur wenig bekannt und auch in ihrer geschichtlichen Eigenart recht fremd waren. Es war zugleich eine sehr brüske Rückwendung, um das europäische Denken wieder neu von seinem griechischen Ursprung aus begreifen zu können. Dabei schien der engagierte Kämpfer gegen jede moderne Disziplinarmacht, die er noch an ihren winzigsten Spuren zu entziffern vermochte, zu einer erstaunlichen inneren Ruhe gefunden zu haben, in der die Freundschaft und eine sorgsame Beachtung des eigenen Lebens die Hauptrolle spielten. Und schließlich schien auch die große Rolle, die Foucault der Sexualität zugeschrieben hatte, programmatisch vor allem im 1976 erschienenen ersten Band seiner „Geschichte der Sexualität”, zu verblassen angesichts jener sokratischen, epikureischen und stoischen „Sorge um sich”, durch die das Subjekt seinen Seelenfrieden und seine innere Freiheit zu finden vermag.
Diese Wendungen haben bereits durch die Veröffentlichungen von Foucaults „Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits” (2001-2005) an Dramatik verloren. Die Sammlung kürzerer Arbeiten, die zwischen 1954 und 1984 entstanden sind, hat dokumentiert, dass der Erforscher der Denksysteme und Wissensmächte schon immer an der Lösung des Problems interessiert gewesen war: Wie sollen und wollen wir leben? Die Ethik der Lebensformen war von Anfang an wichtiger als die epistemologische Frage nach der Wahrheit und dem Wissen. Die Radikalität des Machtkritikers war verwurzelt in jener lebenspraktischen „Sorge um sich”, die er in seinen letzten Schriften in der antiken „techné tou biou” begründet und vorgeprägt sah. Der kulturgeschichtliche Rückgang zu dieser „Technik des Lebens” offenbarte Foucaults wesentlichen Denkimpuls und Forschungsdrang. Deshalb konnte er sogar den Sex, während er gerade an seiner mehrbändigen Geschichte der Sexualität arbeitete, als „ziemlich monoton” abwerten, sofern er nicht mit dem Problem der Selbstsorge und der Selbsttechnik zu tun hat.
Dämonie der Sexualität
Unter dem programmatischen Titel „Ästhetik der Existenz” ist nun eine konzentrierte Auswahl aus diesen Schriften Foucaults erschienen, die das Zentralmotiv seines Denkens deutlich macht. Es handelt sich um Vorworte, Interviews, Gespräche, Zeitschriftenbeiträge, Vorlesungs- und Seminarankündigen, die alle um die Idee einer Arbeit des Subjekts an sich selbst kreisen: Das Hauptwerk, für das man Sorge zu tragen habe, sei man selbst, das eigene Leben, die Existenz; und dieses Werk sei weder eine zeitlich begrenzte Vorbereitung auf das Leben, noch die Arbeit von Spezialisten. Die „techné tou biou” sei eine philosophische Haltung dem Leben gegenüber, Philosophie als Lebensform.
Dass diese Schriftenauswahl „Ästhetik der Existenz” tituliert wurde, ließe sich durch einige Bemerkungen Foucaults begründen. Im April 1983 hat er im Gespräch mit Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow selbst gefragt, ob nicht das Leben jedes Individuums ein „Kunstwerk” sein könnte. „Warum sind ein Gemälde oder ein Haus Kunstobjekte, aber nicht unser Leben?”, wobei mit „Kunst” dem lebenspraktischen Ethos ein ästhetischer Akzent verliehen worden ist. Und auch in „Der Gebrauch der Lüste”, 1984 als zweiter Band der „Geschichte der Sexualität” erschienen, deutete er an, dass man die Selbsttechniken der griechisch-römischen Kultur „Künste der Existenz” nennen und nach „gewissen ästhetischen Stilkriterien” beurteilen könnte. Foucault hat den Begriff „Ästhetik” sehr vorsichtig und zurückhaltend gebraucht. Schließlich wusste er, angeregt vor allem durch die altertumswissenschaftlichen Arbeiten seines Freundes Pierre Hadot, dass dieses Wort für uns Modernen ganz andere Vorstellungen evoziert als in der Antike. Die „kunstvolle” Sorge um sich hat viel mit dem Ethos des praktischen Handelns zu tun, nur wenig mit der Ästhetik eines künstlerischen Werks.
