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Im 20. Jahrhundert unterstützten zahlreiche Intellektuelle totalitäre Regime. Wie aber konnten Schriftsteller und Philosophen die Hitlers und Stalins fördern und menschliches Leid billigen?
Mark Lillas Fallanalysen von Heidegger, Foucault, Derrida u.a. gehen der Frage nach, wie große Denker zu Philotyrannen werden und finden die Ursache in einer allzumenschlichen Passion: der Faszination der Stärke.

Produktbeschreibung
Im 20. Jahrhundert unterstützten zahlreiche Intellektuelle totalitäre Regime. Wie aber konnten Schriftsteller und Philosophen die Hitlers und Stalins fördern und menschliches Leid billigen?

Mark Lillas Fallanalysen von Heidegger, Foucault, Derrida u.a. gehen der Frage nach, wie große Denker zu Philotyrannen werden und finden die Ursache in einer allzumenschlichen Passion: der Faszination der Stärke.
Autorenporträt
Lilla, Mark
Mark Lilla, geb. 1956, lehrt als Professor für Geisteswissenschaften an der New Yorker Columbia University. Schwerpunkt seiner Schriften und Vortragsreisen durch die ganze Welt ist die politische und religiöse Ideengeschichte des Westens.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2015

Demokratie ist halt ziemlich banal
Auf Platons Spuren: Mark Lilla sucht einen gemeinsamen Nenner für die politische Verführbarkeit von Intellektuellen

Die amerikanische Originalausgabe des Buches, "The Reckless Mind - Intellectuals in Politics" erschien am 9. September 2001, zwei Tage vor den Al-Qaida-Attentaten in New York und Washington. Die Sammlung von Aufsätzen über Martin Heidegger, Hannah Arendt, Karl Jaspers, Carl Schmitt, Walter Benjamin, Alexandre Kojève, Michel Foucault und Jacques Derrida wirkte damals wenig aktuell, ja fast deplaziert. Was hatten deutsche und französische Philosophen, die sich im 20. Jahrhundert durch politisierende Engagements blamiert hatten, zum Verständnis des politischen Islam beizutragen, dessen radikalste Form, von Osama Bin Laden angeführt, die Debatten der politischen Analytiker und Ideologiekritiker beherrschte? Und was, bitte, rechtfertigt eine deutsche Übersetzung dieses Buches vierzehn Jahre später?

Es ist die unaufgeregte, klug analysierende Art und Weise, mit der Mark Lilla, Professor für Ideengeschichte an der New Yorker Columbia-Universität, europäische Meisterdenker porträtiert, ohne deren politische Trugschlüsse zu beschönigen. Seine "amerikanische" Perspektive erlaubt es ihm, ohne Polemik, ohne Ächtung auszukommen und dem Leser eine möglichst unverzerrte Darstellung der ausgewählten Autoren zu bieten. Man hat es mit einer Sicht "von außen" auf die europäischen Weltanschauungskämpfe zu tun. Nicht Aktualität, sondern eine neue, nichteuropäische Sicht, wenn man so will, regt die Lektüre an und rechtfertigt eine deutsche Übersetzung.

Natürlich hat der deutsche Verlag den Autor gebeten, in einem Vorwort auf die Intention seiner Denker-Porträts einzugehen. Lilla entspricht dem Wunsch mit einer kurzen zeitdiagnostischen Skizze. Danach sammeln sich Menschen, die ansonsten wenig gemein haben, unter dem Banner der libertären Weltanschauung: "Anarchisten in Europa und Lateinamerika, Befürworter eines minimalen Staates in den Vereinigten Staaten, die Propheten der Demokratisierung, die Kreuzritter der Menschenrechte, die evangelikalen Wirtschaftswachstumsprediger und Hacker aus aller Welt. Unser Zeitalter ist kampflos libertär geworden." Dem gegenüber wird die muslimische Welt, so Lilla, von fundamentalistischen Islamisten heimgesucht. Und nicht nur junge Muslime, sondern auch junge Europäer und Nordamerikaner, haben eine Ideologie entdeckt, "die ihr Leid in den Kontext eines messianischen historischen Narrativs einband, das mit einer glorreichen Vergangenheit einsetzte, ihnen die bedrückende Gegenwart erklärte und eine persönliche und politische Erlösung versprach".

