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Produktdetails
  • edition suhrkamp 2202
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 271
  • Deutsch
  • Abmessung: 16mm x 108mm x 176mm
  • Gewicht: 162g
  • ISBN-13: 9783518122020
  • ISBN-10: 3518122029
  • Artikelnr.: 08941138
Autorenporträt
Florian Rötzer, geboren 1953, ist Journalist. Er studierte Philosophie in München und ist seit 1996 Chefredakteur des Online-Magazins "Telepolis".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2001

Wir haben sie so gehypt, die Revolution
Schmal ist der Grat zwischen Träumerei und These: Ein Sammelband von Rudolf Maresch und Florian Rötzer prüft Cybermythen

Der Kommunismus kehrt zurück - im Internet: Nicht die Revolution gebiert die klassenlose Gesellschaft, sondern die Download-Taste, mit der die unzähligen Gratisprodukte des digitalen Netzes millionenfach heruntergeladen werden. Daß sie nichts kosten, darin liegt die subversive Kraft, die die herrschenden Verhältnisse sprengen und den kapitalistischen Warenverkehr in eine Geschenkökonomie transformieren wird, in der jeder nach seinen Bedürfnissen gibt und nimmt. Dieser marxistische Theorie-Update, den Richard Barbrook vom Hypermedia Research Center an der Londoner Universität von Westminster liefert, ist ein denkwürdiger Beitrag in einem Sammelband, der unter dem Titel "Cyberhypes" die Möglichkeiten und Grenzen des Internet ausloten will.

Das Netz war von Anfang an der Nährboden für "Cyberhype", ein utopisches Panorama, das vom ewigen Weltfrieden dank Mausklickdemokratie bis zur Machtübernahme durch "transhumane" Intelligenzen reicht. Eine spezielle Form des Hype sieht Barbrook in der "kalifornischen Ideologie", mit der die lockeren Silicon-Valley-Millionäre ihr beinhartes Profitstreben verbrämen: eine Mischung aus anarchistischer Attitüde und Hippie-Hedonismus, Techno-Enthusiasmus und Selbstverwirklichungsrhetorik, zusammengehalten durch das Ferment eines kompromißlosen Wirtschaftsliberalismus.

Diese Cyber-Avantgarde, die den eigenen Profit zur Vorstufe eines weltumspannenden Internet-Paradieses verklärt, handelt für Barbrook nicht anders als die einstige Nomenklatur der realsozialistischen Diktaturen. Und wie die grauen Apparatschicks sind auch die schicken "Digerati" dazu verurteilt, von einer Dynamik hinweggefegt zu werden, die sie selbst entfesselt haben. Nun verkennt auch Barbrook nicht, daß die rasante Kommerzialisierung des Netzes in die entgegengesetzte Richtung zu deuten scheint, doch im dialektischen Szenario ist das nur der letzte Akt der Marktwirtschaft, der die Bühne für den Cyberkommunismus bereitet: Immer mehr Internet-Firmen sehen sich gezwungen, Programme und Netz-Anschlüsse zu verschenken, um Kundschaft heranzuziehen. Sie spekulieren auf spätere Gewinne durch Zusatzkomponenten, Dienstleistungen und kostenpflichtige Inhalte. Doch statt in die Gewinnzone zu fahren, so Barbrooks Prophezeiung, schlittern die Profiteure in den Cyberkommunismus.

Schmal ist der Grat zwischen Hype und Hypothese - das zeigt auch der Echtzeit-Marxismus, dem nicht nur die ökonomischen Verhältnisse jenseits der "virtual reality" völlig aus dem Blick geraten, sondern der zudem übersieht, daß auch im Internet eine Gabenökonomie nur dort funktioniert, wo die Produzenten des geistigen Eigentums ihren Lebensunterhalt nicht aus dessen Verkauf beziehen. Es ist kein Zufall, daß Barbrook als Modell die nicht-kommerzielle Welt der Wissenschaftler heranzieht: Deren geistiges Lebenselixier sind Veröffentlichung, Austausch und Diskussion - aber das Gehalt überweist die Uni. Wer jedoch von der Vermarktung seiner geistigen Erzeugnisse leben muß - ob Komponisten oder Schriftsteller, Spieleerfinder oder Softwareentwickler -, kann sie um den Preis der eigenen Existenz nicht verschenken.

