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Wie haben sich deutsche Historiker nach 1945 mit ihrer unmittelbaren Gegenwart und deren Vorgeschichte auseinandergesetzt? Ein brisantes und stark diskutiertes Thema. Dem Autor geht es nicht darum, die politische Vergangenheit von Historikern im "Dritten Reich" aufzudecken. Er will herausfinden, inwieweit die führenden bundesdeutschen Vertreter einer Strukturgeschichte nach 1945 bereit waren, ihr Geschichtsbild und ihr Geschichtsdenken einer Revision zu unterziehen.

Produktbeschreibung
Wie haben sich deutsche Historiker nach 1945 mit ihrer unmittelbaren Gegenwart und deren Vorgeschichte auseinandergesetzt? Ein brisantes und stark diskutiertes Thema. Dem Autor geht es nicht darum, die politische Vergangenheit von Historikern im "Dritten Reich" aufzudecken. Er will herausfinden, inwieweit die führenden bundesdeutschen Vertreter einer Strukturgeschichte nach 1945 bereit waren, ihr Geschichtsbild und ihr Geschichtsdenken einer Revision zu unterziehen.
Autorenporträt
Lutz Raphael ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier.
Anselm Doering-Manteuffel ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte der Universität Tübingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2001

Jung geübt, alt verlernt
Wie konservativ blieben Werner Conze und Theodor Schieder?

Seit dem Frankfurter Historikertag von 1998 hat die Diskussion um das Engagement bekannter bundesdeutscher Historiker im Nationalsozialismus eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Zunftintern hat damit eine kritische Analyse eingesetzt, die andere Humanwissenschaften schon vor vielen Jahren eingeleitet hatten. Die Aufmerksamkeit richtet sich jetzt auf Fachdisziplinen wie die ominöse "Ostforschung" oder die Landesgeschichte; vor allem aber sind außer Galionsfiguren der Mediävistik wie Otto Brunner und Hermann Heimpel führende Neuzeithistoriker wie Theodor Schieder und Werner Conze in den Mittelpunkt gerückt: bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein als praktizierende Historiker und Schulhäupter, als Vorsitzende des Deutschen Historikerverbandes und Meister der organisatorischen Netzwerke unstreitig von großem Einfluß.

Diese beiden profilierten Neuzeithistoriker stehen auch im Zentrum der Untersuchung des jungen koreanischen Gelehrten Jin-Sung Chun, der ihre methodische Leistung in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach 1945, die "Strukturgeschichte", im Spannungsfeld von anhaltender Modernitätskritik und trotzdem modernitätsoffener wissenschaftlicher Innovation lokalisiert. Schieder und Conze seien, das ist der Ausgangspunkt, durch den dezidiert nationalistischen, elitären, mit einem autoritären System liebäugelnden Jungkonservativismus in der Endphase der Weimarer Republik geprägt worden. Diese Denkströmung habe auch ihre frühen wissenschaftlichen Projekte inspiriert, zumal die Anregungen ihrer erklärten Vorbilder, des Historikers Hans Rothfels und des Leipziger Soziologen Hans Freyer, einer Leitfigur der "konservativen Revolution", sie in dieselbe Richtung gewiesen hätten. Aus dieser Fusion von politischen und wissenschaftlichen Einflüssen erkläre sich die tiefe Modernitätsskepsis dieser jungkonservativen Historiker, die bei Conze zu einer von dem Freyer-Schüler Gunther Ipsen genährten industriefeindlichen Verklärung bäuerlichen Lebens, aber auch zu einer von Schieder geteilten zeitgeistkonformen Aufwertung des "deutschen Volkstums" in einer Epoche verstörenden Staatszerfalls geführt habe.