Wie sein fragender und behutsamer Hinweis auf das Leben als ein „Kunstwerk” missverstanden werden kann, belegt der Sammelband „Kritik der Lebenskunst”, in dem Foucault, neben Sokrates, Platon, Kant, Nietzsche und Wilhelm Schmid, eine zentrale Rolle spielt. Der Band enthält nicht nur eine historisch informative und argumentativ ausgefeilte Auseinandersetzung mit der Wiederkehr antiker Lebensphilosophie in modernem Gewand. Er enthält auch eine gelegentlich polemische Kritik an philosophisch begründeten Empfehlungen für ein gelingendes Leben, die schlechterdings vage, trivial oder affirmativ sind, bestenfalls systematisch verfälscht. Werden dabei zu den Varianten einer alltäglichen Selbsterschaffung auf dem postmodernen Jahrmarkt der Existenzmöglichkeiten vor allem die Arbeiten Wilhelm Schmids gezählt, so gilt Foucaults Existenzästhetik als fundamentales Missverständnis und hermeneutischer Irrweg: Sie sei in einer „Dämonie des Sexuellen” gefangen, ersetze Ethik durch Ästhetik, lasse sachliche Philosophie und literarischen Wortzauber verschwimmen, sei romantisch in ihrem extremen Subjektivismus, inhaltsleer in ihrer künstlerischen Formgebung und lebenspraktisch unbrauchbar in ihrer „dauersubversiven Sprachgebärde”. Ein „heroischer Individualismus” beherrsche Foucaults Lebenskunst, kritisiert Wolfgang Kersting in seiner Einleitung, deren Tenor im Epilog von Dieter Henrich ein Echo findet. Man dürfe an das Lebens selbst keinen ästhetischen Maßstab anlegen, und „Lebenskünstler” könne nur sein, wer in dem, was ihm das Leben bedeutet, „über vieles leichtfüßig hinwegtänzelnd” sei.
Professorenphilosophie
Foucault hatte die philosophische Arbeit der Selbsterkenntnis unter die Maxime der Selbstsorge gestellt. In seinem Spätwerk hatte er gegen die theoretische und abstrakte Denkweise der Professorenphilosophie an die philosophische Lebensform in der Antike erinnert. Noch immer scheint es Philosophieprofessoren schwer zu fallen, dieser kritischen Intention zu folgen. Die Spezialisten des Wissens verstehen die „Ästhetik der Existenz” als rein künstlerische Spielerei. „Der Lebenskunstlehre fehlt der nötige Ernst. Sie ist dem Leben nicht gewachsen.” Das ist ein geistreiches Bonmot. An Foucaults „Existenzkunst” zielt es jedoch völlig vorbei. MANFRED GEIER
MICHEL FOUCAULT: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 346 Seiten, 13 Euro.
WOLFGANG KERSTING und CLAUS LANGBEHN (Hrsg.): Kritik der Lebenskunst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 381 Seiten, 14 Euro.
Ist das Leben ein Kunstwerk? Diogenes von Sinope sorgt sich um sich. (nach einem Gemälde von Jean-Léon Gérôme, 1860) Foto: Interfoto
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Michel Foucaults Ästhetik der Existenz soll der nötige Ernst fehlen
Die späten Werke Michel Foucaults, der am 25. Juni 1984 überraschend an Aids gestorben war, irritierten in mehrfacher Hinsicht. Mehrmals hatte er betont, dass er weder fachkundiger Hellenist noch Latinist war, sich als kritischer Philosoph aber dennoch auf Texte der griechischen und römischen Antike konzentriert, die ihm zunächst nur wenig bekannt und auch in ihrer geschichtlichen Eigenart recht fremd waren. Es war zugleich eine sehr brüske Rückwendung, um das europäische Denken wieder neu von seinem griechischen Ursprung aus begreifen zu können. Dabei schien der engagierte Kämpfer gegen jede moderne Disziplinarmacht, die er noch an ihren winzigsten Spuren zu entziffern vermochte, zu einer erstaunlichen inneren Ruhe gefunden zu haben, in der die Freundschaft und eine sorgsame Beachtung des eigenen Lebens die Hauptrolle spielten. Und schließlich schien auch die große Rolle, die Foucault der Sexualität zugeschrieben hatte, programmatisch vor allem im 1976 erschienenen ersten Band seiner „Geschichte der Sexualität”, zu verblassen angesichts jener sokratischen, epikureischen und stoischen „Sorge um sich”, durch die das Subjekt seinen Seelenfrieden und seine innere Freiheit zu finden vermag.
