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Späte Aktualisierungen, Historisierungen und Systematisierungen verwandeln Plessners »frühe Sozialphilosophie mit liberalem Ethos« seit zehn Jahren in ein energisches Zentrum verschiedener Diskurslinien: Der Streit, ob seine Grenz-Schrift eher im Textkontinuum mit Schmitts Dezisionismus und der »kalten Verhaltenslehre« der zwanziger, dreißiger Jahre zu lesen oder als lebensphilosophische Ausdrucks-»Logik der Öffentlichkeit« zu entziffern sei, kreuzt sich mit der 68er Vergangenheitsbewältigung und der kommunitaristischen Debatte über die Grenzen der Gesellschaft. Inzwischen zieht Plessners Schrift internationale Aufmerksamkeit auf sich. …mehr

Produktbeschreibung
Späte Aktualisierungen, Historisierungen und Systematisierungen verwandeln Plessners »frühe Sozialphilosophie mit liberalem Ethos« seit zehn Jahren in ein energisches Zentrum verschiedener Diskurslinien: Der Streit, ob seine Grenz-Schrift eher im Textkontinuum mit Schmitts Dezisionismus und der »kalten Verhaltenslehre« der zwanziger, dreißiger Jahre zu lesen oder als lebensphilosophische Ausdrucks-»Logik der Öffentlichkeit« zu entziffern sei, kreuzt sich mit der 68er Vergangenheitsbewältigung und der kommunitaristischen Debatte über die Grenzen der Gesellschaft. Inzwischen zieht Plessners Schrift internationale Aufmerksamkeit auf sich.
Autorenporträt
Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte bis 2004 Neueste Deutsche Literatur an der Universität Rostock. Von 2007 bis 2016 war er Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien. Für Der Schatten des Fotografen erhielt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse. Axel Honneth, geboren 1949, ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis, 2016 für Die Idee des Sozialismus mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet. 2021 hielt er in Berlin seine vielbeachteten Benjamin-Lectures zum Thema des Buches Der arbeitende Souverän. Siegfried Kracauer, geboren am 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main, war Architekt, Soziologe, Filmkritiker und Geschichtsphilosoph. Er gilt als einer der bedeutendsten Feuilletonisten der Weimarer Republik und leitete von 1930 bis 1933 die Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung. Mit Die Angestellten veröffentlichte Kracauer 1930 die erste empirisch-soziologische Studie in Deutschland. Er wird darüber hinaus zu den Begründern der Filmsoziologe gezählt. 1933 floh Kracauer mit seiner Frau nach Paris und 1941, nach Kriegsbeginn, nach New York. Am 26. November 1966 starb er dort an einer Lungenentzündung. Zu den wichtigsten Werken Kracauers zählen neben Die Angestellten u.a. die Theorie des Films, die Essaysammlung Von Caligari zu Hitler und der Roman Ginster. Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte bis 2004 Neueste Deutsche Literatur an der Universität Rostock. Von 2007 bis 2016 war er Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien. Für Der Schatten des Fotografen erhielt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Die Hygiene des Taktes
Endlich sind Helmuth Plessners "Grenzen der Gemeinschaft" erschlossen / Von Christian Geyer

Bis in die siebziger Jahre hinein wurde das erstmals 1924 im Bonner Cohen-Verlag erschienene Büchlein als Geheimtip unter Kennern gehandelt: 1972 überraschte der Bouvier-Verlag als Nachfolger Cohens Helmuth Plessner zu dessen achtzigstem Geburtstag mit einer kleinen Neuauflage des Bandes "Grenzen der Gemeinschaft". Damals bemerkte Plessner: Er "war lange Zeit vergriffen, wird aber immer wieder verlangt. Offensichtlich ist das Büchlein immer noch oder gerade wieder aktuell." Nachdem das Buch von seiner früh einsetzenden, nachhaltigen Wirkungsgeschichte her alsbald den Rang eines soziologischen Klassikers beanspruchen konnte, hatte der entlegene Ort der Publizierung immer etwas Verwunderliches. Hatte es doch beim Erscheinen die Aufmerksamkeit von Rezensenten wie Kracauer, Tönnies und Wust gefunden, abgesehen davon, daß die Plessnerschen Theoreme eine große Bedeutung für die soziologische Rollen- und Interaktionsdebatte der sechziger Jahre gewannen. Die Parallelen zu Goffman wurden bald bemerkt.