Flugs springt dann der Verfasser in die Zeit nach 1945. Der angeblich fortlebende Jungkonservativismus wird von ihm in die unmittelbare Nachbarschaft zum westdeutschen Nachkriegskonservativismus gerückt, manchmal geradezu mit ihm identifiziert. Während ihres Aufstiegs zu führenden Historikern der Bundesrepublik hätten sich die Schieder, Conze et alii erneut von Freyer inspirieren lassen, denn auf der Linie seiner "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" (1955) seien sie imstande gewesen, ihre im Kern aufrechterhaltene Modernitätskritik in ein ambivalentes Verhältnis zu maßgeblichen Modernisierungsprozessen zu verwandeln, das insbesondere die Bejahung des Trends zur demokratisch und liberal verfaßten "Industriegesellschaft" impliziert habe. Methodisch hätten sie daher dem noch weithin vorherrschenden Individualitätsprimat ihre Einsicht in die Macht gesellschaftlicher Prozesse, politischer Organisationen, bürokratischer Institutionen, kurz: der "Strukturen", entgegengesetzt - und mit dieser realistischen Wende, der Verfasser nennt sie sogar eine "wissenschaftliche Innovation", erstaunlich schnell reüssiert.

Bonn war doch Weimar

Vielerorts argumentiert Jin-Sung Chun mit eindrucksvoller Sachkenntnis. Man lernt eine Menge über bisher oft nur vermutete Verbindungslinien zwischen Weimar und Bonn (zum Beispiel via Freyer). Auch ist es aller Anerkennung wert, daß ein koreanischer Wissenschaftler sich so intensiv in die deutsche Theoriediskussion und ihre bisweilen bizarre Sprache vertieft hat. Warum hat aber bloß kein Betreuer, kein Herausgeber der Reihe, in der das Buch erschienen ist, kein Lektor die zahlreichen grammatikalischen und syntaktischen Fehler korrigiert?

Wer anfangs gehofft hatte, die derzeitige Diskussion könne durch eine solche Monographie zu einem unstreitig lohnenden Thema nur gefördert werden, wird mit einer solchen Vielfalt methodischer Schwächen und schiefer Urteile konfrontiert, daß der Wert der Studie erheblich gemindert wird. Der Jungkonservativismus wird ganz ungenügend, auch viel zu unkritisch charakterisiert. Die erdrückende Mehrheit seiner Anhänger stammte aus dem protestantischen Bildungsbürgertum mit seinem aristokratischen Sonderbewußtsein und war dann in den "bündischen" Jugendverbänden auf eine elitäre Zukunftsgestaltung, auch auf charismatische Führerfiguren eingestimmt worden. Sie verweigerte in den zwanziger und dreißiger Jahren die Anerkennung des Friedens und setzte mit scharf antiwestlicher Gesinnung auf den nationalen Wiederaufstieg durch Volkstumspolitik. Während der wissenschaftlichen Ausbildung hat sie das bereits um 1900 erreichte Reflexionsniveau einer skeptischen Bejahung der Moderne, wie sie von Max Weber und Ernst Troeltsch, Werner Sombart und Georg Jellinek verfochten worden war, radikal negiert. Ihre völkischen Ideen öffneten ein Einfallstor für den Nationalsozialismus.

Die kleine politische Generationskohorte der jungkonservativen Historiker wird nirgendwo präzise bestimmt, der Schlüsselbegriff im Text ständig aufgeweicht. Denn wenn der Verfasser bei ihren Repräsentanten nach 1945 nicht die vermuteten Argumente findet, sucht er anderswo passende Stimmen. So werden etwa die Göttinger "Platzhirsche" Hermann Heimpel, Alfred Heuß, Reinhard Wittram ausgiebig bemüht; denkbar zweitrangige Figuren wie Wilhelm Treue und Ludwig Beutin tauchen sogar häufiger auf; ausgerechnet der altliberale Katholik Franz Schnabel wird auch noch hinzugeschlagen. Mit dem Jungkonservativismus und den methodischen Mutationen von Schieder und Conze hatten sie allesamt ganz und gar nichts zu tun.