Diese Wendungen haben bereits durch die Veröffentlichungen von Foucaults „Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits” (2001-2005) an Dramatik verloren. Die Sammlung kürzerer Arbeiten, die zwischen 1954 und 1984 entstanden sind, hat dokumentiert, dass der Erforscher der Denksysteme und Wissensmächte schon immer an der Lösung des Problems interessiert gewesen war: Wie sollen und wollen wir leben? Die Ethik der Lebensformen war von Anfang an wichtiger als die epistemologische Frage nach der Wahrheit und dem Wissen. Die Radikalität des Machtkritikers war verwurzelt in jener lebenspraktischen „Sorge um sich”, die er in seinen letzten Schriften in der antiken „techné tou biou” begründet und vorgeprägt sah. Der kulturgeschichtliche Rückgang zu dieser „Technik des Lebens” offenbarte Foucaults wesentlichen Denkimpuls und Forschungsdrang. Deshalb konnte er sogar den Sex, während er gerade an seiner mehrbändigen Geschichte der Sexualität arbeitete, als „ziemlich monoton” abwerten, sofern er nicht mit dem Problem der Selbstsorge und der Selbsttechnik zu tun hat.
Dämonie der Sexualität
Unter dem programmatischen Titel „Ästhetik der Existenz” ist nun eine konzentrierte Auswahl aus diesen Schriften Foucaults erschienen, die das Zentralmotiv seines Denkens deutlich macht. Es handelt sich um Vorworte, Interviews, Gespräche, Zeitschriftenbeiträge, Vorlesungs- und Seminarankündigen, die alle um die Idee einer Arbeit des Subjekts an sich selbst kreisen: Das Hauptwerk, für das man Sorge zu tragen habe, sei man selbst, das eigene Leben, die Existenz; und dieses Werk sei weder eine zeitlich begrenzte Vorbereitung auf das Leben, noch die Arbeit von Spezialisten. Die „techné tou biou” sei eine philosophische Haltung dem Leben gegenüber, Philosophie als Lebensform.
Dass diese Schriftenauswahl „Ästhetik der Existenz” tituliert wurde, ließe sich durch einige Bemerkungen Foucaults begründen. Im April 1983 hat er im Gespräch mit Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow selbst gefragt, ob nicht das Leben jedes Individuums ein „Kunstwerk” sein könnte. „Warum sind ein Gemälde oder ein Haus Kunstobjekte, aber nicht unser Leben?”, wobei mit „Kunst” dem lebenspraktischen Ethos ein ästhetischer Akzent verliehen worden ist. Und auch in „Der Gebrauch der Lüste”, 1984 als zweiter Band der „Geschichte der Sexualität” erschienen, deutete er an, dass man die Selbsttechniken der griechisch-römischen Kultur „Künste der Existenz” nennen und nach „gewissen ästhetischen Stilkriterien” beurteilen könnte. Foucault hat den Begriff „Ästhetik” sehr vorsichtig und zurückhaltend gebraucht. Schließlich wusste er, angeregt vor allem durch die altertumswissenschaftlichen Arbeiten seines Freundes Pierre Hadot, dass dieses Wort für uns Modernen ganz andere Vorstellungen evoziert als in der Antike. Die „kunstvolle” Sorge um sich hat viel mit dem Ethos des praktischen Handelns zu tun, nur wenig mit der Ästhetik eines künstlerischen Werks.