Besser spät als nie - wie schon Anfang der neunziger Jahre die Parole lautete, unter welcher eindrucksvolle Plädoyers für die Relecture Plessners verfaßt wurden - sind die "Grenzen der Gemeinschaft" nun für ein breites Publikum bei Suhrkamp erschienen, zusammen mit einem materialreichen Band, der die Stimmen der Rezeption dokumentiert. Plessner selbst, so vermutet Joachim Fischer im Nachwort der "Grenzen"-Ausgabe, mochte sich gegen eine breitenwirksame Veröffentlichung seiner Schrift gestellt haben: Er schwankte beständig zwischen dem Vollbewußtsein eines sozialanthropologischen Treffers, den er mit ihr gelandet hatte, und der Einsicht in die Angreifbarkeit der forciert essayistischen Durchführung.

Die "Kritik des sozialen Radikalismus", wie der Untertitel schließlich hieß, war - entlang der Tönniesschen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft - der Versuch, gegenüber der fachlich wie publizistisch eingeschliffenen Präferenz der Gemeinschaft ein Gegengewicht zu setzen. Plessner begrenzt die sich in den jugendbewegten zwanziger Jahren an das Gemeinschaftsethos knüpfende Erwartung der radikalen Auflösung aller Fremdheit und legt den Akzent auf ein Gesellschaftsethos. Gesellschaft als die "kalte Form" der Geselligkeit soll die Einsicht "Der Mensch ist von Natur aus künstlich" lebbar machen. Denn es gibt eine Adäquatheit zwischen der Unergründlichkeit der "Seele" und den "künstlichen" gesellschaftlichen Formen ("Wege zur Unangreifbarkeit: Zeremoniell und Prestige", "Die Logik der Diplomatie: Die Hygiene des Taktes", "Der Kampf ums wahre Gesicht: Das Risiko der Lächerlichkeit").

Damit beschreibt Plessner, so bemerken die Herausgeber des Rezeptionsbandes, zwischen der Zone der Vertrautheitsgemeinschaft und der Zone der Sachgemeinschaft "Distanzrituale und maskierten Ausdruck als Zone der Öffentlichkeit: In ihr verschonen sich die Menschen um ihrer Würde willen durch Spielregeln voneinander." So tritt hier zwischen zeitdiagnostischer Analyse, philosophischer Begründung und essayistisch-diabolischem Tonfall seine Sozialtheorie in ihrer frühesten Form hervor. Plessners Schlüsselkategorie der "exzentrischen Positionalität" als Kennung des Menschen zeigt sich so auch genuin sozialtheoretisch konzipiert.

Als man vor zehn Jahren wieder über die "Grenzschrift" zu sprechen begann, annoncierte man sie durchaus widersprüchlich: als eine in der deutschen Geistesgeschichte eher seltene "Sozialphilosophie mit liberalem Ethos, antitotalitär und antikommunitär gesonnen"; aber auch als Ausdruck einer "theoretischen Allianz" zwischen Plessner und Carl Schmitt, zumindest entdeckte man in manchen Passagen ein Textkontinuum zwischen der "Grenzschrift" und dem "Begriff des Politischen". Daneben kam Mitte der neunziger Jahre die entschiedene Lesart des Plessner-Büchleins als Schlüsselbuch einer "Verhaltenslehre der Kälte" im neusachlichen Jahrzehnt auf, deren anthropologisches Modell des "gepanzerten Ichs" auf die politische Formation der dreißiger und vierziger Jahre vorverweise, die Plessner selbst ins Exil gezwungen habe - so die im Rezeptionsband kontrovers diskutierte These Helmut Lethens.

In der Tat wird hier, wie es zur Einführung heißt, Plessners Schrift als ein "energetischer Kreuzungspunkt verschiedener Streitlinien" sichtbar: Ob Plessner ideengeschichtlich höfische Verhaltenslehren neu codiere oder doch eher Texte des Deutschen Idealismus kritisch umbaue oder eine lebensphilosophisch fundierte Ausdrucks-"Logik der Öffentlichkeit" konzipiere - das sind einige der gründlich ausgezogenen Streitlinien, auf die es den Herausgebern ankommt. Entsprechend weisen sie auch auf die Disziplinenkonkurrenz hin, die zwischen Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft um "Grenzen der Gemeinschaft" binnen weniger Jahre entstanden ist. Daß man Plessners Kritik an der Radikalisierung einer schrankenlosen Authentizität bruchlos vom Gemeinschafts-Paradigma der zwanziger Jahre auf das Individualisierungs-Paradigma der achtziger und neunziger Jahre übertragen könnte, ist eine reizvolle und soziologisch zentrale, jedenfalls gewiß nicht unfruchtbare Überlegung, die in dem Rezeptionsband unter der Fülle der sonst gebotenen Aspekte aber leider untergeht.