Das ist ärgerlich genug, doch die eigentlich fatale methodische Schwachstelle des Buches markieren zwei Fehlentscheidungen des Verfassers: zum einen seine "wissenschaftsimmanente Sicht der Historiographiegeschichte", zum anderen seine von allen realhistorischen Zusammenhängen abgekoppelte Schwundform der Diskursanalyse. Man kann nicht die Kontextabhängigkeit des historischen Denkens anerkennen, dann aber darauf verzichten, die Auswirkungen des "Dritten Reiches" einschließlich seines Vernichtungskriegs und Genozids auf das Nachkriegsdenken auch der Ex-Jungkonservativen einzubeziehen. Sonst bewegen sich die Gedanken auf einer Geisterbahn, die gegen jeden Einfluß der Außenwelt immunisiert ist.

Bielefeld ist nicht Königsberg

Dieser Eindruck wird auch noch dadurch verstärkt, daß mit Freyer und Rothfels die vertrauten Inspiratoren unentwegt weiterwirken. Auf diese Weise kommt eine blutleere Geistesgeschichte alten Stils zustande, die den behandelten Historikern nicht einmal die Chance eröffnet, auf die tiefsten Erschütterungen der deutschen Geschichte zu reagieren. In majestätischer Höhe ziehen die Gedanken ihren einsamen Weg und bleiben über vier Jahrzehnte hinweg wesentlich dieselben. Das alles wird als Diskursanalyse ausgegeben, obwohl doch einer ihrer großen Initiatoren, Michel Foucault, energisch darauf bestanden hat, den Diskurs in die historische Konstellation sorgfältig einzubetten, die sozialstrukturelle Verankerung der Teilnehmer zu berücksichtigen, die Homogenität ihrer Sprachwelt, aber auch den Wechsel der Topoi zu berücksichtigen.

Voller Kontinuitätsgläubigkeit vermag der Verfasser nicht zu erklären, warum Conze, der zunächst "liberalistisch" als brutal-verächtliches Schimpfwort gebrauchte und 1943 in den Folgen der liberalen Agrarreform nach 1800 eine Zersetzung der gewachsenen "Volksordnung" erblickte, von den fünfziger Jahren an die vorausschauende Klugheit, mit der die staatliche Initiative eine lebensfähige ländliche Eigentümergesellschaft geschaffen hatte, anerkennen konnte. Oder warum Schieder seine Aversion gegenüber dem Liberalismus und Parteienbetrieb zugunsten einer eindringlichen Würdigung beider Phänomene aufgegeben hat. Alles nur beflissener Opportunismus? Oder nicht doch bei beiden Männern ein reflexiver Lernprozeß, der die zwölf braunen Jahre, in denen auch die Zielvorstellungen ihrer jungen Jahre so schmählich gescheitert waren, zu verarbeiten suchte?

Obwohl die bravouröse Sprachanalyse des Werkes von Otto Brunner durch den israelischen Historiker Gadi Algazi zur Nachahmung auffordert, hat Jin-Sung Chun merkwürdigerweise auf die Würdigung dieses Aufsatzes wie überhaupt der Forschungen der letzten drei Jahre verzichtet. Auf diese Weise aber hätte er präzise herausfinden können, wo ungeachtet aller Sprachkosmetik einige Kontinuitätslinien nach 1945 weiterlaufen (und die These von der Lernfähigkeit in Frage stellen, sie zumindest relativieren können) oder wo Diskontinuität glaubwürdig vorherrscht.

Verzichtet hat er auch auf eine zweite Kontrollmöglichkeit: auf die Überprüfung der konkreten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten seiner Hauptfiguren unter dem Gesichtspunkt, ob das eigene Postulat der "Strukturgeschichte" ernst genommen und praktiziert oder eher appellativ verwendet worden ist. Nach meinem Eindruck sind die theoretisch-methodischen Forderungen durchaus in der historiographischen Praxis berücksichtigt worden. Das nachzuweisen - oder zu bestreiten - hätte eigentlich reizvoll sein müssen, sich aber wieder von der puren Rekonstruktion ideeller Verbindungen weit entfernt.

Der Strukturbegriff war alles andere als neu. Gustav Schmoller, Max Weber, Werner Sombart haben mit ihm gearbeitet, Otto Hintzes brillante verfassungsgeschichtliche Arbeiten sind ohne ihn undenkbar. Hatten die Jungkonservativen aber die schon um 1900 gewonnene Einsicht in die strukturbestimmenden Dimensionen des historischen Prozesses nicht vor 1945 gerade vehement geleugnet?