Wie sein fragender und behutsamer Hinweis auf das Leben als ein „Kunstwerk” missverstanden werden kann, belegt der Sammelband „Kritik der Lebenskunst”, in dem Foucault, neben Sokrates, Platon, Kant, Nietzsche und Wilhelm Schmid, eine zentrale Rolle spielt. Der Band enthält nicht nur eine historisch informative und argumentativ ausgefeilte Auseinandersetzung mit der Wiederkehr antiker Lebensphilosophie in modernem Gewand. Er enthält auch eine gelegentlich polemische Kritik an philosophisch begründeten Empfehlungen für ein gelingendes Leben, die schlechterdings vage, trivial oder affirmativ sind, bestenfalls systematisch verfälscht. Werden dabei zu den Varianten einer alltäglichen Selbsterschaffung auf dem postmodernen Jahrmarkt der Existenzmöglichkeiten vor allem die Arbeiten Wilhelm Schmids gezählt, so gilt Foucaults Existenzästhetik als fundamentales Missverständnis und hermeneutischer Irrweg: Sie sei in einer „Dämonie des Sexuellen” gefangen, ersetze Ethik durch Ästhetik, lasse sachliche Philosophie und literarischen Wortzauber verschwimmen, sei romantisch in ihrem extremen Subjektivismus, inhaltsleer in ihrer künstlerischen Formgebung und lebenspraktisch unbrauchbar in ihrer „dauersubversiven Sprachgebärde”. Ein „heroischer Individualismus” beherrsche Foucaults Lebenskunst, kritisiert Wolfgang Kersting in seiner Einleitung, deren Tenor im Epilog von Dieter Henrich ein Echo findet. Man dürfe an das Lebens selbst keinen ästhetischen Maßstab anlegen, und „Lebenskünstler” könne nur sein, wer in dem, was ihm das Leben bedeutet, „über vieles leichtfüßig hinwegtänzelnd” sei.
Professorenphilosophie
Foucault hatte die philosophische Arbeit der Selbsterkenntnis unter die Maxime der Selbstsorge gestellt. In seinem Spätwerk hatte er gegen die theoretische und abstrakte Denkweise der Professorenphilosophie an die philosophische Lebensform in der Antike erinnert. Noch immer scheint es Philosophieprofessoren schwer zu fallen, dieser kritischen Intention zu folgen. Die Spezialisten des Wissens verstehen die „Ästhetik der Existenz” als rein künstlerische Spielerei. „Der Lebenskunstlehre fehlt der nötige Ernst. Sie ist dem Leben nicht gewachsen.” Das ist ein geistreiches Bonmot. An Foucaults „Existenzkunst” zielt es jedoch völlig vorbei. MANFRED GEIER
MICHEL FOUCAULT: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Saar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 346 Seiten, 13 Euro.
WOLFGANG KERSTING und CLAUS LANGBEHN (Hrsg.): Kritik der Lebenskunst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 381 Seiten, 14 Euro.
Ist das Leben ein Kunstwerk? Diogenes von Sinope sorgt sich um sich. (nach einem Gemälde von Jean-Léon Gérôme, 1860) Foto: Interfoto
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine Auswahl von Schriften Michel Foucaults, unter anderm Vorworte, Interviews, Zetischriftenbeiträge, sind unter dem Titel "Ästhetik der Existenz" erschienen, der für Rezensent Manfred Geier das zentrale Motiv des Foucaultschen Denkens programmatisch deutlich macht: die Sorge um sich selbst, das eigene Leben begriffen als Hauptwerk des Lebens. Foucault selbst sprach einmal vom Leben als "Kunstwerk". Doch im Rekurs auf die griechisch-römische Kultur wird die "Ästhetik" nicht im kunstwerklichen Sinne, sondern im ethischen des praktischen Handels verstanden, so Geier. Wider die "Professorenphilosophie" strebe Michel Foucaults Spätwerk weg vom abstrakt-theoretischen Denken zur "Existenzkunst", zur philosophischen Lebensform der Antike. Welchen konkreteren Erkenntnisgewinn der Leser durch die Lektüre erhält, lässt der Rezensent allerdings offen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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