In den "Stufen des Organischen und der Mensch" von 1928 betont Plessner, wie Joachim Fischer unterstreicht, gegenüber der durchaus zeitkritischen Tendenz den systematischen Gehalt seiner Argumentation im "Grenzbuch", das "die Öffentlichkeit als Realisierungsmodus des Menschen nachweisen will". Die Problematik von "Grenzen der Gemeinschaft" wird dann 1931 wieder von Plessners Schrift "Macht und menschliche Natur" aufgenommen und unter der Kategorie der "exzentrischen Positionalität" im Hinblick auf das Phänomen des "Politischen" als originär menschliche Dimension beschrieben. Die eigentliche Wirkungsgeschichte des Buches setzt freilich erst nach 1945 ein. Wie Fischer zeigt, war die "Grenzschrift" die Bedingung dafür, daß Plessner vom Groninger Lehrstuhl für Philosophie auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Göttingen berufen werden konnte und damit zugleich den jugendbewegten Mitbewerber Hans Freyer aus dem Felde schlug, dessen Schrifttum eher die Grenzen der Gesellschaft als die der Gemeinschaft aufgezeigt hatte.

Im Zuge von Dahrendorfs Rezeption des Rollenbegriffs aus der amerikanischen Soziologie gewinnen die Theoreme aus "Grenzen der Gemeinschaft" recht eigentlich ihre Durchschlagskraft. Im Jahre 1960 bringt Plessner mit zwei Vorträgen über "Soziale Rolle und menschliche Natur" und "Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung" zur Geltung, was er bereits 1924 angelegt hatte: daß die Rollenkategorie nicht bloß ein methodisches Konstrukt (homo sociologicus) ist, sondern selbst eine anthropologische Struktur aufweist. Was die Rolle dem Menschen gewährt, "nämlich eine Privatexistenz zu haben, eine Intimsphäre für sich, hebt nicht nur nicht sein Selbst auf, sondern schafft es ihm. Nur an dem anderen seiner selbst hat er - sich." So ist das beziehungsreiche, sich im Laufe seiner langen Rezeptionsgeschichte nie in den Mittelpunkt drängende Bändchen "Grenzen der Gemeinschaft" am Ende auch dies: eine starke Verteidigung der Anthropologie gegen die Gebildeten ihrer Verächter.

Helmuth Plessner: "Grenzen der Gemeinschaft". Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Mit einem Nachwort von Joachim Fischer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 145 S., br., 8,50 .

"Plessners ,Grenzen der Gemeinschaft'". Eine Debatte. Herausgegeben von Wolfgang Eßbach, Joachim Fischer und Helmut Lethen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 372 S., br., 13,- .

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Helmuth Plessners 1924 polemischer Essay "Grenzen der Gemeinschaft" wurde bei seiner Erstveröffentlichung kontrovers diskutiert, geriet aber bald in Vergessenheit. Erst in den achtziger Jahren begann eine Wiederentdeckung, die mit dem Buch "Verhaltenslehren der Kälte" des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen ihren Höhepunkt erreichte. Lethen hatte Plessner darin zum Kronzeugen einer neuen theoretischen und ethischen Sachlichkeit in den zwanziger Jahren gemacht - und die Rezeption von Plessners Buch hat sich davon, wie Ulrich Raulff (der Lethens Buch dennoch ausdrücklich lobt) meint, "bis heute nicht erholt". Ein entscheidendes Versäumnis kennzeichnet auch diesen Diskussionsband, findet der Rezensent: der frühe Text werde nicht in den Kontext des nur scheinbar ganz anderen Buches "Die verspätete Nation" gerückt, in den er gehört. Beides, so Raulff, sind zwei Seiten derselben Medaille: eine "Kritik der Deutschen Ideologie".

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