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Fritz Reheis, Publizist und langjähriger Lehrer, sorgt für Zündstoff: Wissen, das die Schulen vermitteln, ist Wegwerfwissen. Es ist Fastfood, schnell gegessen, schnell vergessen. Echte Bildung - Wissen, das Zusammenhänge erkennt und Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann - braucht Zeit!

Produktbeschreibung
Fritz Reheis, Publizist und langjähriger Lehrer, sorgt für Zündstoff: Wissen, das die Schulen vermitteln, ist Wegwerfwissen. Es ist Fastfood, schnell gegessen, schnell vergessen. Echte Bildung - Wissen, das Zusammenhänge erkennt und Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann - braucht Zeit!
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2007

Länger als fünfzehn Minuten kann ich nicht sitzen
Kopf, Herz und Hand: Fritz Reheis steigt für eine langsame Schule auf die Bremse / Von Hannes Hintermeier

Beim Körper wissen wir recht gut, welchen Schaden Fastfood anrichtet. Bei der geistigen Ernährung fehlt dieses Bewusstsein noch.

Seit der Einführung der verkürzten gymnasialen Oberstufe scheuert sich die deutsche Elternseele selbst wund. Sie nimmt billigend in Kauf, dass sich ihre Kinder nach engen Terminplänen organisieren, die Wochenenden zum Lernen drangeben müssen und dass der Nachwuchs die Kunst des Zeittotschlagens nur noch aus besonders langweiligen Schulfächern kennt, die im Insider-Jargon "Klofächer" heißen. Und was tun die Eltern? Sie befördern dieses Schicksal, indem sie das Spiel mit einem sich steigernden Leistungsdruck mitspielen.

Es beginnt bereits mit der pränatalen Kindergartenauswahl und -anmeldung; es setzt sich über Englischkurse im Sandkasten fort bis zur vorzeitigen Einschulung mit fünf Jahren. In der Grundschule werden dann schon Vergleichsarbeiten geschrieben, um den Klassenstand im Schulvergleich zu dokumentieren. Aber die deutsche Elternseele rebelliert nicht, sie fragt nicht nach den Ursachen, sondern sie blökt willig - und greift zum Geldbeutel: um kommerzielle Nachhilfe zu finanzieren. Sämtliche Volten einer an der Ökonomisierung und im Kielwasser der Pisa-Studien kirre gewordenen Kultusbürokratie werden so mit einem Begleitmurren quittiert.

Die Einführung der Ganztagsschule im Tarnkleid des Gymnasiums ist mittlerweile in den meisten Bundesländern Realität. Sie war überfällig, schließlich haben wir doch immer noch viel zu wenige Abiturienten im internationalen Vergleich. Also müssen noch mehr durch diesen Trichter, und er ist eben am unteren Ende ziemlich eng. Proteste? Demonstrationen gar? Fehlanzeige. Offene Briefe von Elternbeiräten vielleicht. Kann man ohnehin nichts machen? Kultusministerin Karin Wolff, die in Hessen zwar spät, aber dafür einen happigen G-8-Burger gegrillt hat, ließ sich unlängst in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu der Bemerkung hinreißen, "die Massivität der Kritik" sei "schon ein bisschen überraschend" gewesen.

Für die Kinder und Jugendlichen, die von 2004 an mit G 8 begonnen haben, wird es in den kommenden Jahren noch schlimmer kommen. Das erzählen einem jene, die das ausbaden müssen: die Lehrer. Sie verweisen auf eine ungeahnte Welle von Stoff- und Leistungsdruck, die auf die lieben Kleinen zurauscht, wenn sie erst mal die Mittelstufe erreicht haben werden. Bis zu elf Stunden Unterricht am Tag für Fünfzehnjährige - plus anschließende Hausaufgaben und Schulaufgabenvorbereitung. Viele Schüler werden dann mehr als die meisten Erwachsenen arbeiten; eine schöne Einstimmung auf die neue Arbeitswelt.

So kann es nicht weitergehen, das meint jedenfalls in bester Gesellschaft mit vielen Eltern und Erziehungswissenschaftlern der Bamberger Soziologe Fritz Reheis. Sein Plädoyer "Bildung contra Turboschule!" fällt in diesen Tagen gewiss auf fruchtbaren Boden. Denn Reheis, der zwei Jahrzehnte Erfahrung als Gymnasiallehrer mitbringt, berührt manchmal recht unssensibel sensible Punkte - wenn er etwa von "Muttis" berichtet, die bei der Abholung im Kindergarten beunruhigt sind, weil ihr Nachwuchs heute wieder "nur gespielt" hat. Nur spielen, das darf heute offenbar nicht mehr sein. Das Effizienzprinzip hat den Kindergarten längst durchdrungen, in der Schule zeigt es sich bei Elternabenden am Nachdruck, mit dem existentielle Fragen erörtert werden: Was bringt die Skifreizeit für die Entwicklung meines Kindes? Sie brächte zum Beispiel etwas, das im normalen Unterrichtsgeschehen schon lange nicht mehr existiert. Das Zeitdiktat ergreift zu gleichen Teilen Schüler und Lehrer, Geschwister und Eltern. Das permanente Gefühl, sich mit unnützem Stoff auf kurzfristig abrufbare Abfragen präparieren zu müssen, überwiegt.