Was erklärt die Erfolgskarriere der "Strukturgeschichte"? Sie beruhte zum großen Teil darauf, daß in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft die Einsicht unterschwellig bereits weit verbreitet war, man habe selber in den Jahrzehnten zwischen 1930 und 1950 die gewaltige Macht anonymer Prozesse und Organisationen, den verselbständigten Einfluß übermächtiger "Strukturen" erfahren. Insofern erwies sich der Ruf nach Strukturgeschichte als eine konsensfähige, da auf den eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen beruhende Parole.

Das erklärt die eigentümlich einspruchslose Akzeptanz, die das neue Schlagwort zeitweilig fast überall fand. Leider geht der Verfasser der Frage nicht nach, ob in der Strukturgeschichte der fünfziger Jahre nicht doch ältere Strukturannahmen der erst jungkonservativen, dann aber nationalsozialistischen "Volksgeschichte" fortlebten. Und er stellt sich auch nicht der Frage, warum das konjunkturelle Interesse an der Strukturgeschichte - letztlich eine leere Begriffshülse - so schnell erlosch, als die emphatisch aufgewertete und fraglos mit zahlreichen strukturgeschichtlichen Annahmen operierende "Sozialgeschichte" (auch bei Brunner, Conze, Schieder) an ihre Stelle trat. Daß diese neue Sozialgeschichte im wesentlichen nicht aus dem Umfeld der "Volksgeschichte" stammte, sondern von Weber, Marx, Hintze und Hans Rosenberg inspiriert wurde, liegt für jeden Sachkundigen auf der Hand, bleibt aber vorerst noch ein Gegenstand der eingangs erwähnten Debatte.

HANS-ULRICH WEHLER

Jin-Sung Chun: "Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit". Die westdeutsche "Strukturgeschichte" im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962. R. Oldenbourg Verlag, München 2000. 277 S., geb., 128,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Viel Kritisches hat Hans-Ulrich Wehler zu dem Buch von Jin-Sung Chun zu bemerken. Im Mittelpunkt steht die Rolle einiger bekannter Neuzeithistoriker der Bundesrepublik, wie Theodor Schieder und Werner Conze. Ausgehend von der Überlegung, dass die Strukturgeschichte einerseits Ausdruck von Individualitäts- und Modernitätskritik ist, und andererseits aber Zeichen von Innovation in den fünfziger Jahren, scheint Wehler schon die These, dass der Jungkonservatismus am Ende der Weimarer Republik ohne weiteres in die Nachbarschaft bis hin zur Identifikation mit dem Nachkriegskonservatismus gerückt wird, problematisch, davon abgesehen, dass ihm der Jungkonservatismus ungenügend charakterisiert scheint. Ein weiterer methodischer Fehler ist für Wehler etwa der Widerspruch zwischen der Betonung der Kontextabhängigkeit historischen Denkens bei gleichzeitiger Ausblendung der Auswirkungen des "Dritten Reichs" auf die Nachkriegskonservativen. Auch der Verweis auf Foucaults Diskursanalyse scheine in diesem Zusammenhang verfehlt. Wehler vermisst auch die zureichende Kenntnisnahme der Forschungsliteratur der letzten Jahre. Weiterhin hätte er sich eine weitere Kontrollmöglichkeit gewünscht, nämlich ob die Strukturgeschichte tatsächlich ernstzunehmend praktiziert und nicht bloß als appellativ verwendet wurde. Außerdem scheint Wehler der Strukturbegriff nicht neu und bereits etwa bei Weber oder Sombart zu finden. Zum Schluss bedauert der Rezensent, dass Jin-Sung nicht der Frage nachgeht, ob in der Strukturgeschichte der fünfziger Jahre nicht die Strukturbegriffe der jungkonservativen und dann nationalsozialistische "Volksgeschichte" aufgegangen sind. Dieses Problem sei jedoch Gegenstand der Debatte des Frankfurter Historikertages von 1998 gewesen.

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