Der Individualismus der Libertären erzeuge als Gegenpart ein ideologisch inspiriertes politisches Abenteurertum - mit dieser Beobachtung findet Lilla den Anschluss zu den von ihm porträtierten Meisterdenkern. Den der libertären Mentalität Verfallenen rät er, sich mal wieder mit dem politischen Abenteurertum oder Extremismus der halbvergessenen europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zu befassen, um die Attraktion islamischer Radikaler zu verstehen. An die Leser gewandt, meint der Autor, "wir haben es aufgegeben, der Geschichte einen Sinn abgewinnen zu wollen, und konzentrieren uns stattdessen ausschließlich auf uns selbst und unsere Rechte (niemals unsere Pflichten)".

Die Verve des Vorworts wird in den folgenden Porträts nicht fortgesetzt, vielmehr wird man auf einen Zusammenhang verwiesen. Ob Martin Heideggers nationalsozialistischer Einsatz, Alexandre Kojèves hegelianische Lust an der Errichtung eines endgültigen "Systems" aus den europäischen Institutionen, oder Michel Foucaults Aufsehen erregende Intervention für die islamische Revolution Khomenis, hinter allem, so scheint es Lilla, steckt ein altes Problem, eines, das schon Platon peinigte. In der Kurzform lautete dessen berühmter "Philosophenkönige-Satz": Solange in der Polis Macht und Philosophie nicht in einer Person zusammenfallen, gibt es keine Erlösung von den Übeln der Poleis. In seinem Dialog "Politeia" entwirft er eine Verfassung, die dem Philosophenkönig entspricht, eine Utopie. Im wirklichen Leben, so schildert es der 7. Brief, fiel Platon auf den Tyrannen Dionysios I. von Syrakus herein.

Platons Dilemma führt Lilla an, um die politischen Trugschlüsse seiner Philosophen zu verstehen. Es gibt einen politischen Trieb, der zur Utopie drängt und zu ihrer möglichst raschen Verwirklichung. Der Ein-Mann-Herrscher, König oder Tyrann, verspricht am ehesten den reibungslosen Vollzug der Utopie. Aber es sind eben die Methoden der tyrannischen Umsetzung, die das Glück ins Unglück wenden. Heidegger hielt 1933 die "nationale Revolution" für die Umsetzung seiner Spekulation über das "Seyn". Dass er nach der Niederlage des NS-Regimes seinen Trugschluss nicht offen eingestehen mochte, woran lag es? Lilla neigt zu der Einschätzung: Er wollte nach seinem persönlichen Scheitern als Rektor der Freiburger Universität und NS-Bildungsreformer den Wahrheitsanspruch seines Denkens nicht preisgeben. Während Platon sein Syrakuser Debakel eingesteht, fällt auf, dass die Meisterdenker des 20. Jahrhunderts erhebliche Widerstände leisten, ihre Illusionen zuzugeben.

Die deutsche Übersetzung gebraucht das Wort "Tyrannophilie", ein Neologismus. Ist wirklich "die Liebe zum Tyrannen" das Problem, oder nicht vielmehr der Glaube des Intellektuellen, die eigene Utopie werde durch den Tyrannen oder die Despotie am effizientesten verwirklicht? Auch die Übertragung des englischen "reckless" mit hemmungslos erscheint überpointiert. "Reckless" bedeutet so viel wie unbekümmert, verwegen. In seinen so übersichtlichen wie informierten Porträts vergegenwärtigt Lilla doch gerade diejenigen Intellektuellen, die durch ihre utopischen Entwürfe verwegen wurden und durch ihr Eintreten für intolerante Ideologien und gewaltsüchtige Despotien in die Irre gingen.

STEPHAN SATTLER

Mark Lilla: "Der hemmungslose Geist". Die Tyrannophilie der Intellektuellen.

Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl. Kösel Verlag, München 2015. 224 S., geb., 19,95 [Euro].

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