Reheis greift für sein Plädoyer tief in die Kiste der Evolutionsbiologie. Unser Rückgrat ist nicht dafür gemacht, länger als fünfzehn Minuten zu sitzen. Man kann Kleinkindern ruhig Kant vorlesen, Hauptsache, die Empathie stimmt. Schüler sollten also aufstehen und sich bewegen können. Schüler sollten Mittagsschlaf halten können, Lehrer dito. Schüler sollten, wenn sie nachmittags die Schule verlassen, mit allen Aufgaben fertig sein. Schüler sollten Auslandsaufenthalte absolvieren. Und Handwerksausbildungen. Man sollte auf ihre Ernährung und auf ihren Biorhythmus achten.

Könnten, sollten, müssten: Kinder brauchen vor allem Zuneigung. Je mehr Ermunterung, desto besser funktionieren sie. Und sie brauchen Zeit. Ein Gut, das während der menschlichen Entwicklungsgeschichte überreich vorhanden war, und dessen sich der Homo sapiens selbst in atemberaubendem Tempo immer stärker beraubt.

Verkürzt gesagt, kommt Reheis zu folgendem Schluss: Der Mensch ist weder für die fünfundvierzigminütige Unterrichtstunde noch für den Schulgong oder Frontalunterricht geboren. Aber die Ausgrenzung beginne in unserer Fastfood-Bildungsgesellschaft eben schon, wenn Siebtklässler Fünftklässler auf dem Pausenhof als "Stifte" denunzierten und sie anrempelten. Ob man in solchem Verhalten, das ziemlich unabhängig von der Gesellschaftsform sein dürfte, gleich die Keimzelle für schulische Amokläufer sehen muss, erscheint trotz des jüngsten Vorfalls in Köln dann doch etwas weit hergeholt.

Reheis macht aber immerhin anhand einer Analyse des Erfurter Massakers 2002 deutlich, wie wenig sich seither in Thüringen verändert hat: "Nachdem die fünfzig psychologischen Fachkräfte des Kriseninterventionsteams in Erfurt wieder abgezogen waren, gab es knapp drei Jahre später für die siebzig Schulen gerade mal drei Schulpsychologen. Die Wartezeit für eine Beratung hat sich sogar von ein bis zwei Monaten vor dem Schulmassaker auf heute drei bis vier Monate erhöht." Daraus folgert der Autor: Es gibt keine Bereitschaft, wirklich Veränderungen herbeizuführen; statt Zeit zum Nachdenken zu investieren, werde alles getan, um schnellstmöglich zum Normalbetrieb überzugehen. Womit Reheis endgültig auf dem Feld der Gesellschaftskritik ankommt - einem Feld, über das man anderswo schon Ausgefeilteres gelesen hat.

"Kopf, Herz und Hand", so lauten Reheis' Bildungsziele. Nun ist es gute Tradition im Lager der Didaktik, Nebelbomben zu zünden ("Die Schule als Ganzes ist eine von vielen Einrichtungen der Gesellschaft. Als solche hat sie eine ganz bestimmte Aufgabe".); und neuerdings hat auch noch das Beratervokabular Einzug gehalten ("Leitideen", "Vernutzung", "optimale Passung"). Aber konkrete Vorschläge bleiben häufig im Reiche Utopia, die Datenbasis scheint oft willkürlich.

Jede zehnte Schule, schlägt Reheis vor, solle künftig eine Reformschule werden, in der man auch individuelle Lehrpläne und Leistungsziele entwickeln könne. Als Grundlagenpapier für noch viel stärker zu konkretisierende Vorschläge ist dieses Plädoyer aber allemal ein brauchbares Arbeitspapier. Es muss nicht die mittelalterliche Scola der Klöster am Ende dabei herauskommen. Es genügt schon der Leitsatz: Kinder sind keine Fässer, die man füllt, sondern Feuer, die man entzündet.

Fritz Reheis: "Bildung contra Turboschule!". Ein Plädoyer. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2007. 221 S., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Freizeit ist für Schüler in Deutschland inzwischen ein rares Gut, konstatiert Rezensent Hannes Hintermeier in seiner Rezension dieses soziologischen Plädoyers für eine "langsame Schule". Gelernt werden muss - wenn nicht für die Schule, dann fürs Arbeitsleben in der Leistungsgesellschaft. Fritz Reheis argumentiert gegen diese aktuelle Entwicklung anthropologisch und evolutionsbiologisch. Weder für "Frontalunterricht" noch für das jeweils genau auf fünundvierzig Minuten abgemessene Geradesitzen in der Unterrichtstunde hat die Natur den Menschen gemacht. Was er brauche, sei "Mittagsschlaf" und überhaupt eine freundliche Beachtung des individuellen "Biorhythmus". Mit der Grundtendenz des Buches ist der Rezensent völlig einverstanden, auch die eine oder andere "unsensible" Formulierung würde er durchgehen lassen. Eher unsubtil wird es aber spätestens, wenn sich Reheis an grundsätzlicher "Gesellschaftskritik" versuche. Dennoch sei das Buch insgesamt ein "brauchbares Arbeitspapier".

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