Andere Autoren sehen die Zukunft des Netzes nüchterner. Douglas Rushkoff zeigt, wie es vom Instrument echter Interaktivität immer stärker zum Massenmedium für die Verteilung von Informationen, Dienstleistungen und Waren geworden ist. Ein Markstein auf dem Weg von der Kommunikation zur Distribution war das World Wide Web, das viele Nutzer mit dem Internet schlechthin gleichsetzen. Dieses grafische Navigationssystem verdrängte zusammen mit immer komplexeren Surf-Programmen die transparenten Programm-Werkzeuge der Anfangszeit. An die Stelle von Gedankenaustausch und Kooperation ist der Konsum bunter Websites getreten, zunehmend flankiert von Techniken, die den Internet-Bürger als Kunden definieren und ausspähen.

Auch die Euphorie libertärer Netzphilosophen, die die baldige Auflösung des Nationalstaates in einer globalen Online-Demokratie feiern, erweist sich bei genauerem Hinsehen als verfrüht. Die Befunde von Florian Rötzer und Ivo Skoric vermitteln den Eindruck, daß die Schnelligkeit und Universalität des Internet die Nationalisierung und Ethnisierung der Weltpolitik eher befördert als konterkariert. Dafür sprechen Haß-Seiten und elektronische Stellvertreterkriege ebenso wie Versuche, durch nationale Gesetze, Filter und Blockaden das Territorialprinzip in einem Medium durchzusetzen, das seine Faszination immer aus der Grenzenlosigkeit bezog.

Das utopische Potential, welches der Cyberspace für viele Theoretiker nach wie vor birgt, beruht auf der Idee vom Netz als einem sich selbst organisierenden System, als dem Modell einer funktionierenden Anarchie. Doch in Wahrheit vollzog sich die Evolution des Netzes zwar ungesteuert, aber über ihr lag von Anfang an der Schatten des Leviathan. Das Militär der Vereinigten Staaten schuf in den sechziger Jahren die Grundlagen der Computervernetzung, weil es eine Kommunikationstechnik wünschte, die auch nach einem atomaren Schlag noch funktionieren sollte. Der 1998 von der amerikanischen Regierung verkündete Verzicht auf jede Internet-Kontrolle deutet für den Politologen Christian Ahlert darauf hin, daß die völlige Staatsferne immer schon mehr Legende als Wirklichkeit war.

Auch jetzt verhält sich die amerikanische Regierung durchaus nicht passiv: Sie agiert aus dem Hintergrund heraus als Initiator und Mediator, um die Interessen der Internet-Gemeinde und der Computerindustrie im Sinne neoliberaler Grundsätze zu koordinieren. Das Instrument dieser indirekten Einflußnahme ist die global operierende, aber in Amerika registrierte ICANN (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers), deren Aufgabe die Vergabe von Domain-Namen und die Regelung technischer Standards ist. Die Direktoren der ICANN wurden weltweit per Internet gewählt, in einem mühseligen, von technischen Pannen begleiteten Verfahren, an dem sich nur eine kleine Minderheit der Internet-Nutzer beteiligte. Trotzdem verbürgt die Wahl in den Augen der Wähler die Legitimität der Organisation, ein Vertrauen, das auch durch die engen Verbindungen zwischen ICANN und amerikanischen Regierungsstellen bislang nicht erschüttert wurde.

Hier könnte sich eine Zukunft abzeichnen, die die These vom unregierbaren und deshalb herrschaftsfreien Internet zum Mythos stempelt. Nicht eine digitale Graswurzel-Demokratie, sondern ein repräsentativer Global-Parlamentarismus mit gewählten Gremien dürfte künftig die Geschicke der "virtual community" bestimmen - dezent orchestriert von den Interessen der Supermacht.

WOLFGANG KRISCHKE

Rudolf Maresch, Florian Rötzer (Hrsg.): "Cyberhypes". Möglichkeiten und Grenzen des Internet. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 271 S., br., 21,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Verblasste Mythen" könnte das Motto dieser Veröffentlichung sein, die Wolfgang Krischke gelesen hat: Der schöne Schein des Internets ist einer mitunter ernüchternden Realität gewichen, meint der Rezensent. Dies belegen für ihn auch einige "denkwürdige Beiträge", die er in diesem Band gefunden hat. Feststellungen wie die folgenden würden dort getroffen: Anstelle der "globalen Online-Demokratie" werde durch das Internet die Nationalisierung und Ethnisierung der Politik gefördert; anstelle mit dem "www" Geld zu verdienen, müssten Internet-Firmen großzügige Angebote verschenken, um überhaupt an Kundschaft heranzukommen. Auch der Mythos der "Grenzenlosigkeit" des Mediums werde beleuchtet: Das Internet sei noch nie staatsfern gewesen, die amerikanische Regierung greife selbst heute noch koordinierend ein, schreibt Krischke. Auch wenn der Rezensent keine abschließende Bewertung äußert, weisen die vielen aufgezählten Fakten und interessanten Überlegungen darauf hin, dass Krischke das Buch durchaus anregend fand.

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